Zum Thema Lesen III


Griese, Rainer: Lesen. Ohne Worte
- Hildesheim: Gerstenberg Verl., 2008. 224 S. ISBN 978-3-83692971-4. € 15,90
Bollmann, Stefan: Warum Lesen glücklich macht
- München: Elisabeth Sandmann Verl., 2007. 152 S. ISBN 978-3-938045-25-1. € 16,90
Unwürdige Lektüren: Was Autoren heimlich lesen
Mit einem Vorwort von Thomas Glavinic; hrsg. von Thomas Keul
- München: SchirmerGraf, 2008. 232 S. ISBN 978-3-86555-053-8. € 17,80
Weidermann, Volker: Das Buch der verbrannten Bücher.3. Aufl.
- Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. 253 S. ISBN 3-462-03962-7. € 18,95

Der zweiten kleinen Auswahl Zum Thema Lesen1 folgt eine dritte, mit vier Büchern, die sich wieder auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Lesen auseinandersetzen.

Das kleine quadratische Büchlein (Format 15x15 cm) von Rainer Griese: Lesen. Ohne Worte ist ein außergewöhnliches Buch zum Thema Lesen. Gestaltet von dem mehrfach ausgezeichneten Fotografen Rainer Griese, versammelt es Leser-Bilder, die in überraschende Umgebungen gesetzt oder mit den Mitteln der Fotomontage verfremdet werden. Diese Leser-Bilder sind Skulpturen (von der Nippesfigur bis zur Meißener Porzellanfigur), Gemälde, Stiche und Fotografien von Lesenden. Griese hat Einzelfiguren komponiert und kleine Serien geschaffen. Das Ergebnis ist eine Sammlung von lustigen Kompositionen, die zum Schmunzeln anregen, und das ganz ohne Worte. Die Leserfiguren entstammen u. a. den Sammlungen von Rainer Hilf und Wolfgang Steigner. Ein großes Vergnügen für Bücherfreunde und ein schönes Geschenk!

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Ein großes Vergnügen für Bücherfreunde ist auch Stefan Bollmann: Warum Lesen glücklich macht. Der Autor hat uns schon mit zwei ähnlichen Büchern beglückt: Frauen, die lesen, sind gefährlich und Frauen, die schreiben, leben gefährlich2.

Im ersten führen Elke Heidenreich und Stefan Bollmann lehrreich und amüsant durch die weibliche Leselust. Der Band vereint eine eindrucksvolle Auswahl berühmter und weniger bekannter Werke von Malern, Zeichnern und Fotografen aus acht Jahrhunderten. Das Buch beginnt mit einem, leider viel zu kurzen, Essay von Elke Heidenreich über die Geschichte des weiblichen Lesens, gespickt mit kleinen bösen Bemerkungen und herrlichen Zitaten. Das ganze Buch ist eine Orgie: „Die einzige Art, das Dasein zu ertragen, besteht darin, sich an der Literatur wie in einer ewigen Orgie zu berauschen.“ Nach diesem Satz aus einem Brief Flauberts von 1858 nannte Mario Vargas Llosa sein Buch über Madame Bovary „Die ewige Orgie“. Elke Heidenreich kommentiert: „Wenn man das Wort Orgie nicht nur im Sinne von etwas hemmungslos Ausschweifendem versteht, sondern ganz ursprünglich: als heilige Handlung und geheimen Gottesdienst.“

Im zweiten Buch beschäftigen sich Heidenreich und Bollmann mit der Literaturgeschichte als Teil der Frauenemanzipation und führen ebenso lehrreich und amüsant durch über 250 Jahre Leidensgeschichten schreibender Frauen. Das Buch beginnt ebenfalls mit einem Vorwort von Elke Heidenreich, deren Gedanken Stefan Bollmann weiterführt. Er stellt zahlreiche Frauen vor, die sich der schreibenden Zunft gewidmet haben. Ein Buch mit einem klugen anrührenden Vorwort, großartigen Essays, wunderbaren Porträtbildern und vorzüglicher Gestaltung. Nun ist, im gleichen Verlag, Bollmanns dritte Veröffentlichung zum Thema Lesen erschienen, ein reich bebildertes, angenehm lesbares, unterhaltsames und geschmackvoll ediertes Buch mit wunderbaren Bildern. Der Autor behandelt in vier Kapiteln viele Aspekte zum Thema Lesen – die Herkunft des Lesens, „schicksalhafte Begegnungen mit einem Buch, die das Leben des Lesers nachhaltig verändern“ (S. 58), die Lesegewohnheiten im Laufe der Jahrhunderte einschließlich der Änderungen in der Arbeit der Buchhändler und Bibliothekare, das Leseverhalten von Männern und Frauen, die Bedeutung des Lesens für das Lebensglück und bei der Bewältigung kritischer Lebensphasen, das Vorlesen sowie das Zuhören. „Während die Bilder den Menschen faszinieren und in Beschlag nehmen, ermöglicht ihm das Lesen und dann das Schreiben einen freieren, kontrollierteren Umgang mit den Dingen der Welt.“ (S. 45)

