Das "Musée du Quai Branly" in Paris von Jean Nouvel und seine Bibliothek

von Gernot U. Gabel

Seit den sechziger Jahren sind Frankreichs Staatspräsidenten vom Ehrgeiz beflügelt, sich in Paris mit monumentalen Bauten (grands projets) Denkmäler zu setzen. Georges Pompidou gelang dies mit dem futuristischen Centre Beaubourg, Giscard d'Estaing mit dem Musée d'Orsay und François Mitterrand mit der Pyramide des Louvre, der Grande Arche und natürlich dem Riesenbau der Bibliothèque de France am Seine-Ufer. Auch der im Mai 2007 aus dem Amt geschiedene Jacques Chirac hatte bald nach Amtsantritt ein Konzept für ein großes Völkerkundemuseum vorgestellt, aber nach Querelen mit dem Leiter des Louvre sein Projekt neu konzipieren müssen. Im Juni 2006 konnte er den Neubau am Seineufer, entworfen von Stararchitekt Jean Nouvel, endlich der Öffentlichkeit vorstellen.

Das Museum


Das "Musée du Quai Branly"

Gegen Völkerkundemuseen ist von Kritikern manchmal der Einwand zu hören, sie seien, mit ihren von Konquistadoren und Ethnologen zusammengeklaubten Beständen, vornehmlich aus Beutekunst und Kolonialexpeditionen entstanden. Frankreichs koloniale Geschichte kann diesen Vorwurf kaum entkräften, haben seine Wissenschaftler in den letzten zwei Jahrhunderten doch vornehmlich die unterworfenen Übersee-Besitzungen der Nation bereist und mit den dort gesammelten Objekten oft ihre Expeditionen finanziert. Diese Schattenseiten der europäischen Welteroberung wollte man natürlich nicht in den Mittelpunkt des neuen Museums stellen, vielmehr sollten die Vielfalt und die Ausdrucksstärke dieser überseeischen Zeugnisse herausgestellt werden. Den frühen Völkerkundemuseen haftete nämlich manchmal der Eindruck von exotischen Trödlerläden an, und so manche Kritiker und Besucher haben die in den Vitrinen gezeigten Objekte mit dem abfälligen Begriff der "Negerplastik" abgestempelt. Für die Kunstgeschichte ist diese Ansicht natürlich längst passé, denn gerade die Masken und Statuen der afrikanischen Stämme wie der Südseeinseln haben die westliche Kunst nachdrücklich beeinflusst.

Schon als Bürgermeister von Paris hatte Jacques Chirac große ethnologische Ausstellungen in Auftrag gegeben, aber museale Prestigeprojekte konnte sich die Kommune nicht leisten. Als Staatspräsident standen ihm hingegen erheblich größere Finanzmittel zur Verfügung, und schon in seiner ersten Amtszeit stellte Chirac sein Museumskonzept vor. Aber als er dabei verkündete, der Louvre könne kein universales Museum bleiben, wenn sich siebzig Prozent der Weltbevölkerung von den dort gezeigten Präsentationen ausgeschlossen sähen, kam es zum Konflikt mit der Museumsleitung, denn Frankreichs größter Kunsttempel wollte den "Primitiven" aus der Dritten Welt keine Schauräume abtreten. So reifte langsam der Entschluss, ein museologisch-wissenschaftliches Institut großen Stils für die außereuropäischen Kulturen zu schaffen und dafür Exponate aus bestehenden französischen Sammlungen zu requirieren. Trotz der Proteste der Museumsdirektoren ging man ans Werk und sichtete die reichen Kollektionen des Pariser "Musée National des Arts d'Afrique et d'Océanie" und des ethnologischen "Musée de l'Homme". Diese beiden Einrichtungen, gegründet 1931 bzw. 1938, fristeten nämlich, unterfinanziert und wenig gefördert, eine marginale Existenz im Kreis der Pariser Museen, aber eine Fusion der Sammlungen lehnten die Leiter beider Museen vehement ab. Ein präsidiales Machtwort führte dazu, dass für das neue Großprojekt insgesamt rund 300.000 Objekte zusammenkamen, ergänzt durch Ankäufe von privaten Sammlern.

