Die neue Zentrale der Stadtbibliothek in Amsterdam

von Gernot Gabel

Wer als Reisender mit dem Zug in Amsterdam eintrifft und sich auf dem Bahnhofsplatz umschaut, dem werden am nahen Hafen die vielen Baukräne ins Auge fallen. Dort entsteht ein imposanter Wohn-, Büro- und Kulturkomplex, in dem seit Juli 2007 auch die Stadtbücherei ihr neues Hauptquartier hat, das größte Gebäude einer öffentlichen Bibliothek in Europa.

Historischer Rückblick

Die "Openbare Bibliotheek Amsterdam" (OBA) besteht noch keine neunzig Jahre. In den Niederlanden sind die ersten öffentlichen Bibliotheken nämlich erst um die Jahrhundertwende entstanden, oftmals auf Initiative von Privatpersonen; ihre Vorbilder waren Institutionen in Großbritannien und Deutschland. In Amsterdam trat 1901 erstmals ein Verein zusammen mit dem Vorschlag, einen "öffentlichen Lesesaal" zu etablieren. Über Artikel in der örtlichen Presse wie durch Anträge an den Gemeinderat suchte er die Bürger für sein Anliegen zu gewinnen, denn die gesellschaftliche und politische Führungsschicht der Stadt war damals einem solchen Projekt nicht gewogen. Um diesen Vorbehalten auf Landesebene entgegen zu wirken, wurde 1908 in Den Haag die "Centrale Vereniging voor Openbare Leeszalen en Bibliotheeken" gegründet, und es ist nicht zuletzt ihrem Wirken zu verdanken, dass sich in der Amstelmetropole 1913 eine Gesellschaft zur Gründung eines öffentlichen Lesesaals formierte. Mit Zustimmung des Gemeinderats wurde ihr als Domizil das ehemalige Büro der städtischen Gasanstalt an der Keizersgracht angeboten, doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte dann zunächst alle weiteren Planungen zunichte. So konnte das viergeschossige Bibliotheksgebäude in der Keizersgracht 444 nach den erforderlichen Umbauten erst im Februar 1919 eröffnet werden.

Nach Ablauf des ersten Jahres legte die Direktion einen Bericht über die Publikumsrezeption der Neugründung vor. Danach war die Zahl der Benutzer auf 10.500 angewachsen, die Kollektion überstieg 45.000 Bände, und die Zahl der Ausleihen erreichte fast 100.000. Im Verlauf einer Studienreise nach England gewann Direktor Dr. T.P. Sevensma die Überzeugung, dass seine Bibliothek sowohl räumlich wie in ihren Sammlungen noch erheblich zulegen müßte, um mit vergleichbaren Institutionen in englischen Großstädten gleichziehen zu können. Insbesondere die Raumsituation erwies sich als unzureichend, denn vor dem kleinen langgestreckten Lesesaal (175 qm) mit seinen nur 72 Plätzen kam es häufig zu Warteschlangen der Benutzer, und auch der enge Zeitungslesesaal erfreute sich eines äußerst regen Zuspruchs. Um den Benutzerstrom etwas umzuleiten, wurde bereits 1920 die erste Zweigstelle eingerichtet. Ein Jahrzehnt später war deren Zahl auf zehn angestiegen, und die Ausleihen erreichten mit knapp 200.000 eine neue Höchstmarke. In den dreißiger Jahren, als die Weltwirtschaftskrise viele Bürger arbeitslos werden ließ, war die Bibliothek ein gern aufgesuchter Ort, sei es um sich zu informieren und die Zeit zu vertreiben, manchmal auch um nur ein warmes Plätzchen zu finden.

Im Mai 1940 besetzten deutsche Truppen das Land, und schon bald wirkten sich die repressiven Maßnahmen der deutschen Verwaltung auch auf die bibliothekarische Praxis aus. In den Niederlanden, insbesondere in Amsterdam, hatte sich nach 1933 eine rege Exilpresse etabliert, und deren Schriften gerieten nun umgehend auf den Index. Aber auch für niederländische Titel, die den Führer, die nationalsozialistische Bewegung, den deutschen Staat oder die Wehrmacht verunglimpften, sowie sozialistische und kommunistische Schriften galt das Aussonderungsdekret. Zudem erhielt die Direktion Anweisung, alle jüdischen Angestellten der Bibliothek zu entlassen und Mitbürgern "mosaischen Glaubens" die Benutzung der OBA zu untersagen. Später wurden viele von ihnen deportiert und starben in den Konzentrationslagern.

