Britische Dissertationen: Gewagter Sprung vom Handschriftensaal ins Internet

Von Alice Keller

Vor einiger Zeit an einem Samstag entschied ich mich, eine Dissertation der University of Oxford zu konsultieren. Meine Wahl fiel auf den viel versprechenden Titel "The Social History of British Coalminers, 1800-1845" von P.E.H. Hair aus dem Jahr 1955. Der einzig wählbare Auslieferort war der Handschriftensaal der Duke Humfrey's Library.

Die Tatsache, dass Oxforder Dissertationen ausschließlich im ältesten und schönsten Bibliotheksraum der Bodleian Library eingesehen werden dürfen, deutet bereits darauf hin, dass Doktorarbeiten hierzulande eine höhere Wertschätzung genießen als auf dem Kontinent. Bevor ich jedoch die Dissertation konsultieren durfte, musste ich ein Formular unterschreiben, dass ich nichts kopieren oder zitieren darf ohne schriftlicher Bewilligung des Autors.

Wieso werden Dissertationen in Großbritannien anders behandelt als "normale Bücher"? Ich fragte die Samstagsaushilfe, wie ich mit dem Autor Kontakt aufnehmen könne. Die Tatsache, dass sie die Antwort nicht weiß, erstaunt mich kaum. Aber interessant finde ich, dass sie sich diese Frage noch nie überlegt hat. Eine Suche in Google bringt mich zum Nachruf von P.E.H. Hair aus dem Jahr 2001. Es ist also beim besten Willen nicht mehr möglich, die schriftliche Erlaubnis dieses Autoren einzuholen. Der Hindernislauf geht weiter.

Die Handhabung von Dissertationen in Großbritannien ist eines der Arbeitsbereiche der wissenschaftlichen Bibliothek, das stark von den Usanzen auf dem Kontinent abweicht. Im Projektbericht von EThOS (siehe unten) werden Dissertationen in Großbritannien als "notoriously difficult to access and therefore under-used" bezeichnet.

In Großbritannien sind Dissertationen Gut der Spezialsammlungen. Während meine eigene Dissertation (Humboldt-Universität, Berlin) als Mikrofiche in den Magazinen von Dutzenden Bibliotheken Deutschlands, Österreichs und der Schweiz schlummert, werden britische Dissertationen als Unikate behandelt. Ein Exemplar verbleibt an der eigenen Alma Mater, ein zweites Exemplar wird der British Library für die teilweise sehr eingeschränkte Fernleihe zur Verfügung gestellt.

Interessanterweise gelten Dissertationen in Großbritannien nicht als "veröffentlichte" Werke. Sie sind vielmehr Manuskripte, deren Copyright beim Autor verbleibt. Ich vermute, dass es historische Gründe für die Regelung gibt. Ein Vorteil dieser Praxis liegt darin, dass der Doktorand sich keine weiteren Sorgen machen muss, wenn er copyright-geschützte Abbildungen oder Graphiken einbindet, denn die Doktorarbeit wird ja nicht "veröffentlicht".

Vor dem Hintergrund dieser restriktiven Handhabung überrascht es nicht, dass die Online-Verfügbarkeit von Dissertationen in Großbritannien im Vergleich zum deutschsprachigen Raum stark unterentwickelt ist. Umso erfreulicher, dass das Projekt EThOS nun versucht, diesen Prozess zu beschleunigen und die Dissertationen einem breiteren Publikum zur Verfügung zu stellen.

Das britische Großprojekt zur Digitalisierung von Dissertationen heißt EThOS oder "Electronic Theses Online Service"1. Es ist ein Kooperationsprojekt, an dem die British Library sowie etwa ein Dutzend Universitätsbibliotheken beteiligt sind. Finanziell involviert sind auch das Joint Information Systems Committee (JISC) sowie das Consortium of Research Libraries (CURL). Es besteht des Weiteren der Wunsch, das Projekt möglichst schnell auf alle Universitäten Großbritanniens auszuweiten.

Wichtigste Drehscheibe dieser neuen Dienstleistung ist ein zentraler EThOS Server an der Britisch Library, der als "Hub" bezeichnet wird.

Die British Library sieht sich als Schaltstelle und vermittelt den Volltextzugriff, unabhängig vom Herkunft- oder Speicherort der Dissertation; wie weiter unten erklärt, kann diese auf dem Dokumentenserver der BL oder einer Universität gespeichert sein. Der Zugriff auf elektronisch vorliegende Dissertationen soll kostenlos sein. Wünscht der Leser die Lieferung auf CD-ROM oder Papier, werden Gebühren verlangt.

Die Frage stellt sich, wie der EThOS Server, der ab August 2008 zugänglich sein wird, möglichst schnell eine respektable Zahl an elektronischen Dissertationen vorzeigen kann. Zu diesem Zweck werden verschiedene Aktivitäten gleichzeitig und parallel verfolgt.

Falls die Dissertation bereits in elektronischer Form vorliegt, entweder auf dem Dokumentenserver der Universität oder der BL, wird der Zugriff sofort vermittelt. Universitäten, die Dissertationen bereits in digitaler Form besitzen, haben die Wahl, entweder eine elektronische Kopie auf den zentralen Dokumentenserver an der BL zu hinterlegen oder die Metadaten dort einzuspielen und den Zugriff auf den eigenen Dokumentenserver zu lenken. Auch zukünftig soll keine Pflicht bestehen, eine digitale Kopie auf dem zentralen EThOS Server zu deponieren, wenn die Universität die Speicherung auf dem eigenen Dokumentenserver bevorzugt. Einzig die Metadaten müssen zentral nachgewiesen werden.

