"...dann haben wir ein besseres Informationssystem als Google"

Ute Schwens, Direktorin der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main


Ute Schwens ist seit 1980 an der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main tätig. Bis 1999 arbeitete sie als Assistentin des Generaldirektors, Referatsleiterin Zentrale bibliographische Dienstleistungen, Referatsleiterin Digitale Bibliothek und Abteilungsleiterin Dienstleistungen und Archivierung. 1999 wurde Ute Schwens zur Direktorin des Frankfurter Hauses der Deutschen Nationalbibliothek ernannt. In dieser Funktion ist sie gleichzeitig Ständige Vertreterin der Generaldirektorin.

Seit Juli 2007 baut sie für die Deutsche Nationalbibliothek eine neue Abteilung Digitale Dienste auf.

Ute Schwens arbeitet in verschiedenen in- und ausländischen Gremien. So ist sie unter anderem in der Frankfurt Group, dem FEP/ CENL Joint Committee (Federation of European Publishers / Conference of European National Librarians, TEL/EDL (The European Library / European Digital Library) und in einer deutschen Arbeitsgruppe zum Aufbau einer Deutschen Digitalen Bibliothek tätig, ist im Vorstand der Deutschen UNESCO-Kommission sowie im Wissenschaftlichen Beirat des DIPF (Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung), Mitglied des Beirats des Kooperationsverbundes DissOnline und aktiv im Kompetenznetzwerk nestor - Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Ressourcen in Deutschland.

Am 18. Januar 2008 sprachen Ute Schwens, Direktorin der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main und B.I.T.online-Redakteurin Angelika Beyreuther aus aktuellem Anlass der B.I.T.online-Jubiläumsausgabe über die großen (und vielen kleinen) Veränderungen im Bibliothekswesen der letzten Jahre - und über spannende aktuelle Aufgaben.

Ute Schwens: Die größte Bedeutung für die Deutsche Nationalbibliothek haben sicherlich die Vereinigung der Standorte in Leipzig, Frankfurt am Main und Berlin zu einer einheitlichen Einrichtung im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands, die Novellierung des Gesetzes über die deutsche Nationalbibliothek mit der Aufnahme von Netzpublikationen in den Sammelauftrag im Jahr 2006 und für den Frankfurter Standort der Umzug in einen hochmodernen Bibliotheksneubau im Jahr 1997.

Die Arbeit von Bibliotheken und vor allem der Deutschen Nationalbibliothek hat sich aber in dieser Zeit auch in vielen kleinen Schritten verändert. Viele davon haben ihren Ursprung in neuen und erweiterten technischen Möglichkeiten, also im technischen Fortschritt. Als ich begann in der Bibliothek zu arbeiten, wurden gerade die ersten Schritte zur automatisierten Herstellung der gedruckten Ausgabe der Nationalbibliographie gemacht. Man hantierte nicht mehr mit einzelnen, alphabetisch sortierten Zetteln, sondern gab zunächst Lochkarten, dann bald schon Magnetbänder, an eine Setzerei. Ich konnte in einer gerade im Aufbau befindlichen Abteilung mitwirken, um für andere Bibliotheken mit automatisierten Verfahren Dienstleistungen zu generieren. Wir begannen, Titelkarten automatisch erzeugen zu lassen und bibliografische Daten erstmals auf Magnetbändern an andere Bibliotheken und Verbünde weiterzugeben. Die Datenbank Bibliodata, die wir in dieser Zeit aufbauten, erlaubte erstmals einen Online-Zugriff auf unseren gesamten Datenbestand.

Dann stellten wir von dem proprietären Datenbanksystem auf PICA ILTIS um. PICA gehört heute zu OCLC und ILTIS ist das Akronym für unser internes Datenbanksystem: Integriertes Literaturinformations- und Tonträger-Datenbanksystem. Mitte der 90er Jahre kamen die ersten Internetanwendungen auf. Im Grunde genommen hat sich die technologische Basis in Fünfjahressprüngen komplett erneuert! Mit der Einführung von PICA konnten wir die manuelle Eingabe handgeschriebener Erfassungsbelege für die Katalogisierung endgültig abschaffen. Die Katalogisierung erfolgt seither direkt durch Bibliothekarinnen und Bibliothekare in das Datenbanksystem. Gleichzeitig machte es jetzt Sinn Normdateien aufzubauen. Damit konnten wir die Datenbank viel effektiver auf- und ausbauen. Alle Weiterentwicklungen fanden natürlich immer in Kooperation und Abstimmung mit anderen Bibliotheken statt, um eine einheitliche Vorgehensweise in Deutschland oder sogar in den deutschsprachigen Ländern sicherzustellen.