Auf zwei interessante Sichtweisen sei hingewiesen:

Zahlreiche Beispiele zu den Schreib- und Lesegewohnheiten von Schriftstellern, Dichtern und Gelehrten und eine Vielzahl von Anekdoten begleiten die Gedanken Bollmanns. So manches ist dabei der Vergessenheit anheim gefallen. Zum Beispiel: Henry David Thoreau (S. 18-31), der als Lehrer und Landvermesser ein bürgerliches Leben führte, bevor er plötzlich in den Wald zog und die Kunst des Lebens kennen lernen wollte; für ihn waren Bücher „Mittel der Selbsterkenntnis“ (S. 23) – Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (S. 37-44), der 1668 den ersten deutschen Roman von Weltrang unter dem Titel „Der abenteuerliche Simplicissimus“ veröffentlichte – Augustinus (S. 58-66), der mit dem Beginn des stillen Lesens im Jahr 386 in Verbindung gebracht wird.

Bollmanns Buch ist ein Plädoyer für das Lesen, „weil es unsere Sensibilität kultiviert, unser Vorstellungsvermögen steigert, Wissen vermittelt und uns Toleranz lehrt“ (S. 30) Eine Lektüre für bekennende Leser!

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Das trifft auch zu für ein Buch unter dem Titel Unwürdige Lektüren. 29 Autoren aus Österreich, Deutschland und der Schweiz beichten ihre heimlichen, „unwürdigen Lektüren“ – und bekennen sich zu diesen. Schon in der Zeitschrift VOLLTEXT abgedruckt, werden die Beichten nun einem größeren Publikum vorgestellt. In seinem Vorwort weist Thomas Glavinic darauf hin, dass Trivialliteratur nicht verdammt werden darf. Als Beispiel nennt er die unterschiedlichen Themenbearbeitungen bei Tolstoi und Karl May: „Die Liebe und den Tod gibt es bei Tolstoi und May. Bei May ist nur alles einfacher. Der Gute siegt, der Böse bekommt seine Strafe. … Bei Tolstoi liegt die Erhabenheit in der Veredelung der Wirklichkeit, bei Karl May irgendwo zwischen Gott, Sonntagsliedern und Spitzendecken (weil er diese drei Dinge für die Veredelung der Wirklichkeit hält).“ Sein Fazit: „Der Konsum des Trivialen ist in gewissen Situationen notwendig“, da manchmal nur eines gefragt ist: „Klarheit. Einfachheit. Unaufgeregtes Betrachten des Vorhersehbaren.“ (S. 14-15) Alex Capus behauptet übrigens in seinem Essay, dass es keine unwürdigen Lektüren, sondern nur unwürdige Leser gibt.

Wir erfahren von den alten und neuen Leidenschaften der Autoren: Sabine Gruber und die italienischen „fotoromanzi“, Paul Ingendaay und die „pulp fiction“ (und „The Complete Peanuts“, denn „wo Camus aufgehört hat, machen die Peanuts weiter“, S. 48), Thomas Lang und Benoîte Groults „Salz auf unserer Haut“, Arne Rautenberg und die Rubrik „Treffpunkte“ der „Hamburger Morgenpost“ („eine Sammelstelle für erotische Angebote“, S. 153), Julia Franck und die Naturwissenschaften in den Tageszeitungen, Annette Pehnt und die Ikea-Kataloge, Ferdinand Schmatz und der Teletext. Und viele andere (Un)Tugenden.

Ein Augenschmaus! Auch zum Nachdenken bestens geeignet, denn eigentlich müsste die unwürdige Lektüre „von Scham und Ungenügen begleitet sein – wiederholt sie sich, so auch von einer gewissen Begierde, wo sich Neugier in Lust verwandelt, von einer Zwanghaftigkeit vielleicht“, so jedenfalls sieht es Julia Franck (S. 55-56).

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Kommen wir zu einem anderen, sehr ernsten Thema. Volker Weidermann erinnert mit seinem Buch der verbrannten Bücher an den 10. Mai 1933, an dem auf dem Berliner Opernplatz und in zahlreichen deutschen Universitätsstädten „undeutsches Schrifttum“ brannte. Da sich entsprechende Listen in Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ bzw. in der Reichsschrifttumskammer noch in Bearbeitung befanden, griff die „Deutsche Studentenschaft“ als Veranstalter der Bücherverbrennungen auf die „Schwarzen Listen“ vom April 1933 zurück, die im Auftrag des Verbandes deutscher Volksbibliothekare mit dem Ziel der Säuberung der öffentlichen Büchereien erarbeitet worden waren. Diese Listen setzten sich aus verschiedenen Teilen (Schöne Literatur, Politik, Staatswissenschaften, Geschichte, Literaturgeschichte, Kunst, Geographie und Biographie) zusammen3. Es beschämt noch heute, dass ausgerechnet Bibliothekare (Wolfgang Herrmann, Max Wieser, Hans Engelhard) diese folgenreichen Listen zusammengestellt haben.

