"Gegenseitige Offenheit liegt in der Natur des Bibliothekswesens"
Hofrätin Dr. Sigrid Reinitzer, die ehemalige Direktorin der Universitätsbibliothek der Karl-Franzens-Universität Graz und langjährige Mitherausgeberin von B.I.T.online, gibt im Gespräch mit dem Institut für Informationswissenschaft in Maribor (IZUM) Auskunft über ihr Wirken im Alpen-Adria-Raum und im europäischen Rahmen.
Die Bibliothekare überall auf der Welt, insbesondere in den Ländern Südosteuropas, kennen Ihr Engagement bei verschiedensten Initiativen für interkulturelle Zusammenarbeit. Liegt solch eine gegenseitige Offenheit auch in der Natur des Bibliothekswesens?
Dr. Reinitzer: Seit Jahrhunderten pflegen Bibliotheken einen intensiven Kontakt verbunden mit Informations- und Kulturaustausch. Bibliotheken speichern wissenschaftliche Bücher, in jüngster Zeit auch digitale Medien, des eigenen Landes und von Nachbarländern und sie stellen Bücher als kurzfristige Leihgabe und Informationen aus Zeitschriften oder auch Zeitungen interessierten Menschen, insbesondere Wissenschaftlern zur Verfügung. Dafür gab es viele Jahrzehnte hindurch speziell ausgearbeitete und international anerkannte Fernleihewege. In jüngster Zeit haben Digitalisierung, Scannen und E-Mail diese Wege grundlegend verändert und beschleunigt. Die gegenseitige Offenheit liegt meiner Meinung nach also in der Natur des Bibliothekswesens, weshalb ich diesen Beruf stets auch als Berufung empfand.
Ihr aktueller Arbeitsbereich ist als strategisches Bibliotheks-Management für Bibliotheken, Archive und Museen auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene definiert. Wie schätzen Sie die Verhältnisse innerhalb dieses Rahmens ein, wer sind die "Hauptakteure" und wie sehen Sie dabei die Rolle Österreichs?
Dr. Reinitzer: Alle drei Institutionen sind gleichberechtigte Hauptakteure. Die Bibliotheken haben in dieser Kooperation aber eine besondere Funktion, da sie ihren Bestand, nach großteils einheitlichen Regelwerken, vollständig nachgewiesen haben, zumeist sogar in elektronischer Form. Für die unterschiedlichen Kunstwerke der Museen und die heterogenen Materialien der Archive gibt es noch keine allgemein gültigen Regelwerke, obwohl es schon verschiedene Ansätze gibt, die gerade die größeren Möglichkeiten der elektronischen Datenerfassung und Abbildung nutzen.
In Österreich hat sich unter der Federführung der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare die BAM-Arbeitsgruppe gebildet (BAM = Bibliotheken-Archive Museen, vergleichbar dem englischen Begriff LAM = Libraries-Archives-Museums). BAM-Österreich hat als Vorbild die deutsche EUBAM-Arbeitsgruppe (http://www.dl-forum.de/deutsch/foren/25_1333_DEU_HTML.htm), die sich mit europäischen Angelegenheiten für Bibliotheken, Archive, Museen und Denkmalpflege beschäftigt und zur spartenübergreifenden Bündelung von Digitalisierungsprojekten zum Kulturerbe und zu Fragen der Standardisierung in Europa beiträgt. Ziel der BAM-Aktivitäten ist die Initiative der EU im Programm e-Europe (http://ec.europa.eu/information_society/eeurope/2005/index_en.htm).
Diese Initiative ist von herausragender Bedeutung für europäische Kultureinrichtungen hinsichtlich der Erhaltung und Aufwertung des europäischen kollektiven Kulturerbes, der Sicherung der kulturellen Vielfalt, des verbesserten Zugangs der Bürger und Bürgerinnen zu diesem Erbe, der Stärkung von Bildung und Tourismus sowie der Entwicklung von neuen digitalen Inhalten und der Service-Industrie.
Wichtige Themen für E-Europe im Zusammenhang mit den Aktivitäten der BAM-Arbeitsgruppe sind erstens die Langzeitarchivierung. Dazu veranstaltete das Bundeskanzleramt Österreich, das Österreichische Staatsarchiv und die Österreichische Nationalbibliothek am 15. Oktober 2007 eine Arbeitssitzung mit dem Titel: Österreichisches Wissensnetzwerk - Digitale Langzeitarchivierung (www.bundeskanzleramt.gv.at/langzeitarchivierung). Zweitens sind es definierte Qualitätsmerkmale für Websites wie Multi-Lingualität, Einbeziehung der Benützer, Verbindung mit anderen Online-Angeboten und Interoperabilität, d.h. Nutzung von offenen Systemen unabhängig von der verwendeten Hard- und Software.
In Graz erarbeitet die Gruppe um Univ.-Prof. Dr. Walter Koch ein eigenes BAM-Portal. Diesem Portal dienen als Vorbilder die beiden EU-Projekte Media Alp und DIS-MARC. Hier und im Rahmen von BAM-Österreich bin ich seit 2004 tätig.