Als es galt, dem geplanten "grand projet" des Staatschefs einen angemessenen Bauplatz zu verschaffen, kam Jacques Chirac seine Erfahrung als langjähriger Bürgermeister der Seinemetropole zugute. Gegenüber dem spektakulären Gebäudeensemble des Palais de Chaillot, direkt am Seineufer und im Schatten des Eiffelturms gelegen, konnten die Planer ein langgezogenes, ca. 25.000 Quadratmeter umfassendes Areal erwerben, auf dem Jean Nouvel, der den Architekturwettbewerb gewonnen hatte, sein Museumskonzept entwickeln konnte. Der Entwurf des wohl international einflussreichsten Architekten Frankreichs wurde für rund 235 Millionen Euro realisiert. Dafür ist der neueste Pariser Kunsttempel nun auch das größte ethnologische Museum der Welt!

Die Gebäude

Auf der Nordseite wird der Komplex begrenzt durch die verkehrsreiche Uferstraße am Quai du Branly, gegen die ihn eine 200 Meter lange und 12 Meter hohe geschwungene Glaswand akustisch abschirmt. Dahinter erheben sich auf der Westseite, begrenzt von einer prächtigen Wohnhauszeile aus der Gründerzeit, vier unterschiedlich geformte, miteinander verbundene Gebäudeteile, von denen sich nur der dritte, das eigentliche Museum, in schwungvollem Bogen über die gesamte Länge des Grundstücks (200 m) erstreckt. Auf Pfeilern erhebt sich der fünfstöckige Museumstrakt über den sanft abgesenkten Mittelteil des Geländes und setzt mit dem Restaurant wieder auf die Erde auf. Nouvel hat die Außenwände ganz verglast und in die Fassade auf der dem Fluss zugewandten Seite etwa zwei Dutzend verschieden dimensionierte, mit bunten Farben versehene Kästen eingefügt. Die dem Garten zugewandte Südfront wurde hingegen mit einer Lamellenwand behängt, die das Innere in eine Dämmerstimmung taucht.

Während der zur Straße gelegene Gebäudeteil der Verwaltung vorbehalten ist, hat man im zweiten Komplex einen Lesesaal, die Studienbibliothek und das Magazin untergebracht und in den vierten Bauteil den Museumsladen, Büros und Ateliers gesetzt. Die riesige restliche Fläche des Geländes (ca. 18.000 qm) ist für ein dem Wechsel der Jahreszeiten unterworfenes Kunstwerk reserviert, den Museumsgarten, in welchem die in den Kollektionen vertretenen Kontinente noch einmal vegetabil zusammengeführt werden. Aber auf die Vision einer Savannen- und Urwaldlandschaft, die von den Gartenarchitekten schon auf dem Bildschirm dargeboten wird, muss der Besucher wohl noch einige Jahre warten, denn derzeit sind die Bäume und Sträucher mit Stützdrähten verspannt und die in kleine Erdhügel gesetzten Pflanzen werden mit einem Netz von Bewässerungsleitungen vor dem Austrocknen durch die sommerliche Hitze bewahrt.

Der Besucher wird von der Straße kommend durch den Garten geführt und betritt dann die Empfangshalle, um über eine gekurvte lange Rampe und einen Tunnel in die Ausstellungszone geführt zu werden. Dabei umkreist er einen bis in den Keller hinabreichenden mehrgeschossigen Glasturm, in dem ca. 8.000 Musikinstrumente aus aller Welt verwahrt werden, größtenteils aus untergegangenen und heute akut gefährdeten Kulturen, gleichsam ein verstummtes Mahnmal der kolonialen Musikgeschichte. Der Ausstellungsparcours führt dann vorbei an der überwältigenden Vielfalt der rund 3.500 Exponate - Skulpturen, Masken, Fetische, Textilien, Schmuck und Ritualgegenstände -, die aus Afrika, Asien, Südamerika und Ozeanien hier versammelt sind. Die 25 seitlichen Kammern (boîtes), die den Rundgang unterbrechen, sind speziellen Themen vorbehalten. Die Beschriftungen sind knapp gefasst, so dass sich manche Gegenstände dem europäischen Besucher nur ungenügend erschließen. Beeindruckend ist aber die Intensität dieses visuellen Abenteuers, dem sich ein Betrachter kaum entziehen kann. Und die Besucher kommen in Scharen, allein im ersten Halbjahr nach der Eröffnung rund 800.000.

Die Bibliothek

Die Bibliothek hat man in den direkt nördlich an das Museum angesetzten Gebäudeteil platziert, den der Besucher von der Eingangshalle aus betritt. Er gelangt nach wenigen Schritten in einen kleinen Lesesaal (250 qm), der den Namen des Sammlers und Kunsthändlers Jacques Kerchache trägt, der damit als Mitinitiator des Museums geehrt wird.