Nach 1945

Nachdem Anfang Mai 1945 kanadische und britische Truppen die Stadt befreit hatten und das Leben sich wieder normalisierte, machte die OBA als erstes die sekretierten Werke wieder zugänglich. Englische und amerikanische Titel wurden jetzt in größerem Umfang nachgefragt, und die Ausleihzahlen stiegen kontinuierlich. Im Jahr 1948, das Bibliothekssystem verfügte nun neben der Zentrale über neun Zweigstellen, wurden rund 450.000 Bücher ausgeliehen. In den folgenden Jahren hat sich die Bibliothek besonders den Kindern und Jugendlichen zugewandt und spezielle Jugendbüchereien eingerichtet. Dem Lesebedürfnis der breiten Bevölkerung trug man dadurch Rechnung, dass man vom bislang gültigen Ansatz, den Benutzern vornehmlich literarisch anspruchsvolle und pädagogisch aufbauende Werke anzubieten, abrückte und der Ausweitung der Sektion Belletristik um seichte Unterhaltungsliteratur zustimmte. Mitte der 1960er Jahre war der Buchbestand in den 19 Bibliotheken der OBA auf rund 480.000 Bände angewachsen und die Zahl der Ausleihen auf über zwei Millionen angestiegen.

In dieser Zeit entwickelte sich in Amsterdam eine von den Hippies geprägte Jugendszene, für die die Stadt noch heute bekannt ist. Alternative Lebensstile wurden ausprobiert und ganze Stadtteile wandelten sich zu antibürgerlichen Milieus mit dem Ziel, das "magische Zentrum der Welt" zu werden. Diesem soziokulturellen Wandel suchte die Bibliotheksleitung mit einer Öffnung für möglichst alle Bevölkerungsgruppen entgegenzukommen. Die Zahl der Zweigstellen wurde vermehrt, um in jedem Stadtteil ein bürgernahes Angebot zu schaffen, Schallplatten ins Programm aufgenommen und das Buchangebot noch mehr um Populäres erweitert, um "von Konsalik bis Goethe" möglichst jedem Bürger etwas zu bieten. Das ehrgeizige Programm sprengte aber bald das Finanzbudget der Bibliothek, und 1972 sah sich die Direktion gezwungen, eine Leihgebühr einzuführen, was sich sofort negativ auf die Ausleihzahlen auswirkte. Entscheidend für den finanziellen Gestaltungsrahmen war schließlich das 1975 von der sozialdemokratischen Regierung in Den Haag verabschiedete Bibliotheksgesetz, das öffentliche Bibliotheken zu Einrichtungen der kulturellen Basisversorgung erklärte und entsprechende direkte Fördermaßnahmen vorsah. Dank der Gelder aus dem Staatsetat konnte nun in das Amsterdamer Bibliothekssystem kräftig investiert werden, in mehr Zweigstellen, mehr Medien und mehr Personal. Endlich erhielt auch die Zentrale einen geräumigen Neubau, der 1977 in der Prinsengracht eingeweiht wurde.

Aber schon zu Beginn der 1980er Jahre, als in den Niederlanden die wirtschaftliche Krise einsetzte, neigte sich diese kurze Blütezeit der OBA dem Ende zu, und Etatkürzungen führten zu einem Rückgang der Erwerbungen, zur Schließung von Zweigstellen und zur Entlassung von Personal. Selbst das Bibliotheksgesetz wurde 1987 von der Regierung in Teilen zurückgenommen, die Zuschüsse gekürzt und die Verantwortung schließlich den Gemeinden und Provinzen aufgetragen und ihnen auch die Fördergelder überwiesen. Seither müssen die öffentlichen Bibliotheken wieder mit anderen städtischen Einrichtungen um eine angemessene Finanzierung konkurrieren. Für die OBA bedeutete dies konkret die Schließung von sieben Zweigstellen. Dennoch nahm sich die Bibliothek neue Aufgaben vor: So wollte man der stetigen Zunahme fremdländischer Mitbürger Rechnung tragen, indem man die Büchereien nun auch mit Literaturangeboten für die größten Volksgruppen ausstattete, insbesondere für die türkisch und arabisch sprechende Bevölkerung. Es ist zugleich der hoffnungsvolle Versuch, der nicht mehr zu leugnenden Fremdenfeindlichkeit und religiösen Intoleranz mit Information und Aufklärung zu begegnen.

