Jochum, Uwe: Kleine Bibliotheksgeschichte

3., verbesserte und erweiterte Aufl.


- Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2007. 280 S.
(Reclams Universal-Bibliothek; 17667)
ISBN 978-3-15-017667-2. € 6,80

Drei Auflagen in 14 Jahren, das mutet wie ein Märchen an. Ein Buch zur Bibliotheksgeschichte ist kein „Renner“. Das Lehrgebiet ist in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft kein strukturbestimmendes Fach und auch kaum über diese Disziplin hinaus „lehrfähig“. Allerdings hat schon 1984 eine Veröffentlichung zur deutschen Bibliotheksgeschichte für die Belange der Literaturwissenschaft gezeigt, dass es auch Begehrlichkeiten Anderer gibt1.

Verleger von Jochums Bibliotheksgeschichte ist der 1828 gegründete Verlag Philipp Reclam jun., ein Verlag, der in Deutschland durch seine „Universal-Bibliothek“ in allen Haushalten bekannt ist. Hier erschien auch ein inzwischen weit verbreitetes Sachlexikon des Buches2. Im Gegensatz zu bibliotheks- und buchwissenschaftlichen Verlagen hat der Reclam Verlag umfassendere Möglichkeiten zur Werbung, die eher fachbezogene Werbung wird durch eine nahezu „grenzenlose Werbung“ im Rahmen der Gesamtproduktion des Verlages erweitert. Das erklärt die größere Auflage und den niedrigen Preis und sicher auch die Verbreitung über das Bibliothekswesen hinaus.

Das Credo des Verfassers: Entgegenwirken der abendländischen Vergessenheit der Schrift, die mit einer Vergessenheit der Bibliothek korrespondiert, „von der man seit Leibniz und Schopenhauer zwar achtungsvoll als dem ‚Gedächtnis der Menschheit‘ spricht, um sich jedoch um eben dies Gedächtnis nicht sonderlich zu kümmern.“ (S. 7) Jochum führt einen Kampf gegen das marginale Wahrnehmen der Bibliotheken. Über Jubiläen, Gebäude und Ausstellungen wird gern berichtet, da befinden sich Bibliothekare und Journalisten auf der Sonnenseite. Auch schlimmste Katastrophen wie der Großbrand im historischen Gebäude der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar 20043 rufen zeitweise die Gesellschaft auf den Plan: Der Bund, das Land Thüringen, zahlreiche Einzelpersonen, Stiftungen und Unternehmen gaben Geld für die Wiederbeschaffung oder Restaurierung von Büchern und für den Wiederaufbau des Gebäudes. Im vergangenen Jahr wurde das zum Weltkulturerbe der UNESCO zählende Gebäude durch den Bundespräsidenten feierlich wiedereröffnet. Die beste Rede, die je ein deutsches Staatsoberhaupt über Bibliotheken und Bibliothekare gehalten hat (Thema: Ein Freudentag für die Kulturnation), könnte Wirkung zeigen, aber die Vergessenheit der Bibliothek als Institution wird bleiben, und dringend benötigtes Geld wird auch nicht fließen.

Das Ziel des Verfassers: Eine Darstellung der Geschichte der Bibliotheken ohne „der Schimäre einer Universalgeschichte nachzujagen.“ (S. 9) So folgt den universalen Ausführungen eine allmähliche „Verengung des Blickwinkels, der sich ab dem Mittelalter auf Deutschland richtet.“ (S. 9)

Die „Kleine Bibliotheksgeschichte“ ist ein bescheidener Titel für ein großes Werk. Sie umfasst, chronologisch geordnet, 14 Kapitel: Der Alte Orient – Das Alte Ägypten – Die Ptolemäerzeit – Griechische und römische Bibliotheken – Christentum und frühes Mittelalter – Hoch- und Spätmittelalter – Humanismus und Reformation – Barock und Aufklärung – Von der Säkularisierung der Klosterbibliotheken zur Professionalisierung des Berufsstandes – Abschied von der Universalbibliothek – Die öffentlichen Bibliotheken – Bibliotheken im Nationalsozialismus – Die Bibliotheken auf dem Weg ins Informationszeitalter – Hybride Bibliotheken.

