Neues aus Großbritannien: Nationales E-Book Projekt

Schon wieder ohne den erhofften Bestseller...

von Alice Keller

Als ich im Frühjahr 2007 auf einer Sitzung erwähnte, dass Oxford University nun Zugriff auf über 340.000 lizenzpflichtige E-Books hatte, wollte es mir keiner glauben. „Unglaublich, wo sind sie?“ wollten die Kollegen sofort wissen.

E-Books mögen faszinierend sein, aber nicht unbedingt relevant für das Studium. (Abbildung eines E-Books aus EEBO: A. R., True and wonderfull … London: 1614)

Das Problem war natürlich, dass die meisten dieser 341.564 E-Books für die Mehrheit der Benutzer komplett irrelevant waren, da es sich um Texte aus dem 17. oder 18. Jahrhundert handelte: EEBO (Early English Books Online) und ECCO (Eighteenth Century Collection Online) allein lieferten 260.274 retrospektiv digitalisierte Titel. Von den verbleibenden 81.290 E-Books handelte es sich bei 68.937 ebenfalls um digitalisierte Werke aus früheren Jahrhunderten. Außerdem waren 10.703 auf Chinesisch und entsprechend ebenfalls nicht von Interesse für den „Durchschnittsbenutzer“.

Unter dem Strich blieben noch 1.650 Titel, die weder aus früheren Zeiten noch aus fernen Erdteilen stammten. Allerdings handelte es sich auch bei diesen Titeln nicht um Lehrbücher mit hohen Ausleihzahlen, sondern eher um Forschungsliteratur oder wissenschaftliche Monographien für den fortgeschritteneren Studenten.

In dieser Hinsicht ist Oxford sicher kein Sonderfall. Hohe Zahlen an E-Books weisen mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass die Bibliothek entweder retrospektiv digitalisierte Bücher oder große E-Book Pakete eingekauft hat (z.B. NetLibrary). Beides sind sicher nützliche Investititionen, aber nicht unbedingt das, was sich Studenten unter E-Books vorstellen und erhoffen.

Zu diesem Schluss kam auch JISC in einer Studie aus dem Jahr 20061: Gemäß ihrer Umfrage wollten Bibliotheken sehr gerne E-Book Sammlungen aufbauen. Es fehlte also nicht an der Nachfrage von Bibliotheksseite, was vielmehr fehlte, war ein Angebot an geeigneten Online-Lehrbüchern. „The main barrier was not a lack of demand, but rather the dearth of e-books being made available.” Verleger hingegen hatten die Sorge, dass die Nachfrage nach E-Büchern weiterhin zu gering sei, und dass Campuslizenzen zu signifikanten Einbußen beim Direktverkauf von Lehrbüchern an Studierende führen würden.

JISC versucht nun mit dem National E-Books Observatory Project (http://www.jiscebooksproject.org/) eine Brücke zu schlagen zwischen Bibliotheken und Verlagen, um gegenseitiges Verständnis zu schaffen und den Weg für den überfälligen Einzug des E-Books in die Hochschulbibliotheken zu ebnen. Das Ziel des Projektes ist entsprechend klar umrissen: “to examine usage, assess impacts, observe student behaviour and develop new models to stimulate the e-books market.”

Mit anderen Worten, JISC will eine Anschubfinanzierung leisten, damit Studierende an britischen Hochschulbibliotheken in einem Zeitraum von zwei Jahren „kostenlos“ auf eine attraktive Sammlung von Online-Lehrbüchern zugreifen können. Gleichzeitig sollen mit Deep Log Analysis hoch detaillierte Daten zur Benutzung der Texte gesammelt werden, die sowohl zur Festlegung von sinnvollen Preis- und Lizenzmodellen, als auch zur Weiterentwicklung von bedürfnisgerechten Formaten und Funktionalitäten beitragen sollen. Das Projekt soll also für alle beteiligten Partner signifikante Vorteile bringen.

Mit Spannung erwarteten meine Kollegen und ich letztes Jahr die Ernennung der vier ausgewählten Fachgebiete: es handelt sich um Business und Management, Ingenieurwesen, Medizin und Medienwissenschaften. Hiermit erlebten wir bereits die erste Enttäuschung, da – außer der Medizin – keines dieser Fächer zu den Kernlehrgebieten Oxfords gehörte. Enttäuscht waren meine Kollegen vor allem, dass die Geisteswissenschaften überhaupt nicht vertreten waren. Selbstverständlich werden andere Hochschulen mit anderen Schwerpunkten viel positiver reagiert haben.