Das Neubauprojekt

Trotz mancher Rückschläge konnte sich die OBA 1994, im 75. Jahr ihres Bestehens, als von den Bürgern geschätzte und gut frequentierte Einrichtung präsentieren, die sogar spätabends und sonntags ihre Tore geöffnet hat. 1988 war die Automatisierung eingeführt und schon 1991 AdamNet, der Verbund von 25 wissenschaftlichen, öffentlichen und privaten Bibliotheken in Amsterdam, ins Leben gerufen worden. Die Sammlungen der OBA hatten 1994 die Zahl von 1,4 Millionen Medieneinheiten überstiegen, die Benutzern in der Zentrale und den 28 Zweigstellen zur Verfügung standen, wovon sie mit 5,3 Millionen Entleihungen regen Gebrauch machten.

Im Jubiläumsjahr gab es auch schon Planungen, die Zentrale der OBA erneut zu verlegen, diesmal in das von der Gemeinde als neues Wohn- und Kulturquartier ausgewiesene Hafenviertel, denn in der beengten historischen Altstadt mit ihren denkmalgeschützten Bauten ließ sich ein geräumiger, auf hohe Frequentierung abzielender Neubau nicht realisieren. Als die städtischen Planer das von Industriebauten geprägte Oosterdokseiland für eine urbane Neukonzeption vorsahen, brachte sich die OBA in das Projekt ein. Das südlich vom Bahndamm gelegene Areal, bis 2005 dominiert vom Sortierzentrum der niederländischen Post, wurde planiert und als multifunktionales Megaprojekt "Südliches Ijufer" ausgewiesen. Neben der Bibliothekszentrale sollen dort ein Konservatorium, ein Hotel- und Kongresszentrum, Büros, Geschäfte und Wohnungen sowie eine große Parkgarage entstehen.

Der Architekt Jo Coenen (*1949) erhielt die Aufgabe übertragen, die Bibliothek in die langgestreckte Reihe der Neubauten mit gleicher Traufhöhe einzugliedern und sie zugleich als Solitär zu gestalten. Auf dem rechteckigen Baugrundstück gelang ihm dies mit einem Baukörper, der gleichsam als Rahmen den eigentlichen zehngeschossigen Nutzungsbereich umgibt (Gesamtkosten rund 76 Millionen Euro). Zum Hafen bietet der außen mit hellen Platten verkleidete Bau eine Freifläche, die von einem trapezförmigen Dachelement überwölbt ist und ein wenig wie ein offener Platz wirkt, was den einladenden Charakter der Bibliothek betont. Der Besucher wird über breite Treppen zu der von zwei Säulen flankierten Drehtür des breit verglasten Eingangsbereichs geleitet. Über einen Vorraum und weitere Treppen gelangt man durch die Buchsicherungsanlage zur Informationstheke, und von dort weitet sich der Blick durch die Eingangshalle und die Lesesaalgeschosse. Der sich seitlich über alle Stockwerke erstreckende Lichtschacht und der zentrale Freiraum auf den unteren Geschossen sowie der in gebrochenem Weißton gehaltene Anstrich verstärken den Eindruck von Helligkeit und räumlicher Großzügigkeit.