Auch Anforderungen der Bibliotheksbenutzer und damit die Ausstattung der Lesesäle entwickelten sich weiter. Für die Medien, die wir seit Mitte der 80er Jahre in die Sammlung aufgenommen hatten, also für Disketten, CD-ROM, später DVD mussten Benutzungsumgebungen zunächst geschaffen und dann aktuell gehalten werden. Zugleich mussten Lösungen gefunden werden, wie diese Medien auf Dauer benutzbar bleiben sollten: Dabei wurde bald klar, dass wir ständig auf andere Datenträger würden migrieren müssen, um den ursprünglichen Datenstrom zumindest weiterhin auslesen zu können: Wer verfügt denn heute noch über funktionierende Laufwerke für 5 1/4 Zoll, geschweige denn für 8½ Zoll Disketten? Probleme der schleichenden Entmagnetisierung von Datenträgern im Laufe der Zeit, der begrenzten Haltbarkeiten von Datenträgern wie CD-Rom und DVD seien hier nur am Rande erwähnt, fordern aber erheblichen Entwicklungsaufwand.

Als wir Anfang 1997 unseren Bibliotheksneubau in Frankfurt am Main bezogen haben, konnten wir ein sehr modernes Benutzungssystem für Nichtprintmedien realisieren. Unser Multimediabereitstellungssystem erlaubt es uns, Benutzern CDs, Disketten, Audiofiles, Videos, und sogar damals schon das Internet, über ein Benutzungssystem zur Verfügung zu stellen, ohne dass wir den Benutzern die CD oder die Diskette in die Hand geben mussten. Auch die Migration von Daten von einem Datenträger auf den nächsten war in dem System schon verankert. Das vor 10 Jahren hochmoderne und vorausschauend konzipierte System ist heute in der Zeitrechnung der Informationsverarbeitung uralt und muss jetzt durch ein neues Bereitstellungssystem abgelöst werden.

In den 90er Jahren fingen wir auch mit der Sammlung von Online-Publioationen an, die vor allem von Hochschulen in der Form von Online-Dissertationen abgeliefert wurden. Da hier keine wirtschaftlichen Verwertungsinteressen gegeben sind, können wir diese Veröffentlichungen im Volltext direkt aus dem Katalog heraus präsentieren. Inzwischen ist unser Bestand in diesem Segment auf über 60.000 Publikationen angewachsen. Nach diesem Anfang haben wir Ende der 90er in einer ersten Projektrunde mit damals fünf Verlagen Gespräche zur Sammlung elektronischer Veröffentlichungen begonnen: die DuMont Buchverlage, der wissenschaftliche Springer Verlag, Wiley-VCH, der Verlag der Buchhändler Vereinigung und der Saur Verlag waren die Partner der ersten Stunde. Wir haben bewusst ganz unterschiedliche Verlage gewählt und sind auch in der Entwicklung unterschiedlich weit mit den einzelnen gekommen. Wir haben hier Neuland betreten und in dem Prozess viele Erfahrungen gesammelt. Uns wurde auch klar, was bei der Sammlung elektronischer Publikationen auf uns zukommen würde. Diese Aufgaben lassen sich nicht einfach mal so in zwei Jahren Projektarbeit lösen (schmunzelt).

Ute Schwens: Der Sammelauftrag und damit auch die Pflichtablieferung für Netzpublikationen sind seit Mitte 2006 durch das Gesetz festgelegt. Wir bitten aber die Verlage und andere Ablieferungspflichtige darum, uns nicht mit Dateien zu überschütten, sondern sich lediglich zu melden. Wir müssen die Verfahren zunächst in einen geregelten technischen Ablauf bringen und gehen dann unsererseits auf die einzelnen zu, wenn wir diese Daten auch verarbeiten können. Die Workflows werden gerade entwickelt und wir haben Anfang des Jahres die ersten Tests mit Verlagen begonnen.

