Sich den Literaturbetrieb nach Hause holen

Ein Einblick in die digitale Edition des lexikographischen Nachlasses Franz Brümmer


Abstract

1 Franz Brümmer, der Lexikograph
2 Franz Brümmer, das Organisationstalent
3 Warum eine digitale Edition?
4 Der Editionsprozess - aus philologischer und bibliothekarischer Sicht
5 Ein optimistischer Ausblick

von Gregor Middell

1 Franz Brümmer, der Lexikograph

Man stelle sich ein Nachschlagewerk des zeitgenössischen Literaturbetriebs vor, möglichst vollständig und aktuell auch noch im kleinsten Detail: Alle deutschsprachigen Autoren - die etablierten Meister sowie die jungen Talente - versammeln sich in einem Lexikon. Man stelle sich des Weiteren vor, ein solches Nachschlagewerk realisieren zu wollen, allerdings nicht als Inhaber eines literaturwissenschaftlichen Lehrstuhls oder als Mitarbeiter eines führenden Verlags, sondern in der Tradition des wissenschaftlich interessierten Schulmannes, vom Arbeitszimmer eines Lehramts aus. Heute, im Kontext von Internet und Web 2.0 ist das zumindest technisch vorstellbar; 1873 hingegen muss es als übermäßig kühner Gedanke wahrgenommen worden sein, ohne besondere Aussicht auf praktische Realisierbarkeit. So gesehen ist Franz Brümmers Leistung um so höher zu bewerten: Bis zu seinem Tod sammelte der Lehrer, Organist und Literaturliebhaber neben seiner beruflichen Tätigkeit fast 10.000 Autorenbiographien, die er sukzessive bearbeitete und als Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten des neunzehnten Jahrhundert (später [...] vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart) publizierte. Dadurch avancierte Franz Brümmer binnen kürzester Zeit zur literaturbetrieblichen Institution. Sein Lexikon ist bis heute eines der Standardwerke zur Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Abbildung 1: Handschriftliche Briefe aus dem Nachlass Brümmer. Die Briefe stammen von der Hand unterschiedlichster Schreiber und enthalten großteils autobiografische Angaben von Schriftstellern zwischen 1860 und 1920. Die ca.11.000 Autografe wurden bisher kaum wissenschaftlich ausgewertet.

2 Franz Brümmer, das Organisationstalent

Fragt man rückblickend nach notwendigen Voraussetzungen für Brümmers Erfolg, wären wenigstens lexikographische Kenntnis sowie ein ausgeprägter Hang zu Genauigkeit und Akribie anzunehmen. Ebenso aber, dies mag nicht sofort offensichtlich sein, stellte die Informationsbeschaffung eine Herausforderung dar, deren Bewältigung in Brümmers Fall besondere Beachtung verdient. Gerade wenn man sich wie er nicht in herausgehobener Position befindet, die einem notwendige Informationen für solch ein Lexikon nebenbei zufallen lässt, besteht das grundlegende Problem in der Frage: Wie tritt man mit all den Autoren in Kontakt, deren Biographien und Werke Gegenstand des Lexikons sein sollen? Brümmer bewältigte diese Herausforderung äußerst umsichtig, indem er die bereits vorhandenen kommunikativen Verlagsstrukturen für sich und sein Unternehmen gewann: Mittels formalisierter Rundschreiben, die er an große Verlagshäuser mit der Bitte um Weiterleitung sendete, bediente er sich geschickt der Verlage als Verteilerzentren und Umschlagsorte für die gewünschten Informationen. Zahlreiche Antwortbriefe von Autoren und engagierten Mitarbeitern gingen daraufhin bei ihm ein. Sie wurden geordnet, archiviert und bildeten die Grundlage für Brümmers Dichterlexikon. Dieses geordnete Archiv, das insgesamt knapp 10.000 Briefe und andere Dokumente umfasst, erwarb die Staatsbibliothek bereits zu Brümmers Lebzeiten. Es zu erschließen und zu edieren, hat sich nun ein Gemeinschaftsprojekt der Staatsbibliothek zu Berlin und der Humboldt-Universität unter technischer Mitarbeit der Medienagentur 3-point concepts zum Ziel gesetzt (Abb. 1).