Die Nutzflächen

Die enorme Gesamtnutzfläche von 28.000 qm hat der Architekt auf zehn Geschosse aufgeteilt. Die etwa dreißig Meter hohe Eingangshalle - sie liegt ca. 2,30 Meter über dem Straßenniveau - wird von den Rolltreppen dominiert. Linkerhand davon befindet sich die auf 1,70 Meter unter Straßenniveau abgesenkte Kinder- und Jugendabteilung, die mannigfaltige Sitz- und Liegegelegenheiten bietet und halbkreisförmig aufgestellte Regale, um ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Darüber schwebt ein aus weißen Stäben und Ballonkörpern geformtes Kunstgebilde. Zur Abteilung gehört ein kleiner Gruppenraum sowie das mit 40 Plätzen ausgestattete Kindertheater, das nach der holländischen Kinderbuchautorin Annie M. G. Schmidt benannt wurde. Auf der Balustrade oberhalb dieser Sektion sind die laufend gehaltenen Zeitschriften und Zeitungen ausgelegt, und um die zentrale Freizone mit ihrem geschwungenem Geländer wurden Leseplätze eingerichtet. Auf der rückwärtigen Gebäudeseite befindet sich ein Café mit Blick auf den vielbefahrenen Bahndamm.

Das Geschoss darüber belegt die Multimedia-Abteilung. Präsentiert werden die AV-Materialien in langen, aus weißem Holz gefertigten Wandreihen, die halbkreisförmig angeordnet sind. Besucher können sich die Medien in den nebenstehenden Sitzmöbeln anschauen, dicken weißen kugelartigen Körpern, sogenannten "rolling stones". Die folgenden vier Geschosse, auf denen die Bücherkollektionen und andere Bibliotheksmaterialien (z. B. Noten und Karten) dargeboten werden, sind nach dem gleichen Schema gestaltet: Auf den seitlichen Flächen wurden Regale platziert und dazwischen schmale Tische und Stühle, und im Zentrum findet man die Auskunft und eine Selbstverbuchungsstation. Auf diesen Geschossen sind zudem Sonderbereiche ausgewiesen, z. B. eine Amsterdam-, Jazz- und Indien-Sammlung sowie das Schwulen/Lesben-Dukumentationszentrum (Amsterdam hat eine große Gay-Community). Auf dem obersten Stockwerk befindet sich ein Restaurant mit breiter Freiterrasse - der höchste Aussichtspunkt der Stadt -, die Besuchern einen herrlichen Ausblick auf den Hafen und die historische Grachtenstadt bietet.

Im gesamten Gebäude hat man rund 1.000 Sitzplätze verteilt, von denen etwa 600 mit Bildschirmen und Internetzugang ausgestattet sind. Für die Katalogabfrage stehen weitere 110 Terminals zur Verfügung. Alle der ca. 700.000 im Gebäude zugänglichen Medien (im Gesamtsystem ca. 1,7 Millionen ME) sind mit RFID ausgestattet, so dass sich an acht Stationen eine automatische Selbstausleihe vornehmen lässt und die Rückgabe an einem Automaten im Erdgeschoss erfolgen kann, der sogleich für den Rücktransport der Medien auf die richtige Etage sorgt. Für das Kopieren und Drucken wurden elf Selbstbedienungsbereiche ausgewiesen, für Tagungen stehen vier Räume (für 25 bis 75 Teilnehmer) zur Verfügung, und das Theater bietet 270 Sitzplätze. Und selbstverständlich wurde auf eine günstige Energiebilanz Wert gelegt: Eine Wärmepumpe versorgt die sanitären Bereiche mit warmem Wasser und speist im Winter die Heizung und im Sommer die Kühlanlage. Über Sonnenkollektoren auf dem Dach erfolgt eine weitere Energiezufuhr.

In der Zentrale sind etwa 200 MitarbeiterInnen tätig (die Büros befinden sich vornehmlich auf den oberen Etagen). Das an den Auskunftstellen eingesetzte Personal erhielt als Dienstkleidung variationsreiche dunkelblaue Uniformen mit dem roten Schriftzug der Bibliothek. Den Besuchern steht das Haus an sieben Tagen in der Woche offen, jeweils von 10 bis 22 Uhr. Mit ihren 84 Wochenstunden ist die Zentrale länger geöffnet als jedes Geschäft in Amsterdam. Eine breite Öffentlichkeit und insbesondere ein junges Publikum will man mit einer Vielzahl von Veranstaltungen als neue Benutzer gewinnen. Bibliotheksdirektor Hans von Velzen äußert sich zuversichtlich, dass der verkehrsgünstig gelegene Neubau, von den Planern als "Erlebnisbibliothek" konzipiert, mehr als zwei Millionen Besucher pro Jahr anziehen wird, doppelt so viele wie im Altbau an der Prinsengracht.


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Dr. Gernot Gabel

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