Wir starten mit zwei automatisierten Ablieferungsmöglichkeiten. Bisher wurden die Onlinepublikationen meist passwortgeschützt auf einem FTP-Server abgeladen, dazu die Metadaten in eine Datei gelegt und wir mussten Veröffentlichungen und Metadaten manuell zusammenbringen. Diese Vorgehensweise ist zu aufwändig und muss geändert werden. Für kleinere Mengen haben wir mittlerweile ein Abliefererformular im Netz und werben dafür, dieses zu verwenden. Mit einigen wenigen Angaben hat der Ablieferer die Sicherheit, dass die Publikation ihm richtig zugewiesen ist und dass er Rechteinformationen an uns weitergeben kann. Für größere Ablieferungsmengen haben wir den Verlagen ein OAI-Verfahren vorgeschlagen. Das wird natürlich noch ein bisschen skeptisch gesehen, weil damit ein Zugriff von uns auf den Verlagsserver verbunden ist. Es sind aber einige Verlage bereit, es auszuprobieren, und wir denken natürlich über alternative Verfahren nach.

Es gibt noch offene Diskussionspunkte zu weiteren Verfahren. Wenn wir Publikationen selbst abholen, muss der Zugang von Seiten der Ablieferer richtig eingerichtet sein und wir müssen die notwendigen Berechtigungen erhalten. Dabei werden rechtliche Fragen aufgeworfen, die nicht durch das geltende Urheberrecht beantwortet werden.

Alle Erfahrungen, die wir derzeit machen, fließen in die weiteren Konkretisierungen zum Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek ein: in die Pflichtablieferungsverordnung und die Sammelrichtlinien. Das sind ungeheuer spannende Entwicklungen, aber sie ziehen sich nun doch länger hin als der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) mit seinem Stab und wir dachten. Ich hoffe, dass wir jetzt im Frühjahr dem Verwaltungsrat der Deutschen Nationalbibliothek eine sehr fortgeschrittene Fassung der Pflichtablieferungsverordnung vorstellen können.

Ute Schwens: Wir haben das Volumen einmal zu Beginn der Diskussionen geschätzt und sind damals davon ausgegangen alles sammeln zu können. Mittlerweile sprechen wir über Ausschnitte des Internet, und gehen davon aus, höchstens einen Bruchteil der zig Millionen Seiten, die in Deutschland mit .de und .com angemeldet sind, sammeln zu müssen. (lacht). Das Internet ändert und erweitert sich täglich und damit ist auch der Sammelauftrag ständigen Veränderungen unterworfen. Wir diskutieren derzeit mit dem Kulturstaatsminister und den betroffenen Verbänden die Konkretisierungen und Einschränkungen des Sammelauftrags. Das zieht sich hin, weil man bei einem so flüchtigen Medium wie dem Internet nur schwer allgemeingültige Formulierungen findet. Und außerdem: Im Web 2.0 reden wir vielleicht noch über Blogs oder Chatrooms, aber was kommt danach? Klare Definitionen sind also alleine aufgrund der benutzten Terminologie schwierig. Die Pflichtablieferungsverordnung muss das berücksichtigen, denn auch sie soll ja nicht jedes Jahr geändert werden.

Und die Sammlung muss in ihrer Struktur sinnvoll sein. Das Gesetz und die Ablieferungsverordnung nennen als Kriterien "allgemeines Interesse" und Informationsgehalt. Wir sammeln keine Seiten im Internet, die ausschließlich Verkaufszwecken dienen, wie die Seiten von Auktions- und elektronischen Warenhäusern. Wir sammeln auch unseren eigenen Katalog oder den anderer Bibliotheken nicht ständig wieder neu. Wir sammeln keine Serviceangebote bestimmter Gewerke, auch keine reinen Downloads, Tools oder Werkzeuge, Software. Außerdem sammeln wir weder Fernsehen noch Hörfunk. Das ist mittlerweile aber schwer abzugrenzen, denn die Webseiten von Rundfunkanstalten bieten inzwischen Digitalfernsehen oder Hörfunk an. Hier haben wir jetzt den Schnitt gemacht, dass diese Internetinhalte von den Sendern "vor Ort" archiviert werden mit den dort geltenden Archivregularien. Wir sammeln prinzipiell auch keine kommunalen Veröffentlichungen rein amtlichen Inhalts. Im Internet können wir aber nicht mehr auseinander halten, was rein amtliche und was darüber hinausgehende Informationen sind. Hier wollen wir mit den Landesbibliotheken sprechen, ob diese nicht generell die Veröffentlichungen der kommunalen Ebene sammeln könnten. Es tut mir zwar weh, die Seite der Stadt Frankfurt nicht mehr in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt zu sammeln (schmunzelt), aber man muss konsequent sein. All diese Fragestellungen werden derzeit in unseren für gedruckte Publikationen bewährten Sammelrichtlinien konkretisiert. Wir haben gute Erfahrungen mit Beispiellisten gemacht. Solche stellen wir jetzt auch ins Netz.

