Interview mit Dr. Marianne Dörr
"Wir wollen das breite, buchinteressierte Publikum erreichen!"
Dr. Marianne Dörr, Direktorin der Hessischen Landesbibliothek, und Angelika Beyreuther von B.I.T.online sprachen am 31. Oktober über "durchblick", Digitalisierungsprojekte an Regionalbibliotheken und "bibliothekarisches Schwarzbrot".
Sie haben gemeinsam mit der Geschäftsführerin von Buch Habel, Frau Regina Voit, in Wiesbaden in diesem Herbst eine monatlich stattfindende öffentliche Vortragsreihe unter dem Motto "durchblick" initiiert. In dem in der Stadt verbreiteten Flyer steht, Sie wollten damit "auf lockere Art ein Fenster zur Wissenschaft öffnen". Sie laden dazu bekannte Autoren aktueller, wissenschaftlicher Sachbücher abwechselnd in den Lesesaal der Landesbibliothek und in die Verkaufsräume von Buch Habel ein. In der ersten Veranstaltung im September in der Landesbibliothek ging Christina von Braun der Frage nach dem islamischen Gebot der Verschleierung auf den Grund. Im Oktober stellte Hellmuth Karasek seine Sicht auf Jugend und Alter dar und im November geht es um Bionik. Im neuen Jahr ist dann Chinas wirtschaftlicher Siegeszug an der Reihe. Spannende Themen! Wie kam es zum "durchblick"?
Dr. Dörr: Ich sehe in der Landesbibliothek eine Bildungseinrichtung und habe versucht, unser Veranstaltungsangebot im Vergleich zu früher noch auszubauen. Da es in Wiesbaden ein Literaturhaus gibt, habe ich den Bereich Literaturlesungen etwas außen vor gelassen, denn warum sollten wir uns Konkurrenz machen? Aber gerade der Bereich Wissenschaft war - aus meiner Sicht - nicht so präsent. Wir haben in den letzten Jahren schon eine ganze Reihe Veranstaltungen in dieser Richtung gemacht, u. a. in funktionierender Kooperation mit der Volkshochschule. Die bisher erfolgreichste war eine Vortragsstaffel zum Thema Hirnforschung. Da ist uns der Lesesaal fast geplatzt! Auch Veranstaltungen zu mathematischen Themen waren sehr gut besucht. In Kooperation mit dem Museum Wiesbaden haben wir z. B. die Wanderausstellung des Gießener Mathematikums im Museum gezeigt und den sehr gut besuchten Begleitvortrag in der Landesbibliothek angeboten. Das Thema "Spiele und Mathematik" war ein weiteres Highlight und daraus habe ich geschlossen, dass es für diese "wissenschaftliche Nische" ein Publikum, aber wenig Angebote in Wiesbaden gibt.
Das liegt dem "durchblick" zugrunde. Ich lernte die Geschäftsführerin von Buch Habel vor wenigen Jahren in der Jury zum Frauenkrimipreis Wiesbaden persönlich kennen. Danach haben wir überlegt, ob wir nicht einmal gemeinsam etwas anbieten könnten.
Was versprechen Sie sich als öffentliche Einrichtung Landesbibliothek von dieser Partnerschaft? Und vielleicht können Sie auch das Interesse des Privatunternehmens Buch Habel an dieser Kooperation ansprechen?
Dr. Dörr: Wir haben unterschiedliche Zielrichtungen formuliert, die zusammenfließen sollen: Wir als Landesbibliothek strampeln zwar immer und sagen: Wir sind da! Zu uns kann jeder kommen! - aber das hat noch nicht jeder gemerkt (schmunzelt). Allein unser altehrwürdiges Gebäude wirkt oft ein wenig abschreckend. Oder man erkennt nicht, dass sich darin eine Bibliothek verbirgt. Wir als Landesbibliothek wollen an das breite, buchinteressierte Publikum ran, das in dem Buch Habel-Laden verkehrt und da seine Interessen sucht und - hoffentlich - findet. Denen wollen wir vermitteln: Es gibt hier eine Bibliothek! Da könnt ihr hingehen und spannende Bücher ausleihen. Und Buch Habel seinerseits will in Zukunft mehr auf das Themenfeld Wissenschaft einschwenken, da die große wissenschaftliche Buchhandlung Bräuer in Wiesbaden zugemacht hat. In diesem Unterfangen ist der Kooperationspartner Landesbibliothek ein guter Imagepartner. Insofern haben wir beide das Interesse, einen jeweils bisher noch nicht so abgedeckten Kundenstamm zu erschließen.
Die ersten beiden Veranstaltungen haben Sie hinter sich. Wie wird die Idee angenommen? Konnten Sie in der Landesbibliothek denn neue Gesichter erspähen?
