Mémoire du future - Gedächtnis der Zukunft

Der Kongress des BBS (Verband der Bibliotheken und der Bibliothekarinnen/Bibliothekare der Schweiz) 2007 in Sierre/Wallis

von Rafael Ball

Die Konvergenz von Bibliotheken, Archiven und Museen ist in der Schweiz ein gutes Stück vorangekommen. Zumindest auf Verbandsebene haben die Verantwortlichen einen großen Schritt in diese Richtung getan. Auf dem jüngsten BBS-Kongress "Gedächtnis der Zukunft" in Sierre von 29.08. bis 01.09.2007 haben die Vereine BBS (Verband der Bibliotheken und Bibliothekarinnen/Bibliothekare der Schweiz) und SVD (Schweizerische Vereinigung für Dokumentation) ihre Vereinigung beschlossen. Schon seit langem beraten die Vorstände beider Verbände über eine nähere Zusammenarbeit. Jetzt hat man sie endgültig beschlossen. Für die endgültige Konvergenz von Bibliothek, Archiv und Museum fehlt nur noch der "Verein Schweizerische Archivarinnen und Archivare (VSA)". Immerhin hat man auch von dieser Seite das Interesse an einer engeren Zusammenarbeit signalisiert.


Die "Synthetiker" Yolande Estermann Wiskott und Robert Barth
Vortrag im Plenum
Firmen-Ausstellung im Foyer der HEVs
Jean-Frédéric Jauslin, Direktor Bundesamt für Kultur, Jacques Cordonier, Direktor Mediathek Wallis, Marie-Christine Doffey, Direktorin Schweizerische Nationalbibliothek und Claude Roch, Regierungsrat Kanton Wallis (v.l.n.r.)
Erfolgreiche Abstimmung über den Zusammenschluss von BBS und SVD im Plenum

Auf der thematischen Ebene des Kongresses wurde die Zusammenarbeit von Bibliotheken, Archiven und Museen im Programm des diesjährigen Kongresses unter dem Motto "Gedächtnis der Zukunft" eindeutig sichtbar. Veranstaltet wurde der Kongress vom BBS in Zusammenarbeit mit der Mediathek "Wallis", einer angesehenen "Vorzeige-Einrichtung", in der die Bibliotheken verschiedener Ortschaften des Wallis zusammengefasst sind. Die Mediathek "Wallis" bietet ein ungewöhnlich breites Service-Spektrum und wird in der Schweiz weit über das Wallis hinaus mit Modellcharakter gehandelt.

Veranstaltungsort in Sierre war die Walliser Hochschule "Haute École Valaisanne" (HEVs), wo auf Grund der Semesterferien der Kongress in bester räumlicher und technischer Ausstattung durchgeführt werden konnte.

Bereits am Mittwochabend begann der Kongress mit einem "warming up"; als Kongressauftakt diskutierten fünf renommierte Fachleute der Schweiz aus den Bereichen Bibliothek, Archiv und Museum das Kongressthema in einer lockeren Podiumsdiskussion. Unter dem Motto "Gedächtnis der Zukunft - Wofür und für wen?" sprachen Kurt Deggeller, der Direktor des Vereins zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz (Memoriav), Marie-Christine Doffey, die Direktorin der Schweizerischen Nationalbibliothek, Marie-Claude Morand, Präsidentin des International Council of Museums, Mirta Olgiati, vom Institut de haute études en administration publique, unter Moderation von Yolande Estermann Wiskott, Professorin für Information und Dokumentation an der Haute École Valaisanne.

Die Diskutanten bereiteten in ihrem Gespräch die vier zentralen inhaltlichen Sessionen (Ateliers genannt) der folgenden Kongresstage vor:

Dabei zeigte sich gleich zu Beginn, dass allein in der Terminologie schon ein Problem liegt. Im Französischen bezieht sich das Wort "Patrimoine" weit weniger auf konkrete Objekte, wie es der deutsche Ausdruck "Kulturgut" tut. Auch die zentrale Frage ("Was soll bewahrt werden?") blieb in der Diskussion strittig. Sie ist nicht einfach zu entscheiden und differiert stark in Bibliotheken, Museen und Archiven. Einig war man sich hingegen in der Einschätzung, dass die Erhaltung des Kulturgutes eine auf Dauer ausgerichtete kulturelle Aktivität sei, die sowohl in Museen als auch in Bibliotheken und Archiven geleistet werden muss. Gleichwohl ist bei der Entscheidung, was aufbewahrt werden soll, eine subjektive Entscheidungsverantwortung nicht zu umgehen, etwa die eines Konservators bei der Auswahl seiner Objekte, oder die des Bibliothekars bei der Auswahl zu digitalisierenden Bücher.