Ute Schwens: ...sehr interessante! Wenn wir umsetzen können, was angedacht ist, vor allem auch politisch unterstützt angedacht ist, werden wir in diesem Bereich eine führende Position einnehmen, auch im europäischen Maßstab. Vor dem Hintergrund der Pläne der EU zur Schaffung der European Digital Library ist jedes Mitgliedsland aufgefordert, eine nationale Digitalisierungspolitik zu entwickeln und Überlegungen anzustellen, wie die entstehenden Inhalte in die European Digital Library integriert werden können. In^rtlch Deutschland haben Bund und Länder schon vor eineinhalb Jahren eine Fachgruppe aus Vertretern von Bibliotheken, Archiven, Museen und Filminstituten zu dieser Fragestellung gebildet. Ziel ist eine Deutsche Digitale Bibliothek. - Dies ist nur ein Arbeitstitel! Wir haben noch keinen schönen Namen für das Kind. - Entstehen soll eine Plattform im Internet, die einen gemeinsamen Zugriff auf die Bestände der Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen Deutschlands anbietet.

Das ist eine komplexe Aufgabe. Wir haben eine sehr heterogene Landschaft in den verschiedenen Kulturbereichen mit verschiedenen Standards und Techniken. Das grobe Konzept, das wir in dieser Fachrunde erarbeitet haben, die übrigens nicht aus Informatikern besteht, liegt jetzt zur weiteren Ausgestaltung bei den IT-Fachleuten, die sich in den nächsten Monaten über die Machbarkeit Gedanken machen werden.

Parallel dazu gibt es die Diskussion auf politischer Ebene. Der Bund hat seine Kooperationsbereitschaft eindeutig erklärt und damit begonnen, für einige Projekte in diesem Zusammenhang die Finanzierung zu übernehmen. Die Länder werden das jetzt hoffentlich im ersten Halbjahr 2008 auch tun. Die Grundidee ist: Das jetzt schon Digitalisierte in diese Deutsche Digitale Bibliothek zu integrieren und Richtlinien festzulegen für das, was man in Zukunft digitalisiert, damit von vornherein eine gewisse Homogenität des Angebotes entsteht.

Man darf nicht verkennen, dass es Länder mit einer zentralistischen Struktur im Kulturbereich leichter haben, die Kulturbereiche ihrer Nation in einer konzertierten Aktion zusammenzufassen. In England, Frankreich, Norwegen ist die Stellung der Nationalbibliothek im Bibliothekswesen stärker als sie es im föderalistisch organisierten und als Nation noch gar nicht so alten Deutschland sein kann. Auf der anderen Seite beschert der Föderalismus einen Literaturreichtum, eine hervorragende Literaturabdeckung in der Fläche, um die uns andere Länder mitunter beneiden. Die Ursache ist darin zu suchen, dass die Entwicklung des Bibliothekswesens eben nicht auf eine oder zwei Bibliotheken konzentriert war. Dieses System ist aber insgesamt anspruchsvoller, wenn man sich einigen und Bestände zusammenfügen muss. In Norwegen beispielsweise ist alles an einem Ort, wir müssen uns vernetzen. Das macht es schwieriger.

Die angedachte Plattform, dieses Internetportal zu den digitalisierten Kultur- und Wissenschaftsinformationen, wird nicht den Content, sondern lediglich die Metadaten vereinigen, von dort wird man zu der Institution weitergeführt, die den Content awfbewahrt. Dadurch lassen sich auch rechtliche Fragestellungen leichter klären. Und das Ganze muss natürlich in enger Abstimmung mit den Überlegungen zur European Digital Library erfolgen, damit wir uns nicht in Deutschland auf einen Standard, oder auf technische Schnittstellen einigen, die mit der EDL gar nicht zum Tragen kommen.