Ich habe einige Dokumentenserver der an EThOS beteiligten Partneruniversitäten besucht, um die Zahl der bereits digital vorliegenden Dissertationen zu ermitteln. Diese Analyse war alles andere als einfach. Teilweise scheiterten meine Ermittlungen daran, dass ich überhaupt keinen Dokumentenserver fand (Universitäten Glasgow, Hull, Cardiff, Warwick). Bei anderen Universitäten war es schwierig zu ermitteln, ob es sich bei den "Theses" um Diplom- oder Doktorarbeiten handelte - ein nicht unerwartetes Problem, da der Sammelbegriff "Thesis" im angelsächsischen Raum alle Arten von Abschlussarbeiten umfassen kann.

Beachtliche Sammlungen an elektronischen Dissertationen, oder eben "Theses", fand ich an den Universitäten Southampton (370), Cranfield (213), Nottingham (154) und Birmingham (40). Enttäuscht wurde ich beim Imperial College, London, wo ein großer Dokumentenserver steht, allerdings ohne eine einzige digitale Dissertation.

Das EThOS Projekt setzt also nicht ganz bei Null an, sondern kann auf einige Sammlungen zurückgreifen und versteht sich auch als Nachfolgeprogramm früherer Projekte (Daedalus, Electronic Theses und Theses Alive!).

Was passiert aber, wenn ein Benutzer in EThOS auf eine Dissertation zugreifen möchte, die noch nicht elektronisch vorliegt? Hier schlägt die British Library eine ambitiöse "On-Demand" Digitalisierung vor. Eine pragmatische und zugleich offenbar kosteneffiziente Lösung. Wie diese "On-Demand" Digitalisierung im Detail abläuft, hängt vom Kooperationsmodell zwischen der British Library und der Herkunftsuniversität ab.

Für die nächsten drei Jahre sieht das EThOS Projekt zwei Arten der Kooperation vor: "Sponsorship" oder "Associate Member". Als Sponsor oder Vollmitglied richtet die Universität ein jährliches Depositenkonto bei der British Library ein, gegen das die Digitalisierungsgebühren laufend verrechnet werden. Als "assoziiertes Mitglied" bezahlt die Universität retrospektiv und nach Bedarf, d. h. die Digitalisierungskosten werden monatlich in Rechnung gestellt.

Drei Fragen stellen sich:

Bezüglich der dritten Frage steht auf der EThOS Website: "Where thesis content is not supplied to EThOS, it is assumed that the HEI [Higher Education Institution] will fulfil orders for their theses." Ich interpretiere diese Bemerkung so, dass die BL sich vollständig der Lieferverantwortung entzieht, falls die Herkunftsuniversität sich nicht an EThOS beteiligt.

Die zweite Frage wird ebenfalls sehr pragmatisch beantwortet: wird das jährliche Depositenkonto nicht aufgebraucht, so kann die Universität nach eigener Wahl weitere Dissertationen digitalisieren lassen. Wird das Depositenkonto vor Ablauf des Jahre aufgebraucht, d. h. besteht große Nachfrage, so hat die Universität die Option, weitere "On-Demand" Digitalisierungen selber zu finanzieren, oder die Kosten auf den Benutzer abzuwälzen.

Die dritte Frage ist natürlich die Interessanteste: Wie viel kostet die "On-Demand" Digitalisierung? Im Projektbericht wird davon ausgegangen, dass sich 60 Universitäten zu je durchschnittlich £6.000 (Euro 8.500) an EThOS beteiligen werden. Dieser Beitrag schließt die Digitalisierung einer bestimmten Anzahl von Dissertationen ein; die genaue Zahl wird allerdings nirgends erwähnt. Als ich beim Projektbüro anfragte, wie teuer die Digitalisierung sei, wurde mir erklärt, dass die Ziffer noch nicht definitiv geklärt sei.

Unklar bleibt mir auch, wie von einer restriktiven Handhabung bei den gedruckten Dissertationen zu einer offenen Lösung übergegangen werden kann, ohne dass Urheberrechtsfragen (das Urheberrecht liegt ja beim Autor) ausführlich diskutiert werden. Der Projektbericht spricht von einer "rapid take-down policy" mit Versicherungsschutz, falls der Autor sich beschweren sollte. Vielleicht ist das ein weiteres Beispiel des britischen Pragmatismus: man macht etwas und kümmert sich dann um die Probleme, falls und wenn sie auftreten.

Funktionsweise von EThOS für beteiligte Universitätsbibliotheken. Die Bibliothek bezahlt eine Teilnahmegebühr in den EThOS Fonds. Dieser Betrag wird für die "On-Demand" Digitalisierung von Dissertationen dieser Universität benutzt. Einmal digitalisierte Dissertationen werden auf dem EThOS Server gespeichert und sind frei abrufbar. Der EThOS Service soll ab August 2008 zugänglich sein. Quelle: EThOS Toolkit (http://ethostoolkit.rgu.ac.uk)


Zur Autorin

Dr. Alice Keller
Head of Collection Management
Oxford University Library Services
Bodleian Library
Broad Street
Oxford OX1 3BG, England
E-Mail: alice.keller@ouls.ox.ac.uk


Anmerkung

1. EThOS siehe: http://www.ethos.ac.uk