Weidermann verfolgt die Spuren ausnahmslos aller auf diesen Listen stehenden 131 Autoren der „Schönen Literatur“ – 94 deutschsprachigen und 37 fremdsprachigen. Er führt den Leser in 23 Kapiteln zu jenen Schriftstellern und Dichtern, deren Werke aus den Bibliotheken, Buchhandlungen und Antiquariaten verbannt wurden. „Ihre Namen sollten ausgelöscht werden aus den Geschichtsbüchern, ausgelöscht aus dem Gedächtnis des Landes, ihre Bücher sollten spurlos verschwinden – für immer.“ (S. 9)

Das Buch ist eine Fundgrube für alle, die sich mit den Bücherverbrennungen, dem Nationalsozialismus, der Geschichte des Buch- und Bibliothekswesens und der deutschen Literaturgeschichte der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts beschäftigen.

Unter den Autoren befinden sich berühmte wie Alfred Döblin, Erich Maria Remarque, Heinrich und Klaus Mann, Maxim Gorki und Arthur Schnitzler und mittlerweile in Vergessenheit geratene wie Hermann Essig, Ernst Johannsen, Maria Leitner und Otto Linck.

Das Buch ist voll von Anregungen und weckt Neugier, die Bücher des einen oder anderen Autors wieder zu lesen oder neu zu entdecken. Dass ausgewogene Analysen fehlen, tut dem Ganzen keinen Abbruch, denn „mein Buch unternimmt keine literaturwissenschaftlichen Werkanalysen, sondern vermittelt Leseeindrücke, versucht die verbrannten Werke so plastisch wie möglich vor Ihren Augen entstehen zu lassen.“ (S. 11). Als Bibliothekar kann der Rezensent ermessen, wie beschwerlich und zeitaufwendig die Recherche der „Vergessenen“ gewesen sein muss.

Es darf die Frage erlaubt sein, warum wir über ein halbes Jahrhundert warten mussten, ehe sich ein Journalist dieses Themas in diesem Umfang annimmt4.

Weidermanns kurzer Geschichte der deutschen Literatur seit 1945, die 2006 unter dem Titel Lichtjahre5 erschien, folgen nun Gedanken zur Literatur vor dem Zweiten Weltkrieg. Für den Autor ist dies ein neuer Blick „auf eine scheinbar abgeschlossene Epoche des Lebens und Schreibens in diesem Land“ (S. 11). Er erinnert auf eine andere Weise an den 75. Jahrestag der Bücherverbrennung. Auf die Scheiterhaufen kamen die Werke von über 300 Autoren. Also warten wir auf ähnliche Vorhaben, die sich mit den Autoren von Büchern zur Politik, Staatswissenschaften, Geschichte, Literaturgeschichte, Kunst, Geographie und Biographie beschäftigen, damit auch Menschen wie Sigmund Freud, Magnus Hirschfeld und Carl von Ossietzky vor dem Vergessen bewahrt werden.


Anmerkungen

1. Die erste Auswahl findet sich in B.I.T.online 9 (2006) 4, S. 369-370, die zweite 10 (2007) 4, S. 387-388.

2. Bollmann, Stefan: Frauen, die lesen, sind gefährlich. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. 2. Aufl. München, 2005. 149 S.,- Bollmann, Stefan: Frauen, die schreiben, leben gefährlich. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. 2. Aufl. München, 2006. 152 S.

3. Zur Handhabung des „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ in den wissenschaftlichen Bibliotheken, den Universitätsbibliotheken und der Reichstagsbibliothek siehe: Hahn, Gerhard: Die Reichstagsbibliothek zu Berlin – ein Spiegel deutscher Geschichte. Düsseldorf, 1997. S. 343-345.

4. Es gab sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik mehrfach Versuche, sich mit dem 10. Mai 1933 und seinen Folgen aus der Sicht der Belletristik zu beschäftigen, aber nie so umfassend wie Weidermann es jetzt getan hat. Schon 1947 erinnerte F. C. Weiskopf in seinem Buch über die deutsche Exilliteratur „Unter fremden Himmeln“ an die Bücherverbrennung, 1977 verfasste Jürgen Serke 30 Porträts in „Die verbrannten Dichter“.

5. Weidermann, Volker: Lichtjahre: eine kurze Geschichte der Deutschen Literatur von 1945 bis heute.4. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2006. 321 S. ISBN 3-462-03693-9 € 19,90 (Vgl. Rez. in B.I.T.online 9 (2006) 4, S. 369-370.)


Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
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