Buch - Markt - Theorie: Kommunikations- und medienwissenschaftliche Perspektiven. Erdmann Weyrauch gewidmet

Hrsg. Thomas Keiderling; Arnulf Kutsch; Rüdiger Steinmetz


- Erlangen: filos, 2007. 206 S.
ISBN 3-938498-11-0, € 14,80

Der 2006 erschienene ausführliche Bericht zum "Kolloquium 10 Jahre Leipziger Buchwissenschaft"1 war dem zehnjährigen Jubiläum der Professur für Buchwissenschaft und Buchwirtschaft an der Universität Leipzig gewidmet, zugleich als Gedenkschrift für den 2004 viel zu früh verstorbenen ersten Inhaber dieser Professur, Dietrich Kerlen, gedacht.

Nun folgt ein Jahr später eine Zwischenbilanz 12-jähriger Forschungs- und Lehrtätigkeit dieses Instituts in Form einer losen Sammlung buchwissenschaftlicher Arbeiten von Mitarbeitern und Absolventen, zugleich als Hommage an Erdmann Weyrauch gedacht, der sich während der Zeit des Interregnums nach dem Tod von Dietrich Kerlen und der Neubesetzung der Professur mit Siegfried Lokatis 2007 bedeutende Verdienste um die Buchwissenschaft in Leipzig erworben hat2.

Die neun Arbeiten, eine Mixtur historischer und zukunftsorientierter Forschung werden in fünf Themenbereiche eingeordnet und durch ein Geleitwort von Gerhard Kurtze und Klaus G. Saur, eine Einleitung der Herausgeber, ein Register und ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ergänzt.

Themenbereich 1 beschäftigt sich in zwei Beiträgen mit der Akademisierung und Professionalisierung an den Beispielen von Universität und Buchhandel. Die Antrittsvorlesung von Dietrich Kerlen Das Buch als Medium akademischer Professionalisierung in Deutschland. Vermessung eines Sonderweges aus dem Jahr 1997 handelt von dem veränderten Gebrauch des Buches an deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts und zeigt, dass anstelle der mündlichen Überlieferung von Wissen das Bücherstudium in das Zentrum der universitären Ausbildung rückt. Alexandra Fritsch befasst sich in Leipzig - die Stadt der Wissenschaftsverlage um 1900 mit der herausragenden Bedeutung wissenschaftlicher Verleger am Beispiel der Universitäts- und Buchstadt Leipzig3.

Themenbereich 2 Leser- und Rezeptionsforschung zeigt in drei Beiträgen die Spannweite eines bedeutenden Forschungsschwerpunktes des Leipziger Institutes. Arnulf Kutsch und Nadja Töpp rekonstruieren in dem umfangreichsten Beitrag dieses Sammelbandes (Die Faktoren der Lektüre. Zur empirischen Leserforschung von Walter Hofmann) die empirische Leserforschung von Walter Hofmann (1879-1952) und sein Leipziger Institut für Leser- und Schrifttumskunde (1926-1937). Es ist die umfassendste und wohl auch bedeutendste Wortmeldung zu diesem Thema, und sie geht erfreulicherweise von einem kommunikationswissenschaftlichen Ansatz aus.4 Wendy Kerstan untersucht in Verrissen und trotzdem verkauft? den Einfluss der Literaturkritik auf den Absatz. Patricia F. Zeckert beschäftigt sich in Ein alter Unbekannter mit dem Phänomen des ungelesenen Buches und seinen Dimensionen und Wirkfaktoren - mit überraschenden Erkenntnissen5.

Im Themenbereich 3 Medienkontrolle untersucht Siegfried Lokatis die Aufgeklärte Zensur in Rom und Paris, ein interessanter komparatistischer Ansatz, die Kirchenzensur des Vatikans mit der weltlichen Zensur Frankreich strukturell zu vergleichen.