Insgesamt ist das eine sehr interessante und erfreuliche Entwicklung, weil wir hinsichtlich der Vernetzung der Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen mit den politischen Entscheidern und den Unterhaltsträgern noch nie so weit gekommen sind.

Ute Schwens: Ich sehe heute, wie sehr ein digitaler Text präsent ist und wie Leser auf ihn gestoßen werden, weil eine Suchmaschine ihn gefunden hat. Ich war tatsächlich lange hin- und hergerissen, ob man wirklich alles digitalisieren sollte, was die Welt jemals hervorgebracht hat. Vieles ist spezialisiert und wurde entsprechend wenig genutzt. Durch die Digitalisierung werden diese Quellen besser zugänglich und die Benutzer darauf aufmerksam gemacht. Das Angebot wird sehr viel größer, was aber auch die Verantwortung mit sich bringt, für eine bessere Hierarchisierung, Kategorisierung und Strukturierung zu sorgen und über semantische Netze Verknüpfungen deutlicher zu machen, weil diese Masse sonst den Inhalt eher verbirgt, als ihn aufzuzeigen.

Die Medienkompetenz des Benutzers wird immer wichtiger. Es gibt ja auch viele spannende Nichttextmedien für Wissenschaftler und den interessierten Laien. Beispiel: Da interessiert sich jemand für Mozart, nicht allein Mozarts Leben in Texten und Bildern, sondern auch für eine Wiedergabe eines Musikstücks, für Digitalisate von Handschriften von Mozart, für einen Film. Das zusammenzubringen, das ist die Aufgabe in einigen Projekten, u. a. auch der Deutschen Digitalen Bibliothek und der European Digital Library. Im digitalen Zeitalter muss Medienvielfalt möglich sein, ohne dass Brüche entstehen dürfen. Das stellt uns vor ganz neue Herausforderungen. Wie recherchiert man denn nach einem Notenblatt? Dafür müssen den Digitalisaten Metadaten zugefügt oder besondere automatisierte Auswertungsverfahren entwickelt werden.

Ute Schwens: Wir haben ein zweistufiges Konzept. Zunächst einmal arbeiten wir aus eigener Kraft auf der Basis eines Kooperationsvertrages weiter, jede interessierte Bibliothek oder jedes Archiv bringt sich dabei mit bestimmten Aufgabenstellungen ein. Wenn wir später Ergebnisse vorweisen können, erhoffen wir uns weitere Gelder, mindestens für das Betreiben der nestor-Website, aber auch zur Finanzierung der technischen Projekte.

Die Langzeitarchivierung ist eine große Herausforderung und Konsequenz aus der digitalen Entwicklung. Sie stellt uns vor eine Menge Fragen und ist eine aufregende Aufgabe. Wir haben dazu in Deutschland neben nestor auch kopal initiiert. Auf europäischer und internationaler Ebene gibt es weitere große Kooperationsprojekte. Alle ziehen hier an einem Strang. Das Internet endet schließlich nicht an der deutschen oder der holländischen Grenze. Es ist ein internationales Thema und eine neue Dimension der Bestandserhaltung, die es früher in der Form nicht gab, als das Archiv physische Hervorbringungen wie Bücher aufnehmen musste. Da musste man für klimatische Verhältnisse und für Staubfreiheit sorgen, jetzt dafür, dass technische Systeme in der Lage sind, die Formate und Systemumgebungen so zu erhalten, dass man sie auch noch in hundert Jahren lesen kann. Darauf arbeiten wir hin.

Ute Schwens: Ein Zeitschriftenartikel von Springer, zum Beispiel, der an uns vor fünf Jahren in einem PDF-Format abgeliefert wurde, muss irgendwann migriert werden. Er war damals vielleicht lesbar mit Acrobat Reader 3, jetzt sind wir bei Version 8, und die Versionen sind nicht uneingeschränkt abwärts kompatibel, wie es immer so schön heißt, sondern beim Lesen älterer Texte mit der neuen Version gehen oft Informationen verloren. Der Artikel muss also auf die nächsten Versionen migriert werden in dem Moment, in dem eine Software, ein Browser, oder ein Lesetool, nicht mehr alle Informationen der Originaldatei interpretieren kann. Wir behalten und verkapseln alte Versionen, aber nicht alle Zwischenschritte.

