Zum Thema Lesen II

Der ersten kleinen Auswahl Zum Thema Lesen1 folgt nun eine zweite, mit vier Büchern, die sich wieder auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Lesen auseinandersetzen.


Adler, Mortimer J .und Charles van Doren: Wie man ein Buch liest

Aus dem Englischen von Xenia Osthelder

Bayard, Pierre: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Aus dem Französischen von Lis Künzli

1001 Bücher, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist

Vorwort Peter Ackroyd; hrsg. von Peter Boxall

Ordnung: eine unendliche Geschichte

Hrsg. Deutsches Literaturarchiv Marbach

Adler, Mortimer J .und Charles van Doren: Wie man ein Buch liest


Aus dem Englischen von Xenia Osthelder - Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2007. 384 S.
ISBN 978-3-86150-0, € 25,00

Mortimer J. Adler und Charles Van Doren: Wie man ein Buch liest beschäftigt sich mit dem traditionellen Lesen aus Vorzeiten unserer heutigen Möglichkeiten bei der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Erstauflage erschien 1940, von Adler allein verfasst. Über ein Jahr hielt sie sich an der Spitze der US-amerikanischen Bestsellerliste. Sie schloss eine große Lücke in der Literatur zur Methodik und Technik des wissenschaftlichen Arbeitens, nicht nur in den USA. Seither ist die Veröffentlichung in zahlreichen Auflagen erschienen, wurde in viele Sprachen übersetzt2 und von Van Doren aktualisiert und erweitert.

Dies ist nun die deutschsprachige Übersetzung der Ausgabe von 1972 - die letzte Auflage erschien tatsächlich vor 35 Jahren! Nicht nur der Adler / Van Doren hatten damals eine große Lesergemeinde, allein in Deutschland und in der Schweiz erschienen zwischen 1965 und 1975 etwa 20 Bücher über die Kunst des Lesens. Die m. E. bedeutendsten stammen aus der Feder von Franz Loeser3, Wolfgang Zielke4 und Ernst Ott5.

Da sich immer mehr Menschen von Fernsehsendungen, Hörbüchern und Auskünften aus dem Internet verwöhnen lassen und dabei gern auf das Lesen verzichten, ist die Frage erlaubt, ob sich für einen Verlag Übersetzung, Edition, Werbung und Verteilung eines Lehrbuchs über die Kunst des Lesens noch lohnen. "Nicht geändert hat sich leider, dass man Kindern noch immer nur elementare Lesekenntnisse beibringt. Ein Großteil unserer Bildungsbemühungen und unseres Geldes fließt in den Leseunterricht der ersten sechs Schuljahre ... Das war schon Anfang der 1940er Jahre so." Das ist die Antwort der Autoren aus dem Jahr 1972. Und sie zitieren James Mursell aus einem Beitrag von 1940 mit der Bemerkung, dass viele Schüler schlecht abschneiden, weil sie nicht in der Lage seien, "einer Seite mit Gedrucktem zu entnehmen, was sie aussagt." (S. 2)

Der Rezensent ist der Überzeugung, dass Bücher über die Kunst des Lesens einen festen Platz in den Buchhandlungen und Bibliotheken haben sollten, weil das Lesen auch weiterhin eine wichtige Kulturtechnik ist und Leseregeln weitergegeben werden müssen, wenn sie nicht in Vergessenheit geraten sollen. Es ist ein Gewinn, von den Erfahrungen zweier bedeutender Gelehrter zu profitieren: Mortimer J. Adler (1902-2001), Philosoph und Schriftsteller, Herausgeber der 54-bändigen Reihe "Great books of the Western world" sowie Charles Van Doren (geb. 1926), Sohn des Schriftstellers und Putlitzer-Preisträgers Mark Van Doren, Schriftsteller, Redakteur der "Encyclopaedia Britannica".