Themenbereich 4 Medienwandel und Themenbereich 5 Wissenschaftstheorie behandeln wichtige Aufgabenbereiche der Buchwissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Volker Titel fragt in Chance und Gefahr? mit dem Untertitel Perspektiven der Digitalisierung der Buchbranche nach den Konsequenzen für das Buch in der Informationsgesellschaft und stellt abschließend fest: "Medientheoretisch wie unmittelbar branchenbezogen ist also kein Ende des Buches in Sicht." (S. 223) Rüdiger Steinmetz geht weit über die Digitalisierung hinaus und untersucht mögliche Schritte Vom Lesen übers Broadcasten zum Podcasten und mobilen Fernsehen mit dem Untertitel Der Weg zurück zur individuellen Kommunikation in Zeiten des allgegenwärtigen Netzes? sehr ausgewogen. Thomas Keiderling fragt Wie viel Systemtheorie braucht die Buchwissenschaft? und untersucht das Theoriegerüst der Buchwissenschaft von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Anwendung der modernen Systemtheorie seit den 1990er Jahren: "Aus dem Angebot relevanter Theorien und Modelle ragt die Systemtheorie sehr positiv heraus. Sie besitzt einen hohen Abstraktionsgrad und kann universell auf die Buchwissenschaft angewendet werden." (S. 253)

"Diese Mischung widerspiegelt das Forschungsprofil und den Leistungsstand des Leipziger Instituts ebenso wie die erfolgreiche Kooperation mit außenstehenden Fachleuten." (Zum Geleit, S. 8). Dieses Profil ist nach Dietrich Kerlen "Buchökonomie, Buchgeschichte und Buchtheorie" (S. 252).

Einen herzlichen Dank den Vertretern der Buchwissenschaft am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig für Buch-Stätte und Buch - Markt - Theorie. Beides sind wichtige Veröffentlichungen zur Buchwissenschaft in Deutschland und für Buch- und Bibliothekswissenschaftler eine unentbehrliche Lektüre.


Anmerkungen

1. Buch-Stätte: Geschichte und Perspektiven der Leipziger Buchwissenschaft / Hrsg. Thomas Keiderling; Erdmann Weyrauch. Erlangen, 2006. 301 S. - vgl. Rez. in B.I.T.online 9 (2006) 3, S. 271-272.

2. Seine Gedanken finden sich u.a. in Buch-Stätte: Geschichte und Perspektiven der Leipziger Buchwissenschaft. Erlangen, 2006. S. 169-180, sowie im vorliegenden Band im Geleitwort S. 8-9.

3. Auf die Zeit um 1900 gehen auch mehrere Beiträge einer soeben erschienenen Publikation ein: Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung / Hrsg. Monika Estermann; Ute Schneider. Wiesbaden, 2007. 204 S.

4. Leider finden sich hier einige Flüchtigkeitsfehler: Das 80-jährige Jubiläum des Instituts für Leser- und Schrifttumskunde hätte 2006 keinen Nachhall gefunden (S. 64). Das ist insofern unrichtig, weil es im Rahmen des einhundertjährigen Jubiläums der Eröffnung der Freien öffentlichen Bibliothek Dresden-Plauen (im gleichen Jahr!) umfassende Würdigungen gab (vgl. Stadttore zur Medienwelt. Geschichte der Dresdner Bürgerbibliotheken. Altenburg, 2006. S. 93-111). Diese schlossen das Leipziger Institut ein. - Die auf deutsche Bibliotheken projizierte Anwendung der DDC (S. 101) ist falsch (vgl. dazu u.a. Roloff, Heinrich: Lehrbuch der Sachkatalogisierung, 4. Aufl. Leipzig, 1975. S. 119-125), sie wurde von Melvil Dewey zur einheitlichen Organisation amerikanischer Public Libraries entwickelt und in Europa als UDK weiterentwickelt (vgl. Lexikon des Bibliothekswesens, 2. Aufl. Bd. 1. Leipzig, 1974, Sp. 452.) - Im Register ist der Name Heinrich Becker (Hinweise auf die Seiten 89 und 93) verzeichnet. Auf S. 89 handelt es sich um den Preußischen Staatsminister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Auf S. 93 ist von dem Bibliothekar gleichen Namens die Rede, der für die Leserforschung von großer Bedeutung ist (vgl. Heinrich Becker: Zwischen Wahn und Wahrheit, Autobiographie, Berlin, 1972, S. 218-239), interessanterweise ging dieser 1929 in das o.g. Ministerium und arbeitete noch wenige Monate als Ministerialrat unter seinem Namensvetter.

5. Eine ganz andere Seite dieses Themas wird in einer geistreichen und klugen Provokation eines französischen Literaturprofessors und Psychoanalytikers abgehandelt: Bayard, Pierre: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, München, 2007, 220 S. - vgl. Rez. in: B.I.T.online 10 (2007) 4, S. 387-388.


Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
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