Das System zur Verwaltung all der digitalen Dateien, das wir mit IBM entwickelt haben, dokumentiert den technischen Werdegang, um gegebenenfalls später Veränderungen an den Daten nachvollziehen zu können. Und wenn das alles gar nicht mehr geht, wenn der Acrobat Reader 11 dann mal irgendwann die Daten des 8er, 9er, 10er überhaupt nicht mehr lesen kann, dann bilden wir die ganze Systemumgebung der alten Versionen ab, speichern diese mit ab. Das nennt man Emulation. Man stellt die alte Systemumgebung innerhalb einer neuen Architektur her, um die alten, nicht mehr kompatiblen Daten in der ihnen zugedachten Umgebung nutzen zu können. Beispiele hierfür in unserem Haus sind Atari-, Commodore-, Amiga- und auch schon erste DOS-Anwendungen, für die eine entsprechende Umgebung emuliert werden muss, da sonst eine spätere Benutzung nicht mehr möglich ist.

Die genannten alten Systemumgebungen wurde nachgebaut ("eingefroren") und werden heute auf UNIX benutzt. Benutzer gehen in den Lesesaal und nutzen eine Veröffentlichung, die auf einem Commodore entstanden war. Man sitzt an einem UNIX-Gerät und arbeitet mit Commodore. Das muss man dann natürlich auch können, denn die Anwendung wird ja bedient wie auf einem Commodore (schmunzelt). Diese Beispiele Atari, Commodore, etc. sind immer so schön einleuchtend bei Erklärungen zur Langzeitarchivierung, weil jeder unseres Alters diese Vorformen der Microsoftwelt und der Applewelt kennt. Für MAC-Anwendungen haben wir uns mit der Schweizerischen Nationalbibliothek ausgetauscht: Sie haben uns die MAC-Emulationen überlassen, mit denen sie ihre Entwicklungen angefangen hatten und deshalb schon weiter waren, und wir haben ihnen die Tools und Softwarepakete unserer Amiga- und Atari-Anwendungen gegeben.

Ute Schwens: Wir versuchen uns in diese Richtung weiterzuentwickeln, genauso wie Nationalbibliotheken anderer Länder und weitere Bibliotheken in Deutschland. Aber ich glaube, dass es auch noch viele Traditionalisten gibt (was nicht immer etwas mit dem Alter zu tun hat), die diese "Marschrichtung" nicht verstehen.

Neue Nutzergenerationen erwarten die Abbildung oder Einbeziehung der Bibliothek in einer ihnen bekannten Umgebung. Sie wollen nicht mehr unbedingt immer in die Bibliothek gehen, obwohl es oft auch so ist, dass sie gerne kommen, weil es hier ruhig ist, man hier arbeiten kann, und es eine Cafeteria gibt (lacht). Und sie recherchieren auch nicht wie früher. Die Bibliothek muss sich diesem neuen Informationsverhalten stellen: Benutzer googeln. Das heißt, sie geben einen Begriff ein, kombinieren ihn eventuell mit einem anderen, und wollen schnell ein Ergebnis bekommen. Sie durchsuchen nicht komplizierte Online-Kataloge oder besuchen Schulungen, damit sie den OPAC einer Bibliothek benutzen können.

Wir haben in den Bibliotheken enorm gute Informationssysteme, aber man muss damit umgehen können, um sie optimal zu nutzen. In Zukunft müssen diese Systeme bei einer Benutzerrecherche im Hintergrund laufen. Ganz profan kann man das so ausdrücken: wenn ein Medizinstudent im Suchmaschinenslot Blinddarm eingibt, dann muss er eben auch alle Titel zu Blinddarm, Appendix und anderen zuzuordnenden Begriffen geliefert bekommen und darüber hinaus die hierarchische Zuordnung zu Chirurgie, Anatomie ... und das in einer klar überschaubaren Ergebnispräsentation. Wir haben ja in unseren Daten diese Strukturen und diese klassifikatorischen Informationen. Das ist die intellektuelle Erschließungsarbeit, die in Bibliotheken geleistet wird. Wir müssen sie aber anders präsentieren. Darauf arbeiten wir hin: Im Hintergrund laufen Recherchetools, Autoren werden abgefragt, Titel, Klassifikationsgruppen, optimal auch fremdsprachliche Begriffe.