Als Nächstes wurden Verleger und E-Book-Aggregatoren aufgefordert, geeignete Titelvorschläge und Offerten einzureichen. Gesucht waren Lehrbücher, die zur Pflichtlektüre an britischen Hochschulen gehörten. JISC identifizierte unter den Offerten 136 potenziell geeignete E-Books. Allerdings hätten die Verleger hierfür insgesamt £2.08mio verlangt(!), was das vorhandene Budget von £600'000 bei Weitem überstieg. Somit musste die Titelzahl in einer weiteren Evaluationsrunde auf 36 E-Books reduziert werden: 7 Medienwissenschaften, 10 Medizin, 14 Ingenieurwesen, 5 Business und Management.

Als die Titelliste veröffentlicht wurde, kam die zweite Enttäuschung für Oxford. Unter den ausgewählten E-Books befanden sich fast keine Titel, die in Oxford zur Pflichtlektüre gehörten. Und ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass Dozenten in Oxford bereit wären, ihre Vorlesungen und Prüfungen der Titelauswahl von JISC anzupassen.

JISC hatte übrigens auch erwägt, den umgekehrten Weg einzuschlagen und zuerst Titelvorschläge von Bibliotheken einzuholen und diese zu evaluieren. In einem nächsten Schritt wären dann die Verlage angefragt worden, ob sie diese Werke den Bibliotheken online zur Verfügung stellen könnten. Aber die Projektleiterin Caren Milloy, JISC, machte sich hierzu keine Illusionen: „I knew that such a task would be pointless. Publishers were not simply going to hand over their most valuable textbooks and hope for the best.” Wer sich also erhofft hat, Bestseller unter den 36 E-Books zu finden, wird enttäuscht sein.

Übrigens zirkulierte im Herbst 2007 in England ein Gerücht, dass ein Verlag (es wurde nicht gesagt welcher) mit einem einzigen Lehrbuch weltweit einen Umsatz von £500.000 erzielt hatte. Kein Wunder reichten die £600.000 von JISC nicht für ein attraktiveres oder größeres Titelangebot. Die Zahl von 36 Titeln, verteilt über vier Fachgebiete, dürfte allerdings zu tief sein, um das Leseverhalten von Studenten in neue Bahnen zu lenken. Schon bei den elektronischen Zeitschriften hatten wir beobachtet, dass es mindestens 1.000 relevante Titel brauchte, bis das neue Medium wirklich wahrgenommen wurde.

Die E-Books werden ausschließlich über zwei Plattformen angeboten: Medizin wird über die Books@Ovid Plattform von Wolters Kluwer angeboten; E-Books der anderen Fachgebiete sind über MyiLibrary greifbar. Ursprünglich war es die Idee von JISC gewesen, die Titel über eine Vielzahl von Plattformen anzubieten, aber die Lizenzen ließen dies nicht zu. Hiermit traf uns natürlich die dritte Enttäuschung, denn Oxford bietet bisher E-Books weder über MyiLibrary noch Wolters Kluwer an.

Um den Zugriff auf die lizenzierten Titel möglichst einfach zu gestalten, liefert JISC auch nützliche Starthilfe für die beteiligten Bibliotheken. Das online verfügbare Toolkit enthält alles von Katalogdaten (MARC 21) zum Runterladen bis zu fertig formulierten Pressemitteilungen und E-Mails für die Benutzer der eigenen Universität. Nichts wird dem Zufall überlassen.

Meine Kollegen aus dem Fachreferat in Oxford mögen skeptisch sein, aber dennoch glaube ich, dass die Resultate dieses Projekt sehr wichtig sein werden für die Weiterentwicklung von E-Books an britischen Hochschulen. Die Tatsache, dass sich bereits 124 Hochschulen Großbritanniens am Projekt beteiligen weist darauf hin, dass dringender Handlungsbedarf im Bereich von E-Books besteht. Und die Tatsache, dass die wichtigsten Lehrbücher den Studenten weiterhin vorenthalten werden, beweist, wie dringend notwendig es ist, dass eine Brücke zwischen Nachfrage und Angebot geschlagen wird.


Literatur

Milloy, Caren: E-books: setting up the national observatory project. In: CILIP Update, Nov 2007, p. 32-33.


Zu der Autorin

Dr. Alice Keller

Head of Collection Management
Oxford University Library Services
Bodleian Library
Broad Street
Oxford OX1 3BG, England
alice.keller@ouls.ox.ac.uk


Anmerkung

1. The Higher Education Consultancy Group 2006