Neues aus Großbritannien

Bodleian Library Oxford, anno 1912

von Alice Keller

Nachdem ich nun zwei Artikel über Großbritannien in B.I.T.online veröffentlicht habe, ist es an der Zeit, dass ich die eigene Bibliothek vorstelle. Hier beginnt allerdings schon das Problem, denn was ist die "eigene Bibliothek"? Mein Büro befindet sich zwar in der Bodleian Library, aber mein Verantwortungsbereich erstreckt sich über alle 30+ Bibliotheken der Oxford University Library Services (OULS). Wer allerdings meint, dass OULS alle Bibliotheken in Oxford umfasst, irrt. Denn außerhalb dieses Bibliotheksnetzes gibt es knapp vierzig College Libraries, die zwar eng mit der Universität zusammenarbeiten, aber selbständig finanziert und verwaltet werden. Und wie überall, gibt es auch an der Universität selbst weitere Bibliotheken, denen es gelungen ist, sich der zentralen Verwaltung zu entziehen und selbständig zu bleiben.

Wenn man an einem Winterabend durch die Straßen von Oxford geht, so scheint es fast, dass sich hinter jedem Fenster Bücher und Bibliotheken verbergen. Auf der Website der Universität sind 120 Bibliotheken aufgelistet. Und kaum werden zwei aus strategischen Gründen zu einer größeren Einheit zusammengelegt, entsteht ein neues Institut oder College mit Anspruch auf eine eigene Bibliothek.

Die größte und bedeutendste aller Oxforder Bibliotheken ist die Bodleian Library, die 1602 von Sir Thomas Bodley gegründet wurde. Bodleys Verhandlungen mit der Stationers' Company in London (1610) legten den Grundstein für das bis heute andauernde Pflichtexemplarrecht der Universität Oxford. Heute gehört die Bodleian Library zusammen mit ca. 30 anderen Bibliotheken zu den Oxford University Library Services (OULS), die zentral verwaltet werden und in denen gemeinsam 12 Mio. Bände lagern.

Für diesen Artikel möchte ich auf ein Stück jüngere Geschichte zurückgreifen, und zwar auf die Tradition der Bodleian Staff-Kalendar, oder später Staff Manual. (B.I.T.online hat zwar keinen historischen Fokus, aber das Thema ist so faszinierend, dass ich es den Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten möchte.)

Der Kalender erschien jährlich ab 1902 und wurde Anfang des Jahres an alle Bibliotheksmitarbeiter und -mitarbeiterinnen (sofern vorhanden) verteilt. Die Büchlein bieten einen einzigartigen Einblick in die Bibliotheksarbeit der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Meine Ausführungen hier basieren auf dem Bodleian Staff-Kalendar 1912 (Abb. 1).

Die Reihe wurde 1902 vom damaligen Direktor E. W. B. Nicholson (1849-1912) gegründet. Die Encyclopedia of Library and Information Science beschreibt ihn zwar wohlwollend, allerdings als Autokraten: "Nicholson held firm ideas on librarianship and ignored all opposition." Als er im Jahr 1882 zum Bodley's Librarian ernannt wurde, war die Bibliothek in mancher Hinsicht verbesserungswürdig. Bücher lagen verstreut in den Lesesälen, viele nicht am richtigen Ort, manche nicht richtig katalogisiert. Das Budget war völlig unzureichend; nur drei Mitarbeiter galten als "professional librarians". Um auf kostengünstige Art und möglichst schnell Verbesserungen zu erwirken, rief Nicholson eine neue Mitarbeiterkategorie ins Leben: die "Bodley Boys". Sie wurden im Stundenlohn entlohnt und wieder entlassen, falls das Geld nicht reichte.

Es erstaunt nicht, dass manche Mitarbeiter gegenüber diesem neuem Projekt skeptisch eingestellt waren: man fürchtete unter anderem Diebstahl und Ungezogenheit. Allerdings setzte sich Nicholson sehr für seine "Bodley Boys" ein und unterrichtete sie persönlich in Latein und Griechisch. Der Staff-Kalendar zeigt, mit welchem Detailbewusstsein Nicholson die "Bodley Boys" einwies.