Zusätzlich zu dieser Form von Informationsvermittlung und Recherchedienstleistungen kann man bibliotheksübergreifende Lieferleistungen anbinden, indem wir dem Benutzer mitteilen, wo er ein recherchiertes Buch bekommt: in der Bibliothek, im Buchhandel, bei Amazon, "bei Ebay ist es zur Zeit fünfmal im Angebot"! Oder man fragt, immer vor dem Hintergrund urheberrechtlicher Regelungen, ob er eine Kopie eines Aufsatzes daraus braucht.

Ute Schwens: Ja. Wir bereiten das gerade beginnend mit dem Neuzugang der Verlagspublikationen ab diesem Jahr vor und nehmen die Inhaltsverzeichnisse mit in den Katalog auf. Der Benutzer kann das Digitalisat des Inhaltsverzeichnisses eines Buches einsehen, darüber hinaus gehen die Begriffe aus dem Inhaltsverzeichnis in die Suche mit ein, Benutzer bekommen also auch einen Treffer zu einem Aufsatz in einem Buch, z.B. in einem wissenschaftlichen Lehrbuch, was ja früher nie der Fall war.

Ute Schwens: Besser! Davon bin ich überzeugt. Hinsichtlich des Recherchezugangs wollen wir semantische Strukturen mit aufnehmen. Das ist zwar noch eine Menge Entwicklungsarbeit bis dahin, dann aber haben wir ein besseres Informationssystem als Google. Wir können Wissenschaftshierarchien abbilden und zuordnen, ohne dass der Benutzer das von sich aus tun muss. Hinsichtlich des Zugangs auf die Inhalte selbst garantieren wir eine dauerhafte Adressierung (Links gehen nicht ins Leere) und die Langzeitarchivierung der Publikationen.

Ute Schwens: Ja, natürlich, einen Anti-Google-Hype halte ich für völlig verkehrt. Wir nutzen Suchmaschinen und bieten den Nutzern darüber hinaus Zusatzinformationen an. Google bietet keine Hierarchieebenen, eher gleich zu wertende Treffer, deren Ranking nach Gesetzen erfolgt, über die Google nicht informieren will. Obwohl es natürlich viele interessieren würde, auch uns für das Ranking in unseren Online-Katalogen. Die Ergebnisse von Suchanfragen werden wir in Zukunft nicht mehr so auflisten können, wie wir das im Bibliothekskatalog früher gemacht haben. Die Rechercheergebnisse enthalten viel zu viel heterogenes Material. Deshalb habe ich vor einigen Minuten von der überschaubaren Ergebnispräsentation gesprochen.

Wir arbeiten auch mit Wikipedia zusammen, was ich von der Idee her wirklich wunderbar finde. Natürlich ist diese Internetenzyklopädie kein wissenschaftliches Instrument bis in letzte Details, aber es wird umso besser, je mehr Wissenschaftler und andere Beteiligte mitarbeiten. Wir haben im Rahmen eines Kooperationsprojekts die Namen in Wikipedia zum überwiegenden Teil mit unserer Personennamendatei und über diese Normdatei mit den Büchern von und über die Personen verknüpft. Wenn jemand in Wikipedia eine Person findet, erhält er die Informationen darüber, was diese geschrieben hat und was über sie geschrieben wurde. Solche Verknüpfungen entsprechen den Möglichkeiten des Internet und der Internetbenutzer erwartet von Bibliotheken und anderen Informationsanbietern diese Verlinkung und Weiterreichung.

Ute Schwens: Wir sind von Seiten der DNB an rund 15 Veranstaltungen durch Vorträge oder Moderationen beteiligt. Dabei geht es um Fragen wie: Langzeitarchivierung, Bibliotheken der Zukunft, Weiterentwicklung der Normdateien. Außerdem um wesentliche Themen in der Standardisierung: Wie können die Standardisierungsentwicklungen mit den internationalen Entwicklungen in Einklang gebracht werden, damit Kooperationen zwischen Bibliotheken und Kultureinrichtungen nicht an Grenzen enden müssen, damit aber auch die Integration nationaler Daten in internationale Systeme wie die European Digital Library oder den OCLC worldcat möglich sind.