Ihre Zusammenarbeit mit IZUM begann vor 15 Jahren durch das Projekt AALIB - Online-Vorstellungen der Universitätsbibliotheken im Raum Alpen-Adria. Sie verfolgen die Entwicklung von IZUM und COBISS schon seit langer Zeit. Ihre Meinung zu IZUM und COBISS würde uns deshalb interessieren.
Dr. Reinitzer: Die Vertreterinnen und Vertreter der Bibliotheken im Alpen-Adria-Raum haben schon früh erkannt, dass eine länderübergreifende Zusammenarbeit und die Darstellwng der Informationseinrichtungen ihrer Länder von großer Wichtigkeit sind. Lange Zeit war AALIB zuerst in Buchform und später in digitaler Form für(viele Bibliotheken, die keine zentrale Aufgabenstellung durch ihre Länder hatten, der einzige Nachweis ihres Bestandes und ihrer wichtigen Ansprechpartner. Zusätzlich ermöglichte die Darstellung in englischer Sprache die Überwindung der gegebenen Sprachbarriere, allerdings fand dabei die eigene Landessprache keine Berücksichtigung, was sich bei der systematischen Darstellung der Fakten aber nicht nachteilig auswirkte.
Heute muss jedes Land bemüht sein, die BAM-Kultureinrichtungen als Teil von e-Europe darzustellen. IZUM kann hier mit seinen umfassenden COBISS-Erfahrungen der zentrale Ansprechpartner sein. Kaum ein europäisches Land verfügt über eine so erfahrene Einrichtung, die zusätzlich die besten Voraussetzungen für die Sprachen der Nachbarländer mitbringt. Einzelne Institutionen verwenden unterschiedliche billige Software-Angebote, deren Qualität entweder zeit- und kostenaufwendig für ein größeres System nachbereitet werden muss oder das in einem größeren System keine Verwendung finden kann, sodass das geplante Ziel nicht erreicht werden kann. Der reiche Erfahrungsschatz von IZUM sollte weiter für das Land selbst und möglichst viele Nachbarländer bereitgestellt und genützt werden.
Im letzten Jahr wurde im Rahmen der Konferenz COBISS auch die sog. Deklaration von Maribor über die Rolle der Bibliotheken für die Qualität der Universitäten beschlossen. Wie sehen Sie als langjährige Direktorin einer Universitätsbibliothek die Rolle der Bibliotheken im einheitlichen europäischen "Bologna"-Universitätsraum?
Dr. Reinitzer: IZUM mit seinem einheitlichen Informations- und Bibliothekssystem COBISS stellt die Basis für viele Punkte des Bologna-Prozesses dar und hat anderen Ländern gegenüber einen großen Vorsprung. Das lebensbegleitende Lernen ist mit einem einheitlichen Bibliothekssystem, in das alle Bildungseinrichtungen (Schulen, Hochschulen, Universitäten) integriert sind, natürlich viel besser zu verwirklichen, als mit einem heterogenen Informationsangebot, das an jeder Bildungseinrichtung neu erlernt werden muss. Natürlich ist das einheitliche Informationssystem auch für Forschungseinrichtungen die zentrale Basis für ihre Arbeit.
Auch der zentrale Zugang zu e-Zeitschriften und e-Informationen mit der Handhabung der verschiedenen Konsortialverträge ist über eine zentrale Stelle des Landes zu überlegen. Die Verlinkung der e-Informationen mit den gedruckten Werken ist für Forschung und Lehre eine wesentliche Voraussetzung für effiziente Arbeit.
Die Rolle des Bibliothekars verändert sich schnell. Aus dem einst "ruhigen" Beruf ist ein sehr dynamischer geworden. Müsste sich deshalb auch der Status des Bibliothekars in der Forschungs- und Akademikergemeinde verändern?
Dr. Reinitzer: Die Arbeit und dadurch auch der Status des Bibliothekars haben sich mit der Entwicklung der Online-Kataloge, den international verfügbaren Online-Datenbasen, den e-journals und e-books sowie mit der Einführung des Internets dramatisch verändert. Kaum eine Tätigkeit in der Bibliothek ist mit der vor der Online-Zeit vergleichbar, weder Katalogisierung, noch Ausleihe, Fernleihe oder die vielen vernetzten Möglichkeiten bei den Auskunftsdiensten. Die meisten Arbeiten in der Bibliothek sind nicht mehr isoliert zu sehen, sondern sind Glied in einer langen Informationskette.
Bei der Beschaffung der Informationsmaterialien aus der immer größer und kostspieliger werdenden Informationsflut muss vom Bibliothekar in hohem Maße auch die Mitsprache der Forschungs- und Akademikergemeinde gesucht werden. Fachkenntnisse sind hierzu wertvoll und schaffen eine gute Vertrauensbasis, allerdings kann kein Bibliothekar in allen Fachbereichen Spezialkenntnisse besitzen. Auch hier ist lebensbegleitendes Lernen wichtig und unumgänglich.