Ein besonderer Kritikpunkt von Seiten der Museums- und Archivverantwortlichen war die zunehmend erwartete und umgesetzte Eventkultur dieser Einrichtungen. Zu sehr werde gerade in Museen (aber auch Bibliotheken geraten zunehmend in dieses Fahrwasser) auf die Inszenierung der Dienstleitung gesetzt und nicht so sehr auf die Qualität der Arbeit im Hintergrund. Bildungspolitiker erwarteten eine zunehmend kurzfristige Investitionsrendite in Form sichtbarer Veranstaltungen für breite Bevölkerungsschichten. Qualitativ hochwertige Arbeit, etwa im Rahmen von Erschließung, Bewahrung, konservatorischen Aktivitäten oder beschreibender Arbeit, die für die Wiederauffindbarkeit und Nutzbarkeit des erhaltenen Kulturgutes für künftige Generationen von unschätzbarer Bedeutung sind, geraten dabei leicht ins Hintertreffen und werden zugunsten kurzfristiger Aktivitäten und technischer Massenbearbeitung vernachlässigt.

Beim Thema Langzeitarchivierung wurde aus der Sicht der Schweizer Nationalbibliothek deutlich, dass etwa das Aufbewahren von Tondokumenten von großen technischen Schwierigkeiten begleitet wird. So können nur noch 20 % der aufgezeichneten Radiosendungen aus den Dreißiger Jahren heute wirklich genutzt werden. Ein terminologisch wie strukturelles Problem stellt die Archivierung und Konservierung von dynamischen Dokumenten des Internets dar. Wer als Nationalbibliothek Webseiten im großen Stil aberntet und archiviert, wird unvermittelt mit der Frage nach den Aktualitätskriterien eines Archivs konfrontiert. Gleiche Webseiten werden kontinuierlich verändert und müssten eigentlich immer wieder neu mit einem fixen Datum aufgezeichnet werden, damit ein archivfähiger Zustand bewahrt werden kann. Dies ist allein von der Menge her aber nicht zu bewältigen. Es fällt folglich schwer, hier von einem tatsächlichen Archiv und einem festen Zustand der Dokumente zu sprechen, die sich ja per Definitionen permanent ändern, als Archiv aber "eingefroren" sein müssen.

Zum Abschluss der Diskussionsrunde konstatierte man, dass der Dialog zwischen Bibliotheken, Archiven und Museen in der Schweiz noch nicht so weit fortgeschritten sei wie im Ausland, wo die Konvergenz dieser drei Kultureinrichtungen bereits begonnen habe. Ob diese selbstkritische Einschätzung tatsächlich so stimmt, darf aus externer Sicht bezweifelt werden; in Deutschland zumindest ist die Konvergenz von Bibliotheken, Museen und Archiven noch kein Thema. Insgesamt wurde eine einheitliche nationale Politik der Schweiz für die Erhaltung des Kulturguts gefordert.

Zur offiziellen Kongresseröffnung am Donnerstagvormittag hatten die Veranstalter neben den obligatorischen politischen Grußrednern der Region und der Politik drei prominente Redner aus Kultur und Bibliothek eingeladen. So sprachen die frischgebackene IFLA-Präsidentin aus Deutschland Claudia Lux und der EBLIDA-Präsident Andrew Cranfield über grundsätzliche Möglichkeiten des Lobbying und der politischen Meinungs- und Willensbildung für Bibliotheken in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Jean-Frédéric Jauslin, Directeur d'Office Fédéral de la Culture aus Bern, sprach sich für eine Memo-Politik als einheitlichen Terminus für die Gesamt-Schweiz aus, wies aber darauf hin, dass das Bundesbudget für Kultur in der Schweiz nur 0,3 % betrage und damit hauptsächlich Sache der Kantone sei.

Die vier großen Themen-Ateliers starteten mit der Aussage, dass die Zukunft denjenigen gehöre, die das beste Gedächtnis hätten. Das digitale Gedächtnis der Schweiz sei ein interdisziplinäres Problem. Die Politik interessiere sich aber für dieses Thema nur sehr kurzsichtig und um der kurzfristigen Investitionsrendite willen. Der Schweizer Bund müsse mehr Kompetenz für eine große Linie "Nationales Kulturgut" übernehmen und entsprechende Aktivitäten unterstützen.