Das Buch galt jahrzehntelang als Standardwerk, sein Inhalt ist unbestritten und schnell erzählt: Einer Einführung in die Kunst des Lesens (Ziel des Lesens, Lesen als Lernen) folgen die vier Lesestufen (elementares Lesen, prüfendes Lesen, analytisches Lesen, synoptisches Lesen), am Schluss finden sich Beispiele für verschiedene Lesestoffe (z. B. Belletristik, Geschichtsschreibung, Naturwissenschaft und Mathematik, Philosophie), eine Zusammenfassung (Leseregeln auf einen Blick) und die besten Bücher im Überblick (drei Bücherlisten aus dem Projekt Gutenberg-DE, Project Gutenberg sowie ZEIT-Bibliothek). Es bleibt das Geheimnis des Verlags, wer diese Listen am Schluss des Buches so ganz ohne Ankündigung, aber doch mit dreiseitiger Vorbemerkung, aufgenommen hat und was sie bezwecken sollen.

Der Rezensent schließt sich der Schlussfolgerung des Rektors der Humboldt-Universität, Christoph Markschies, zum Thema Lesen an: "Die Zahl der Menschen, die des Lesens unkundig sind, soll in unserem Land wieder im Steigen begriffen sein ... Umso wichtiger, dass es ... Menschen gibt, die andere schlicht lehren, das Lesen zu lernen."6 Wie man ein Buch liest ist ein sehr aktuelles Buch und dringend zur Lektüre zu empfehlen, auch Bibliothekaren. Zu den Bibliothekaren, die sich der Kunst des Lesens widmeten, gehörte übrigens kein Geringerer als Erwin Ackerknecht.7

Bayard, Pierre: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat


Aus dem Französischen von Lis Künzli - München: Verl. Antje Kunstmann, 2007. 220 S.
ISBN 978-3-88897-486-1, € 16,90

Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat ist eine Apologie des Nichtlesens, eine geistreiche und kluge Provokation des französischen Literaturprofessors und Psychoanalytikers. Sie beschäftigt sich mit einem offenbar zeitgemäßen Verhalten des Menschen. Nach Bayard gehört eine große Portion Mut dazu, die Vorzüge des Nichtlesens zu rühmen, da dieses auf eine ganze Reihe verinnerlichter Zwänge stößt, die verhindern, dass die Frage so schonungslos angegangen wird, z. B. der Zwang zu lesen, der Zwang alles zu lesen, der Zwang über Bücher zu reden. "Dieses Zwangssystem aus Pflichten und Verboten hat zu einer allgemeinen Scheinheiligkeit in Bezug auf die angeblich gelesenen Bücher geführt." (S. 11)

Der Autor entwickelt eine "Theorie des Lesens als Nichtlesen". Im ersten Teil behandelt er die vier Arten des Nichtlesens: Bücher, die man nicht kennt, Bücher, die man quergelesen hat, Bücher, die man vom Hörensagen kennt sowie Bücher, die man vergessen hat. Im zweiten Teil nennt er verschiedene Gesprächssituationen, in die wir geraten können: im Gesellschaftsleben, einem Lehrer gegenüber, dem Schriftsteller gegenüber sowie der oder dem Liebsten gegenüber (leider fehlt ein Kapitel über den Bibliothekar, einem Bibliotheksbenutzer gegenüber). Im dritten Teil folgen die Mittel, "mit denen man sich möglichst elegant aus der Affäre ziehen kann" (S. 143): sich nicht schämen, sich durchsetzen, Bücher erfinden, von sich sprechen.

Nur wer ohne Angst über Bücher sprechen kann, die er nicht gelesen hat, ist ein freier Leser. Bayard will den Menschen "helfen, ihre Angst vor Bildung zu überwinden und sich von ihr frei zu machen, um endlich selbst mit dem Schreiben anzufangen." (S. 221). Das Lesen guter Bücher ist nicht überflüssig, im Gegenteil, Bayard animiert zur Lektüre, er macht Appetit auf Literatur, und ganz nebenbei lernt der Leser Neues über Bücher und Leser - wie war das doch mit Umberto Ecos "Der Name der Rose" und der mittelalterlichen Bibliothek (S. 52-69), dem Bibliothekar in dem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil (S. 25-32), der doch selbst Bibliothekar war oder die eigenartige Geschichte in Harold Ramis` Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" (S. 130-138).