Wird die Kluft zwischen dem entwickelten und unentwickelten Teil des globalen Bibliothekswesens immer größer? IZUM bemüht sich, einen "Anschluss" für die Balkan-Länder, die in der jüngeren Vergangenheit von Schicksalsschlägen stark gebeutelt wurden, zu ermöglichen. Sind die Mechanismen der internationalen Entwicklungshilfe für die Entwicklung des Bibliothekswesens effektiv?
Dr. Reinitzer: Das Bibliothekswesen bietet durch seine Globalität eine ideale Basis für Kooperationen zwischen Ländern, die ein unterschiedlich weit entwickeltes Informationswesen besitzen. Nach kriegerischen Schicksalsschlägen müssen global Hilfsmaßnahmen getroffen werden, um auch das Informations- und Bibliothekswesen eines Landes zu stärken. Der gemeinsame Wiederaufbau von Wissenschaft und Kultur ermöglicht diesen Ländern in besonderer Weise die Stärkung der menschlichen Werte. Hier leistet IZUM eine Vorreiterrolle, die nicht hoch genug einzuschätzen ist und von vielen internationalen Organisationen bewundert wird.
Eine Form der internationalen Entwicklungshilfe erfolgt in der Form, dass EU-Projekte für das Bibliothekswesen EU-Ländern nur dann vergeben werden, wenn sie mit vielen "noch-nicht-EU-Staaten" zusammen arbeiten und wenn Projekte eingereicht werden, die über das reine Bibliothekswesen hinaus gehen und den BAM-Kulturbereich umfassen.
Die COBISS-Konferenz hat sich, auch mit Ihrer Hilfe, aus einem "Haus"-Treffen der Benutzer zu einer wichtigen regionalen Fachkonferenz für Bibliothekare und Informatiker entwickelt. Dieses Jahr ist die Konferenz der Rolle von COBISS bei der Förderung des interkulturellen Dialogs gewidmet. Welche Themen würden für Sie in den nächsten Jahren eine Herausforderung darstellen?
Dr. Reinitzer: Die COBISS-Jahreskonferenz hat sich in vorbildhafter Weise entwickelt und wird von Vertretern und Vertreterinnen vieler Bibliothekssysteme in den EU-Ländern sowie in amerikanischen Staaten sehr bewundert. Der interkulturelle Dialog wird das globale Bibliothekswesen in den kommenden Jahren weiter begleiten und weitere Kreise integrieren.
Folgende Themenkreise könnten meines Erachtens in den kommenden Jahren von IZUM für die weiteren Aufgaben von COBISS aufgegriffen werden: Bibliothek als Portal für Wissenschaft und Kultur (Medienmanagement und Wissensmanagement, Informationsbedürfnisse verschiedener Benutzergruppen) und Stärkung menschlicher Werte durch Kooperationen in Wissenschaft und Kultur.
Ihre Kompetenzen reichen weit über das Bibliothekswesen hinaus. Sie wurden auch im Bereich der Naturwissenschaften, der Technik und der Geisteswissenschaften ausgebildet und tätig. Ist so ein "Multidisziplinärsein" für die Bibliotheksarbeit von großer Bedeutung und sollte man deshalb, außer für Absolventen und Absolventinnen eines speziellen Bibliothekarstudiums, die Türen der Bibliotheken auch für andere Fachprofile öffnen?
Dr. Reinitzer: Ich glaube, dass das Bibliothekarstudium davon profitieren kann, wenn Interessenten mit einem bereits abgeschlossenen Studium oder sogenannte Studienabbrecher ebenfalls zugelassen werden. Jedes zusätzliche Wissen, das mit einem Studium erreicht wird, ermöglicht auch ein besseres Gespräch mit Forschern, Wissenschaftern und Studierenden, die Informationen benötigen. Umgekehrt ist es auch möglich, dass Studierende mit einer Bibliotheksausbildung zusätzlich einen Beruf erlernen. Die Informationskompetenz kann Basis für jeden Beruf und jedes zusätzliche Studium sein.
Mit Ihrer Universität verbindet uns auch der einzige Slowene im Kreise der Nobelpreisträger: Friderik (Fritz) Pregl. Er bekam vor einem dreiviertel Jahrhundert den Preis für die organische Mikroanalyse. Gibt es eine Verbindung zwischen Pregl und Ihrer Familie, die für die Grazer Universität ja auch sehr wichtig war?
Dr. Reinitzer: Beide Wissenschaftler, Friderik (Fritz) Pregl und mein Großvater Friedrich Reinitzer wurden nicht in Graz geboren, kamen aber nach Graz und verbrachten hier einen wichtigen Teil ihres Berufslebens. Zur gleichen Zeit war auch Friedrich Emich als Forscher im Fachbereich Chemie tätig, er wurde in Graz geboren und verstarb auch hier. Diesen drei Naturwissenschaftern wurde im Sommersemester 2003 von Harald Wagner eine Hausarbeit gewidmet (http://www.orgc.tugraz.at/hoegroup/chem_ges/Wagner_2.pdf). Sicher hatten sie zueinander gute wissenschaftliche und auch persönliche Kontakte, doch sind hierüber keinerlei Aufzeichnungen und auch keine mündlichen Überlieferungen in der Familiengeschichte zu finden.
Frau Dr. Reinitzer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.