3 Warum eine digitale Edition?

Wie bereits Brümmer, stand auch das aktuelle Editionsprojekt vor einer logistischen Herausforderung. Die Bearbeitung eines derart umfangreichen, bislang weitgehend unerschlossenen Korpus ohne gesicherte, langfristige Mittel anzugehen, verlangte nach einer effizienten Methode. Zudem durfte sie einer iterativen Arbeitsweise nicht im Wege stehen: Je nach Mittelverfügbarkeit - so der Plan - galt und gilt es, die Edition schrittweise wachsen zu lassen und Zwischenergebnisse möglichst schnell zu veröffentlichen; einerseits um sie baldmöglichst der Forschung verfügbar zu machen, andererseits um potentiellen Investoren und Interessenten den Nutzen des Projekts praktisch vor Augen zu führen. Von Anbeginn erschien daher die Anwendung einer digitale Editionsmethode als die den Rahmenbedingungen angemessene Lösung. Dass eine solche Methode aber nicht nur ökonomische Vorteile aufweist, sondern auch auf inhaltlicher Ebene erlaubt, neue Wege zu beschreiten, erscheint - zumindest im Nachhinein betrachtet - als weit wichtigeres Argument. In ihrer konsequenten Umsetzung erlaubt eine Online-Edition, die verschiedenen Interessen an einer Edition (etwa die von Philologen, Bibliothekaren und Lesern) weit besser zu berücksichtigen als ihr klassisches Pendant. Ein kurzer Einblick in den Arbeitsprozess mag dies verdeutlichen.

4 Der Editionsprozess - aus philologischer und bibliothekarischer Sicht

Abbildung 2: Im Redaktionssystem transkribiert der Bearbeiter vom Digitalisat des Originals. Der Editor nimmt den Text im HTML-Format auf. Gleichzeitig werden entsprechende Auszeichnungen am Text vorgenommen, die unmittelbar in die Registerdatenbanken der Edition einfließen.

(Abb. 2) Auf dem Weg von der Handschrift im Archiv zur Publikation im Web werden zuerst digitale Reproduktionen aller edierten Autographen angefertigt. Nebeneffekt dieses notwendigen Schritts: Die Texte werden von den Einschränkungen ihres materiellen Trägers befreit, so dass die weitere Arbeit oft ohne Inanspruchnahme der empfindlichen Originale, jenseits institutioneller Zugangsbeschränkungen und ortsungebunden erfolgen kann. Ein Dateidienst liefert den beteiligten Philologen die nun digitalen Textzeugen auf Anfrage in die Bibliothek, in die Universität oder auch nach Hause. Dort schließt sich der editorisch aufwendigste Arbeitsschritt an: die Transkription. Sie erheblich zu vereinfachen gelang dem Brümmer-Projekt durch den Einsatz eines eigens für diese Aufgabe entwickelten Editionswerkzeuges der Firma 3-point concepts. Anstatt Mitarbeiter vorab in der Anwendung komplizierter XML-Dialekte und entsprechender Editor-Software schulen zu müssen, ermöglicht das Editionswerkzeug, den transkribierten Text über eine ergonomische, web-basierte Benutzungsschnittstelle einzugeben und zu kodieren. Sein WYSIWYG-Konzept erinnert an gängige Textverarbeitungssysteme und erleichtert somit Nutzern den intuitiven und schnellen Einstieg in die Transkriptionsarbeit. Da die Software zudem als Web-Anwendung ebenso ortsunabhängig benutzt werden kann wie die digitalen Textzeugen, lässt sich die Hauptarbeit zeitlich und örtlich flexibel, mithin also sehr effizient durchführen. Kompetenzen können gebündelt und editorische Probleme im Team gelöst werden, weil die digitalisierten Handschriften immer allen und die Transkriptionen gleichzeitig mehreren Bearbeitern zur Verfügung stehen. Als Ergebnis der softwaregestützten Transkriptionsarbeit liegt ein in HTML kodierter Text vor, die ideale Voraussetzung also, um letzteren ohne nennenswerten Konvertierungsaufwand im Web zu publizieren. (Abb. 3)

Abbildung 3: Parallel zur Transkription werden dem Nutzer hochauflösende Faksimile angeboten. So hat er die Möglichkeit des unmittelbaren Vergleichs von Transkription und Original. Die Blattzählung der Nachlassdokumente wurde in die Transkription übernommen. Die Informationen zum Brief aus der Datenbank Kalliope lassen sich abrufen, eine Konvertierung der Transkriptionen in zitierfähige pdf-Dokumente und entsprechend der Vorgabe der TEI.