Im Atelier "Was tun? Erhalten, konservieren, digitalisieren" wurden verschiedene Projekte zur Erhaltung von Kulturgut aus der Schweiz und der gesamten Welt vorgestellt, so etwa das Projekt "e-codices" von der Stiftsbibliothek St. Gallen, die virtuelle Handschriften-Bibliothek der Schweiz (www.e-codices.ch). Die Idee des Projektes besteht darin, die mittelalterlichen Handschriften der Schweiz durch eine virtuelle Bibliothek zu erschließen und umfasst derzeit knapp 200 digitalisierte Handschriften aus 12 verschiedenen Bibliotheken, deren Digitalisierungsqualität überaus beachtlich ist. Die physische Langzeitarchivierung von Kulturgut, insbesondere von Handschriften und anderen wertvollen Büchern, wird in Norwegen durch die Langzeitarchivierung am Polarkreis gelöst. Beste Luftqualität, geringe Luftfeuchtigkeit und geringer Lichteinfall sollen die Objekte bestmöglich schützen. Nicht jedes Land hat aber die Möglichkeit, seine Kulturgüter am Polarkreis zu lagern. Deshalb hat ein Konsortium aus Vertretern von Archiv und Bibliothek in Lausanne einen Notfallplan erarbeitet, wie verloren gegangenes Kulturgut nach Katastrophen, etwa Brand oder sonstigen Einwirkungen, wieder hergestellt werden kann (www.cosadoca.ch). Auf die Frage, welches nationale Kulturgut erhalten werden soll, wurde auf den Sammelauftrag der Schweizer Nationalbibliothek verwiesen. In einem Webarchiv für die Schweiz werden im Rahmen des Projektes "e-Helvetica" alle offiziellen Webseiten der Schweiz in einer Massenspeicheranlage abgespeichert (http://www.nb.admin.ch/slb/slb_professionnel/projektarbeit/00719/index.html?lang=de). Immerhin besteht in der Schweiz ein Pflicht-Exemplarrecht, etwa im Kanton Fribourg seit 1938, das natürlich nicht mehr mit neuen Medien in Verbindung gebracht werden kann.

Schlussendlich wurde in diesem Atelier klar gestellt, dass es für die Erhaltung des Schweizer Kulturgutes kein Ergebnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit gibt. Häufig etwa würden auch in den Bibliotheksbudgets spezielle Mittel für Erhaltung im Rahmen von Digitalisierung in anderer Form nicht bereitgestellt, sondern müssen mühsam akquiriert werden.

Unterschiedliche Meinungen hatten die Vortragenden im Atelier "Mehrwert schaffen - Kulturgut für wen erhalten und wie bewerben?". Insbesondere wurde der Zwiespalt zwischen Marketing und Inszenierung einerseits sowie der qualitativen Erschließungsarbeit im Hintergrund andererseits kontrovers diskutiert. Auch die Frage "Kunde, Nutzer oder Käufer von kulturellen Dienstleistungen" wurde ausführlich diskutiert, aber nicht zu einem Konsens geführt. So etwa leistet SwissInfoDesk einen Informationsservice rund um Fragen zu und über die Schweiz, ohne allerdings die konkrete Auskunftsfunktion in den Bibliotheken vor Ort ersetzen zu wollen. Weitere Marketingprojekte wurden vorgestellt, etwa Projekte zur Leseberatung und zur Kundenbindung von Öffentlichen Bibliotheken.

Im 4. Atelier ging es um mögliche Kooperationen. Kooperation allein ist noch kein Selbstzweck und sie bedarf guter Begründung. Insgesamt erwarte man von einer Kooperation eine Ressourcen-Optimierung, war sich aber auch darüber im Klaren, dass die Partner auf gleichem Niveau sein müssen, damit eine Zusammenarbeit sinnvoll ist. Man wünscht sich eine gemeinsame (elektronische) Plattform auf der gearbeitet und kommuniziert werden kann. Dennoch möchte man keine zentralistische Lösung aus "Bern", auch wenn gelegentlich eine zentrale Memo-Politik für die Gesamtschweiz gefordert wurde.

Begleitet wurde der Kongress des BBS von einer großen Firmenausstellung nationaler und internationaler Unternehmen und einem großen Ausstellungspavillon der Stiftung Kulturgut der Schweiz. Insgesamt ein informativer und fokussierter Kongress des BBS, dessen Besuch sich für alle Teilnehmer gelohnt haben wird. Besonders lobenswert waren die Synthesen der Atelier-Veranstaltungen am nächsten Morgen, die es allen Teilnehmern ermöglicht haben, die Inhalte der Parallel-Veranstaltungen zu erfahren und nachzuvollziehen. Diese Zusammenfassungen wurden professionell und engagiert von Robert Barth (HTW Chur) und Yolande Estermann Wiskott (Haute École Valaisanne) jeweils im "Nachteinsatz" vorbereitet und präsentiert.


Zum Autor

Dr. Rafael Ball ist Leiter der

Zentralbibliothek des Forschungszentrums Jülich GmbH
D-52425 Jülich
E-Mail: r.ball@fz-juelich.de