Fazit: Wer nicht in der Masse der Bücher versinken will, braucht Nichtlesen als Lesetechnik.

Dieses Buch ist auch Bibliothekaren zu empfehlen, vielleicht als Selbstschutz vor zudringlichen Lesern.8

1001 Bücher, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist


Vorwort Peter Ackroyd; hrsg. von Peter Boxall - Zürich: Edition Olms, 2007. 960 S.
ISBN 978-3-283-00529-0, € 29,95

1001 Bücher, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist gehört zu den Wegweisern, die uns armen Lesern erklären wollen, was wir in unserer auf Erden befristeten Zeit unbedingt lesen sollten. Der vorliegende Wegweiser wirft beim Rezensenten allerdings viele Fragen auf (er verzichtet auf das Nennen einzelner Autoren und Titel).

Das beginnt schon beim Titel, denn der müsste korrekt 1001 Romane und Erzählungen, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist lauten, denn nur diese sind enthalten. Ein irdisches Leben ohne Lyrik, Dramatik und Philosophie? Das setzt sich fort bei der Frage, wie viel Zeit ein Mensch für die Lektüre von 1001 Büchern benötigt, die hier chronologisch nach dem Erscheinungsjahr der Erstausgabe aufgelistet sind. Hätten es nicht 100, Romane und Erzählungen wohlgemerkt, auch getan?

Herausgeber (Peter Boxall ist Professor für englische Literatur an der Universität Sussex), Verfasser der Einleitung (Peter Ackroyd ist Literaturwissenschaftler und Chef-Literaturkritiker der Times) und die über 150 Schriftsteller, Wissenschaftler und Kritiker, die die Empfehlungen zur Aufnahme eines Buches in diesen Führer geben, und die Philosophie des Buches (der Titel ist eine Übersetzung aus dem Englischen und erschien im Original 2006) kommen aus dem angloamerikanischen Raum. Wo bleibt eine kritische Übernahme in die deutschsprachigen Länder?

Fast die Hälfte der Titel stammt aus der Zeit zwischen 1950-2000 - wo bleiben, in angemessener Auswahl, die Altvorderen? 51 Empfehlungen für ganze sechs Jahre unseres Jahrhunderts (30 in der Originalsprache Englisch) - was lohnt sich wirklich und was bleibt? Die angloamerikanische Literatur ist dominant - wo bleibt die Objektivität und der Respekt vor anderen Kulturen?

Die Einführungen zu einem Titel sind auf dreihundert Wörter beschränkt, sie sind oberflächlich, selten gibt es präzise und klare Hinweise, warum gerade dieses Buch und kein anderes gelesen werden sollte. Der Umfang entspricht dem einer Werbung in einem Verlagskatalog.

Was nun? Vielleicht hat der Rezensent den Hinweis "die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist" im Titel zu sehr als Drohung verstanden denn als Augenzwinkern mit typisch britischem Humor. Wenn dem so ist, dann erweist sich der dicke Wälzer als ein sehr origineller Spaziergang durch die Welt der Romane und Erzählungen - auf dem Schmutztitelblatt ein Teil eines Gemäldes aus dem Barock mit dem Tod stehend am Lesepult (toller Einstieg!), der erste empfohlene Titel "Tausendundeine Nacht" mit der Zahl 1001 im Buchtitel identisch, die nicht immer nachvollziehbaren Empfehlungen, die Auflockerungen mit z. T. seltenen Fotos, Zeichnungen und Titelblättern (das ist glänzend, eine Augenweide!).

Ordnung: eine unendliche Geschichte


Hrsg. Deutsches Literaturarchiv Marbach - Marbach am Neckar, 2007. 257 S. (marbacherkatalog; 61)
ISBN 978-3-937384-31-3, € 20,00

Ordnung: eine unendliche Geschichte soll den Reigen der Bücher über das Lesen beenden. Das Jahr der Geisteswissenschaften 2007 stand unter dem Motto ABC der Menschheit.9 Der Katalog zur Ausstellung Ordnung: eine unendliche Geschichte des Literaturmuseums der Moderne Marbach am Neckar ist eine ausgezeichnete Ergänzung zu diesem Thema.