Dort findet sich eine für Kinder (ab sieben Jahren) und auf das allgemeine Publikum zugeschnittene Kollektion von Büchern und Broschüren, vorzugsweise Titel, die auf aktuelle Sonderausstellungen hinweisen. Mit dem Kauf einer Eintrittskarte ist jedermann der Zutritt gestattet. Etwa 5.000 Dokumente sind dort einsehbar, 50 Plätze laden zur Lektüre in einem freundlichen Raum ein, der wohl eher jugendliche Leser anziehen dürfte und für kleine Gruppen geeignet ist. Für größere Veranstaltungen stehen im Kellergeschoss zwei Vortragssäle (mit 100 bzw. 390 Plätzen) zur Verfügung.

Für Studierende und Forscher ist hingegen die Mediathek das Ziel, untergebracht im obersten Geschoss des Gebäudes. Auf 900 Quadratmetern bietet sie den Besuchern an langen Tischen sowie an einer Fenstergalerie etwa 180 Leseplätze sowie einen kleinen Gruppenraum. An den nach Norden ausgerichteten Fensterplätzen kann der Besucher den Blick über die Pariser Dächerlandschaft schweifen lassen, vom Trocadéro über die Glaskuppel des Grand Palais bis zu den Türmen von Sacré Coeur. Etwa 25.000 Bände sind auf den Regalen der Mediathek zu finden, eine Referenzkollektion mit Nachschlagewerken und den wichtigsten ethnologischen Periodika. Die moderne, in dunklem Rotbraun gehaltene Möblierung verleiht dem Raum eine etwas gedämpfte Stimmung, aber dafür entschädigt der Ausblick auf das beeindruckende Weltstadtpanorama.

Die Kollektion der Mediathek ist, genau wie die des Museums, aus anderen Pariser Einrichtungen gezogen worden. Ungeachtet der Proteste der jeweiligen Direktionen musste das "Musée de l'Homme" Bestände im Umfang von rund 180.000 Dokumenten und das ehemalige Museum für afrikanische und ozeanische Kunst ca. 12.000 Werke abgeben. Zudem wurden zwischen 2004 und 2006 mehr als 20.000 Titel beschafft und einige Schenkungen ins Haus gebracht. Die Zahl der Fotos und Stiche wird mit ca 700.000 angegeben. Die Mehrzahl der Bücher, Broschüren und Zeitschriften datiert nach 1850, nur etwa 2.000 aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Dieser Fundus im Umfang von rund elf Regalkilometern ruht in dem etwa 11.000 qm großen Magazin im Sockelgeschoss, abgeschirmt von der Feuchtigkeit der nahen Seine durch eine massive Betonschalung. Seit der Eröffnung zählt die Mediathek zum kleinen Kreis der CADIST (Centre d'Acquisition et de Diffusion de l'Information Scientifique et Technique) für das Fach Ethnologie und ist gehalten, ihre Sammlungen auf nationalem Niveau fortzuführen. Laut Auskunft der Bibliothekarin werden vornehmlich Publikationen in französischer, englischer und spanischer Sprache erworben. Die gesamte Kollektion ist nur am Ort einzusehen, allerdings nimmt die Mediathek am französischen Fernleihverkehr teil.

Wer die raren Archivalien und Fotos einsehen möchte, der muss sich anmelden und eine Bescheinigung seiner Hochschule oder Forschungseinrichtung vorweisen. Für die Konsultation dieser Dokumente steht ein eigener Raum von knapp 90 qm zur Verfügung, das Betreuungspersonal achtet auf den sachgerechten Umgang mit den einzigartigen, teils fragilen Stücken. Noch sind nicht alle in der Sammlung vertretenen Werke im hauseigenen Katalog erfasst, aber jeder aufgenommene Titel wird auch im Gesamtkatalog der französischen Hochschulbibliotheken (Sudoc) angezeigt. Und natürlich lässt sich die Dokumentation am Bildschirm gleich mit den zugehörigen Objekten des Museums verknüpfen, denn die mehr als 300.000 Objekte umfassende Kollektion des Musée du Quai Branly ist fast vollständig auch als Bilddatei verfügbar (www.quaibranly.fr).


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Dr. Gernot U. Gabel

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