Dr. Dörr: Für ein Resümee ist es ein wenig früh nach zwei Vorträgen. Zu der "verschleierten Wirklichkeit" mit Christina von Braun kamen in die Landesbibliothek knapp 80 zahlende Besucher und zusätzlich etwa zehn Mitglieder unserer "Freunde der Landesbibliothek". Da waren viele neue Leute hier, wobei ich natürlich nicht weiß, ob diese explizit über diese Kooperation gekommen sind. Bei Herrn Karasek's Besuch bei Buch Habel sah ich wenige bekannte Gesichter. Es kann also sein, dass da stärker das Buch Habel-Publikum präsent war.
Bei den Veranstaltungen, die abwechselnd hier und bei Buch Habel stattfinden, begrüßen wir wechselweise und stellen uns als Leiterin der kooperierenden Einrichtung vor. Wir wollen damit das jeweils andere Haus sichtbar präsentieren. Man muss sich einfach ein bisschen Zeit nehmen, denn so etwas muss wachsen und braucht auch Mundpropaganda.
Gibt es über die vorerst letzte durchblick-Veranstaltung im Februar 2008 hinaus eine längerfristige Planung?
Dr. Dörr: Ja, wir werden auf jeden Fall weitermachen. Jetzt, nach der Buchmesse schauen wir schon wieder nach geeigneten Themen und Büchern. Wir werden uns sicherlich für zwei Staffeln Zeit nehmen, bevor wir ein Urteil fällen. Mit den ersten Veranstaltungen waren wir sehr zufrieden. Wir haben unseren gemeinsamen Flyer an das gesamte bildungsorientierte Feld in Wiesbaden verschickt und Buch Habel wirbt zusätzlich mit Zeitungsanzeigen. Ich kann mir vorstellen, dass das Thema Bionik auch wieder gut ankommt. Wir haben die Einladungen auch an die Schulen geschickt, denn wir versuchen bei so relevanten Themen - auch bei unseren Mathematik-Vorträgen war das so - gezielt an die Schulen zu gehen, denn sowohl für Lehrer als auch für Oberstufen kann so etwas spannend sein.
Sie gehen ganz direkt auf die Schulen zu?
Dr. Dörr: Ja, wir als Landesbibliothek versuchen schon seit längerem, Schulen gezielt Angebote zu machen. Wir bewerben unsere Führungen, haben unser Führungskonzept auch entsprechend umgestellt und einen starken Internet- und Onlineteil aufgebaut. Und wir führen auch Lehrerveranstaltungen durch. Zum Zentralabitur haben wir jetzt einen festen Apparat zu den Themen des Zentralabiturs Deutsch in den Lesesaal gestellt, diesen Bestand auch noch entsprechend verstärkt, und dazu eine Informationsbroschüre aufgelegt. Insofern haben wir einen Draht zu den Schulen entwickelt, aber, man muss schon sagen, das ist immer ein sehr mühsames Geschäft.
Wie wird dieser Apparat angenommen?
Dr. Dörr: Auch da ist es ein bisschen früh für eine Evaluation. Jedenfalls fand die Broschüre reißenden Absatz! Als ich die Literatur für den Apparat zusammengestellt habe merkte ich, dass sehr vieles davon ausgeliehen war. Das und die Arbeit mit unseren Führungen hat mir gezeigt, dass Bedarf da ist und das ankommt. Wir haben allerdings das Problem, dass die von unserer sonstigen Kundschaft, auch von den Studenten, sehr geschätzte Lesesaalatmosphäre für Schüler doch ein bisschen schwer ist. An einige Tische in einer anderen Ecke der Bibliothek setzen sich dagegen häufiger Schülergrüppchen, die natürlich die Bücher dorthin auch mitnehmen können gegen Hinterlegung eines Ausweises. Die guten Ausleihzahlen sprechen hier für sich, ob wir allerdings mehr Schüler zum Verbleiben im Haus locken können, das werden wir sehen.
Ihre Bestände können Sie der Öffentlichkeit natürlich auch durch Digitalisierungsprojekte online zugänglich machen. Gibt es für die Landesbibliothek denn eine konkrete Perspektive der Digitalisierung ihrer alten, wertvollen Bestände?
Dr. Dörr: Wir haben damit erst angefangen. Hier waren die Voraussetzungen nicht so, wie ich das von meiner früheren Wirkungsstätte, der Bayrischen Staatsbibliothek, kannte. Kleine Regionalbibliotheken haben Probleme, Anträge zu formulieren, die dann auch wirklich als förderungswürdig angesehen werden, wenn sie nicht ganz herausragende Bestände haben. Und das ist für uns eher nicht der Fall. Wir haben im Bereich 16.-19. Jahrhundert einen guten Bestand, aber eben keinen herausragenden, und wir sind, was mittelalterliche Handschriften angeht, nicht sehr stark. Das hängt damit zusammen, dass in Nassau die Säkularisation, salopp gesagt, "eher schlampig" betrieben wurde.