Die Herausgeber und Autoren zeigen, was der fertige Text und das gedruckte Buch verbergen: "die ersten Spuren seines Entstehens, frühe Pläne und späte Korrekturen, glückende und scheiternde Arrangements." (S. 21) Ordnung ist offensichtlich notwendig für den kreativen Prozess. Wir blicken in die faszinierende Gedankenwelt der Autoren. Was aus diesen dann geworden ist, sehen wir am Endprodukt - dem Roman, der Erzählung, dem Gedicht oder der wissenschaftlichen Abhandlung.

Es sind beeindruckend viele Funde zusammengekommen. Aus der Überfülle von Beispielen hat der Rezensent einige wenige ausgewählt, um die Vielfalt zu belegen: Tagebücher (z. B. Sarah Kirsch und Martin Walser), Notizbücher (z. B. Kurt Tucholsky und Karl Jaspers), Briefe (z. B. Rainer Maria Rilke und Else Lasker-Schüler), Zettelkästen (z. B. Siegfried Kracauer und Albrecht Schaeffer), Wortlisten zur Vorbereitung von Romanen (z. B. Kurt Pinthus und Hermann Hesse), Pläne zu Romanen und Gedichten (z. B. Hubert Fichte und Franz Mon), Pläne für nie ausgeführte (z. B. Theodor Fontane) und unvollendete Romane (z. B. Jörg Fauser), Manuskripte zu Romanen und Gedichten (z. B. Ina Seidel und Paul Celan), Typoskripte mit handschriftlichen Korrekturen (z. B. Wilhelm Lehmann), Korrekturfahnen (z. B. Ernst Jandl), Titelblattentwürfe (z. B. Rudolf Borchardt). Das alles wird von 34 Autorinnen und Autoren in acht Kapiteln wohlsortiert, sachgerecht eingeleitet und bestens erläutert sowie vorzüglich gestaltet und mit vielen Abbildungen versehen.

Fazit: Ein interessantes Konzept für eine Ausstellung eines bedeutenden Museums, dargeboten in einem exzellenten Katalog.


Anschrift des Rezensenten

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
D-12557 Berlin
dieter.schmidmaier@schmidma.com


Anmerkungen

1. In: B.I.T.online 9 (2006) 4, S. 369-370.

2. Die deutschsprachige Ausgabe folgte prompt ein Jahr später: Adler, Mortimer: Wie man ein Buch liest. Zürich, 1941. XII, 393 S.

3. Loeser, Franz: Rationelles Lesen. Leipzig; Jena; Berlin 1971. 6. Aufl. 1982.

4. u.a. Zielke, Wolfgang: Schneller lesen, besser lesen. München, 1970. 205 S.

5. Ott, Ernst: Optimales Lesen. Stuttgart, 1970. 240 S.

6. Markschies, Christoph: Kolumne WERTsachen. Lesen. In: Tagesspiegel vom 6.8.2007.

7. Ackerknecht, Erwin: Die Kunst des Lesens. 2. Aufl. Stettin, 1931. 108 S. 4. Aufl. 1949.

8. Kurz nach Erarbeitung dieser Rezension erschien ein hochinteressanter Beitrag zum Thema "Ein alter Unbekannter: Das Phänomen des ungelesenen Buches" von Patricia F. Zeckert. In: Buch - Markt - Theorie. Erlangen, 2007. S. 153-179. Die Autorin widmet sich den verschiedenen Dimensionen und Wirkfaktoren des ungelesenen Buches.

9. Ein bedeutender Beitrag ist das Buch Küster, Marc Wilhelm: Geordnetes Weltbild: die Tradition des alphabetischen Sortierens von der Keilschrift bis zu EDV. Eine Kulturgeschichte. Tübingen, 2006. XV, 712 S. vgl. B.I.T.online 10 (2007) 3, S. 282-283.