Neben den genannten Vorteilen für die philologische Arbeit ist aus bibliothekarischer Sicht interessant, dass parallel zur Transkription der Autographen deren Formal- und teilweise Sacherschließung als integraler Bestandteil der Editionsarbeit geleistet wird. Das Werkzeug von 3-point concepts bietet hierfür Funktionen zur Auszeichnung von Textpassagen, mittels derer eine Indizierung des Textkorpus nach Kategorien wie Personen, Orten, Körperschaften, Periodika und Werken vorgenommen wird. Die dabei hergestellte logische Verknüpfung zwischen vorliegenden Namensformen im Text und normgerechter Ansetzungsform bildet die Grundlage für eine anschließende Verlinkung: Indizierte Textpassagen werden automatisch mit Sätzen aus der Datenbank Kalliope vernetzt, seien es bibliothekarische Normdatensätze oder Beschreibungen der Dokumente selbst. Eine dichte Vernetzung wiederum setzt voraus, dass zwischen dem edierten Textkorpus und den referenzierten Normdatenbanken ein reger Datenaustausch bzw. -abgleich stattfindet. Durch die editorische Tätigkeit angeregt, ist auch ein solcher aber letztlich zum Vorteil von Bibliotheken und Philologen: Bibliotheken und ihre Nutzer erhalten neue, direkt aus den Quellen erschlossene Informationen für ihre Normdatenbanken; für Philologen wird die Edition nachhaltig mit wertvollen Kontextdaten angereichert, indem diese auf ständig aktualisierte Normdaten verweisen kann. (Abb. 4)

Abbildung 4: Im Internetauftritt der Edition bildet ein Autorenportfolio das Scharnier zwischen dem Nachlassbestand und der Transkription einzelner Mappen. Hier sind zusätzliche Informationen wie die Personendaten in Kalliope und ggf. der Artikel zur Person aus dem "Brümmer" hinterlegt.

5 Ein optimistischer Ausblick

Der momentane Erschließungsstand zeigt es: Trotz der umrissenen, guten technischen Voraussetzungen für ihre Arbeit steht die Edition erst am Anfang und auch in Bezug auf die technische Infrastruktur ist noch vieles zu tun. So wird zukünftig die Standardisierung erreichter Arbeitsergebnisse ein besonderes Anliegen sein. Geplant ist beispielsweise, transkribierte Texte automatisch von HTML ins XML-Format der Text Encoding Initiative (TEI) zu konvertieren, um ihre wissenschaftliche Verwertung in anderen Arbeitskontexten zu befördern. Die Erstellung einer Druckversion, die die wissenschaftliche Zitierfähigkeit der Ausgabe weiter verbessern wird, ist ebenso in Arbeit.

Den aktuellen Stand ebenso vor Augen wie das Potential, herrscht seitens des Projekts begründete Zuversicht, langfristig den Nutzen der Edition aufzeigen zu können; begründet nicht nur im Wissen um den unschätzbaren Wert der edierten Texte, sondern auch über diesen hinaus. Denn der organisatorische Ansatz einer "Publikation in kleinen Schritten" könnte als ein Modell begriffen werden, wie editorische Großprojekte in Zeiten knapper Kassen durchführbar wären. Dies kann verbunden werden mit der bereits genannten Idee, durch Gemeinschaftsprojekte und mittels neuer Technik die Interessen der Bibliotheken und der Literaturwissenschaft besser zu integrieren. Insofern weist die beschriebene Edition also strukturell ähnliche organisatorische Qualitäten auf wie Franz Brümmers lexikographische Unternehmung. Zu wünschen bleibt, dass ihr auch in ähnlicher Weise Erfolg beschieden sein wird.


Quellen

1. Nachlass Franz Brümmer. URL: http://bruemmer.staatsbibliothek-berlin.de

2. Bernhard Rost: Franz Brümmer. Ein Lebens- und Schaffensbild vom Verfasser des "Lexikons der deutschen Dichter und Prosaisten". Mit einem Verzeichnisse der Werke Brümmers. Chemnitz. 1916.

3. Kalliope Portal. Verbundinformationssystem Nachlässe und Autographen. URL: http://kalliope-portal.de

4. The Text Encoding Initiative (TEI). Yesterday's information tomorrow. URL: http://www.tei-c.org


Projektverantwortliche/Mitarbeiter des Projekts
"Digitale Edition des lexikographischen Nachlasses Franz Brümmer"

(bruemmer@staatsbibliothek-berlin.de)

Prof. Dr. Roland Berbig
- Prof. für Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin; Leiter des Archivs für Regionalliteratur

Dr. Jutta Weber
- Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz; Stellv. Leiterin Handschriftenabteilung, Leiterin des Referats Nachlässe und Autographen

3-point concepts GmbH
- Agentur für Kommunikation; Ansprechpartner: Andreas Wetzel

Björn Märtin
- Humboldt-Universität und Staatsbibliothek zu Berlin

Christian Thomas
- Humboldt-Universität und Staatsbibliothek zu Berlin

Gregor Middell
- Humboldt-Universität zu Berlin


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Gregor Middell