Wir haben in einer Kooperation mit der UB Heidelberg unser Highlight, den Riesencodex mit Schriften der Hildegard von Bingen, digitalisieren lassen. Der liegt aber bis jetzt erst intern auf dem Server, weil wir uns noch nicht über eine Präsentationssoftware im Klaren sind. Wir sind auch gerade erst in der Beschaffung für einen Farbscanner, denn an die alten Bestände sollte man immer mit Farbe rangehen. Das ist eine Schiene. Eine andere Schiene verfolgen wir in der Arbeitsgemeinschaft der Regionalbibliotheken, deren Vorsitzende ich aktuell bin. Da arbeiten wir an gemeinsamen Digitalisierungsvorhaben, um die Schwelle der Förderungswürdigkeit in einem gemeinsamen Antrag zu überwinden.
Nun gibt es ja auch eine Debatte um die Vor- und Nachteile von Private-Public-Partnerships in der Massendigitalisierung von Bibliotheksbeständen. Wie sehen Sie das?
Dr. Dörr: Meine frühere Bibliothek, die Bayrische Staatsbibliothek, kooperiert in der Massendigitalisierung mit Google. Ich hätte das sicher auch gemacht. Wir stehen unter einem großen Erwartungsdruck. Aber wir können die Summen, um die es sich hier handelt, als öffentliche Einrichtungen kaum aufbringen, obwohl wir von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in den letzten Jahren in Deutschland schon viel Geld bekommen haben. Die DFG hat ihr Budget für elektronische aktuelle Informationen im Rahmen der Nationallizenzen sehr aufgestockt. Und es fließt auch viel Geld in Digitalisierungsprojekte und jetzt auch in ausgewählte Vorhaben der Massendigitalisierung. Vor einigen Jahren gab es ausgewählte Einzelprojekte, die sicher alle interessant waren, aber wir haben damit eher digitale Inselchen erzeugt. Ich habe in meinen Vorträgen zum Thema Digitalisierung damals immer davon gesprochen, dass wir Projekte brauchen, die eine kritische Masse erzeugen, damit man tatsächlich mit den Beständen arbeiten kann. Unter diesem Gesichtspunkt sehe ich auch so eine Kooperation mit Privaten. Voraussetzung sollte dabei sein, und dies ist im Fall der BSB gegeben, dass die jeweiligen Einrichtungen das Recht haben, die Materialien auf ihren Servern kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Wenn es daneben verwertungspflichtige Angebote gibt, habe ich kein Problem damit.
Damit hatte auch die DFG nie Probleme, die auch früher schon bei diesen eher singulären Digitalisierungsprojekten zugestimmt hat, dass ein kommerzieller Partner beispielsweise eine CD-Rom mit besonderen Features zusätzlich zu dem freien Angebot der geförderten Institution anbieten konnte. Zu viel Angst darf man vor dem Kommerziellen nicht haben. Im Gegenteil, wenn man solche Gelegenheiten nicht ergreift, dann machen's eben kommerzielle Institutionen allein und dann hat man selbst, respektive die Öffentlichkeit, gar nichts davon. Wie sich dadurch natürlich das ganze wissenschaftliche Leben ändern wird, wissen wir jetzt noch nicht. Das wird in den nächsten Jahren unheimlich spannend.
Die Rede des Bundespräsidenten anlässlich der Wiedereröffnung der Anna Amalia Bibliothek in Weimar hat BibliothekarInnenherzen höher schlagen lassen. Ihres auch?
Dr. Dörr: Ja! Ja, das hat mich natürlich sehr gefreut, wobei ich das nicht ganz so unbefangen sehe, da ich im Vorstand des Deutschen Bibliotheksverbands aktiv die Vorbereitungen für eine bessere politische Darstellung und Vermittlung des Bibliothekswesens miterlebt und mitbegeleitet habe. Unsere frühere Vorsitzende des Bibliotheksverbandes hat, als sie den internationalen Job als IFLA-Präsidentin antrat, das Ziel formuliert, Bibliotheken auf die Tagesordnung zu setzen. Das ist aber auch deutschlandintern unser Programm. Wir müssen mit der Politik ins Gespräch kommen, wir müssen mit der Politik im Gespräch bleiben und wir brauchen politische Verbündete, die Bibliotheken medienwirksam auf die Tagesordnung bringen.
Dabei hat uns Herr Köhler mit seiner konkreten Rede geholfen. Ich fand es wirklich sehr schön, dass er in die Jubelrede zu Weimar "bibliothekarisches Schwarzbrot" (lacht), wie er es nannte, eingeflochten hat. Darauf können wir aufsetzen. Die Erfahrungen in einer "normalen Bibliothek" sind nämlich immer noch so, dass mediale Aufmerksamkeit sehr sehr schwierig zu erreichen ist. Bibliotheken müssen immer noch mehr strampeln als andere Einrichtungen, die sich etwas spektakulärer nach außen präsentieren können. In der Konkurrenz zu Museen und Theatern ist es für Bibliotheken halt doch schwierig zu bestehen.