Besonderer Handlungsbedarf bestand beim Bibliothekskatalog, der sich mittlerweile über 741 Bände erstreckte und aus handgeschriebenen Zetteln bestand. Ordnungswörter waren auf Lateinisch erfasst, wobei I und U mit J und V zusammengelegt waren. Die Revision dieses pre-1920 Katalogs war ein Mammutprojekt, das wirklich erst nach dem Tod von Nicholson angegangen wurde und schließlich fünfzig Jahre in Anspruch nahm. Eine ähnlich große Herausforderung stellte der Sachkatalog dar. Hier entwickelte Nicholson selbst eine Dezimalklassifikation mit über 7000 Notationen. Noch heute spricht man von den Nicholson-Signaturen, die bis 1988 weitergeführt wurden.

Hier enden meine Ausführungen zum faszinierenden Leben und Wirken von Nicholson, denn Seite 491 der Encyclopedia of Library and Information Science (Volume 19) ist leider nicht in Google Book Search enthalten. (Wieso nicht, wenn alle andern Seiten da sind? Aber stimmt, Google Book Search hat ja eine 3%-ige Fehlerquote, d.h. von hundert Seiten fehlen offenbar drei).

Allerdings bietet dieser vorzeitige Abbruch eine gute Gelegenheit zum Staff-Kalendar überzugehen und Nicholsons Lebenswerk genauer anzusehen.

Der Staff-Kalendar aus dem Jahr 1912 ist zwar vom Format her sehr klein (7x11 cm), dafür umso dicker (ca. 400 Seiten). Der Staff-Kalendar beginnt an beiden Enden: von Vorne als Kalender mit detaillierten Anweisungen für jeden Tag des Jahres. Von hinten beginnt das Supplement, das auf 221 Seiten Regeln und minutiöse Einweisungen in die Bibliotheksarbeit enthält. Mein Exemplar gehörte dem damaligen Bodleian Janitor (Hausmeister), H. Miller, der den Kalender u.a. dazu nutzte, wichtige Ereignisse zu notieren. Seine handschriftlichen Notizen beziehen sich vor allem auf Regenfälle und die daraus resultierenden Wassereinbrüche in den Damen- und Herrentoiletten - offensichtlich bereits vor hundert Jahren eines der Hauptprobleme der Bibliothek!

Von viel größerer Tragweite war H. Millers Eintrag vom Sonntag, 17. März: "E. W. Byron Nicholson M.A., Bodley's Librarian Died, Aged 63".Wie das Vorwort zum Kalender zeigt, war Nicholson bereits während der Vorbereitung der Ausgabe von 1912 schwer krank. Allerdings zeigen die nachfolgenden Aufzeichnungen, dass er absolut nichts dem Zufall überlassen hatte.

Der Kalender informiert alle Mitarbeiter genau, was an welchem Tag, und von wem gemacht werden muss. Die Unterlagen weisen darauf hin, dass zwischen 30 und 40 Mitarbeiter an der Bodleian Library (inkl. Camera) arbeiteten. Als einzige Mitarbeiterin wird eine Miss Underhill aufgeführt. Zusätzlich findet sich ein Hinweis auf Extra Staff, die mit der Katalogrevision betraut waren.

Nachfolgend eine Auflistung der Aufgaben für Dienstag, den 11. Juni 1912:

Kehrt man das Büchlein um, so beginnt von hinten das Supplement to the Staff-Kalendar. Hier werden die allgemeinen Regeln und Richtlinien im Detail festgehalten.

Das Supplement beginnt mit der Festlegung des Tagesablaufes, der morgens früh um 6 Uhr mit der Feuerung der Heizöfen beginnt und nachts um 22 Uhr mit dem Lichterlöschen endet (Abb. 2). Anschließend werden die Arbeitszeiten aller Mitarbeiter aufgelistet, wobei die des Bodley's Librarian nie vor 10.30 Uhr beginnt.