Ein umfangreicher Anmerkungsapparat mit Kommentaren des Autors, Zitaten, einem Literaturverzeichnis (mit 28 Seiten immerhin 10% des Gesamtumfangs) und einem Register begleiten und erschließen den Text.

Ein kompetenter Autor hat das Gebiet der Bibliotheksgeschichte ausgewogen und fundiert als wichtigen Teil der Kulturgeschichte beschrieben. Klein in Format und Preis, groß in Überblick und Anspruch, sollte die Veröffentlichung in der bibliothekarischen Ausbildung als Lehrbuch genutzt werden und bei Geisteswissenschaftlern und Bücherfreunden eine weite Verbreitung erfahren.

Für dieses vorzügliche kompakte, mit Informationen vollgepackte Buch sind Anregungen kaum möglich. Dennoch zwei kleine Hinweise:

  1. Die Bibliotheken haben eine rasante Entwicklung erfahren. Deshalb hat der Autor die Anregung des Verlages zur Fortschreibung seiner Bibliotheksgeschichte dankbar aufgegriffen und versucht, „aus der Fülle der neuen Fakten und neuen Entwicklungen in einem neuen Kapitel das herauszuarbeiten, was als strukturelle Veränderung erkennbar ist.“ (S. 9) Dieses großartig geschriebene, aber gar nicht mehr historische Kapitel, umfasst immerhin 36 Seiten, das sind 13% des Gesamtumfangs. Vielleicht könnte in Reclams Universal-Bibliothek eine Abhandlung über die Bibliotheken im 21. Jahrhundert erscheinen4, Uwe Jochum ist prädestiniert für ein solches Vorhaben.
  2. Die faszinierende Entwicklung der Spezialbibliotheken in Universitäten, Akademien, Forschungseinrichtungen und Firmen und ihr bleibender Einfluss auf die Information und Dokumentation und die wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklung sollten in einer Neuauflage eine entsprechende Würdigung erfahren5.


Anmerkungen

1. Schmitz, Wolfgang: Deutsche Bibliotheksgeschichte. Bern; Frankfurt am Main; New York, 1984. 257 S. (Germanistische Lehrbuchsammlung; 52)

2. Reclams Sachlexikon des Buches / Hrsg. von Ursula Rautenberg. 2., verb. Aufl. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2003. 590 S. (vgl. Rez. in B.I.T.online 7 (2004) 1, S. 80-81)

3. Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek: nach dem Brand in neuem Glanz / Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Walther Grunwald; Michael Knoche; Hellmut Seemann; mit Fotografien von Manfred Hamm. Berlin, 2007. 182 S. (vgl. Rez. in B.I.T.online 11 (2008) 1, S. 109)

4. vielleicht in Analogie zu: Plassmann, Engelbert: Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland: eine Einführung / Engelbert Plassmann; Hermann Rösch; Jürgen Seefeldt; Konrad Umlauf. Wiesbaden, 2006. X, 333 S. (vgl. Rez. in B.I.T.online 9 (2006) 4, S. 371-372)

5. als Beispiele für eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Bibliothekstyps seien nur genannt: Technische und naturwissenschaftliche Bibliotheken in ihrer historischen Entwicklung und Bedeutung für die Forschung / Hrsg. Paul Kaegbein. Wiesbaden, 1997. 207 S. – Fachschrifttum, Bibliothek und Naturwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert / Hrsg. Christoph Meinel. Wiesbaden, 1997. 212 S. – Contributed papers on the theme „Libraries and the history of technology“. In: IATUL quarterly 1 (1987) 3, S. 144-224.


Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
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