Von besonderem Interesse sind die Anweisungen an die "Bodley Boys". Diese haben sich an besonders strenge Regeln zu halten. Sie sollen in den Lesesälen leise treten (nicht auf den Absätzen) und in den Gängen und auf den Treppen nicht im Laufschritt gehen. Ihre Arbeitsplätze müssen ordentlich gehalten werden, ihre Handschrift muss gepflegt sein. Falls sie befördert werden möchten, müssen sie sich einer Latein- oder/und Französischprüfung beim Bodley's Librarian unterziehen.

Allerdings kümmerte sich Nicholson auch um ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen. So werden sie aufgefordert, trockene Reservestiefel und Socken in der Bibliothek aufzubewahren, für den Fall, dass ihre Stiefel auf dem Arbeitsweg nass werden. Falls sie erkältet sind, wird ihnen eine Arbeit außerhalb der Zugluft zugewiesen. Und schließlich werden sie gewarnt, nie bei schlechtem Licht zu lesen.

Es folgen die Arbeitsplatzbeschreibungen der anderen Mitarbeiter, die vor allem für die Katalogisierung, Klassifikation und Korrespondenz verantwortlich sind. Klar differenziert wird zwischen den gewöhnlichen (ordinary) Aufgaben und den Sonderaufgaben für 1912 (special for 1912).

Danach widmet sich Nicholson den allgemeinen Regeln: Warnungen gegen Spielsucht, Richtlinien für Frischluftzufuhr und Temperaturkontrolle in den Lesesälen (wie weit darf ein Fenster offen stehen), Regeln für das Stempeln von Büchern, für die Folierung von Manuskripten, und schließlich das Regelwerk für das Katalogisieren von gedruckten Büchern.

Das Kapitel Library-handwriting fand ich besonders anregend. Die zulässige Handschrift wird auf einem Faltblatt gezeigt. Der Übungssatz lautet "The judge spoke most finely, but with very quixotic zeal", wobei hier das höchst ungewöhnliche Wort quixotic (von Don Quixote) offensichtlich die selteneren Buchstaben abdecken musste. Der Kalendar enthält auch Tipps für die Handhabung der schwierigeren Buchstaben: "G wird gewöhnlich als umständlicher Buchstabe geschrieben, der Schwanz ist oft sehr schwerfällig und weitschweifig geformt." Bodley's Librarian empfiehlt einen kurzen Schwanz, womit auch Zeit gespart werden kann. Da die Bodleian Library ihre erste Schreibmaschine erst im Jahr 1919 erwarb, war eine gute und rationelle Handschrift zweifelsohne von höchster Bedeutung für die Qualität des Kataloges.

Schließlich wird das beinahe längste Kapitel dem Brandschutz gewidmet. Dieses Thema bleibt bis heute für eine Bibliothek von größter Bedeutung. Noch heute verspricht jeder Benutzer im Bodleian Eid kein Feuer in die Bibliothek zu tragen oder darin zu entfachen: "I hereby undertake ? not to bring into the Library, or kindle therein, any fire or flame, and not to smoke in the Library." Und wer es lieber auf Lateinisch hört: "item neque ignem nec flammam in bibliothecam inlaturum vel in ea accensurum, neque fumo nicotiano aliove quovis ibi usurum".

Hiermit genug zur Geschichte des Bibliothekswesens. In der nächsten Ausgabe werde ich mich wieder moderneren Themen zuwenden.


Literatur

Encyclopedia of Library and Information Science, by Allen Kent, et al. CRC Press, 2000.

History of the Bodleian Library, 1845-1945, by Sir Edmund Craster. Oxford : Clarendon Press, 1952.


Autorin

Dr. Alice Keller
OULS Head of Collection Management
Bodleian Library
Broad Street
Oxford OX1 3BG
alice.keller@ouls.ox.ac.uk