Manguel, Alberto: Die Bibliothek bei Nacht


- Frankfurt am Main: S. Fischer Verl., 2007. 400 S.
ISBN 978-3-10-048750-6. € 19,90

Der Essayist, Übersetzer und Lektor Alberto Manguel, der auf mehreren Kontinenten und in mehreren Sprachen zu Hause ist und als glühender Verehrer seines Landsmanns Jorge Luis Borges1 gilt, hat uns mehrere Abhandlungen über das Lesen und die Lektüre beschert, insbesondere die großartige, in viele Sprachen übersetzte Geschichte des Lesens2 und das Tagebuch eines Lesers3, in dem er über die erneute Lektüre seiner Lieblingsbücher berichtet.

Die Bibliothek bei Nacht – der Titel sollte eigentlich Reise durch mein Zimmer lauten, aber Xavier de Maistre sei ihm dabei um gut zwei Jahrhunderte zuvorgekommen4 – sind gewissermaßen die Memoiren des Bücherfreundes Manguel.

Manguel schildert seine Sicht auf die Geschichte der Bibliothek, jenes wunderbar verrückten Ortes, der mit seiner labyrinthischen Logik verführt und in dem sich die Bücher befinden, die „schon seit langem auch Werkzeuge der Weissagung gewesen“ (S. 12) sind. Wir sammeln „unermüdlich, mit verblüffendem Optimismus, jeden Schnipsel Information, den wir bekommen können, … Regalbrett um Regalbrett, ob materiell, virtuell oder in welcher Gestalt auch immer, versuchen verzweifelt, der Welt einen Anschein von Sinn und Ordnung zu geben, obwohl wir haargenau wissen, dass – auch wenn wir noch so gern das Gegenteil glauben möchten – all unsere Unternehmungen zum Scheitern verurteilt sind. Warum tun wir es trotzdem? Zwar wusste ich von Anfang an, dass die Frage wohl unbeantwortet bleiben würde, aber die Suche allein schon schien mir ein lohnendes Ziel. Das vorliegende Buch ist die Geschichte dieser Suche.“ (S. 11)

Manguel wollte keinen weiteren Band zur Geschichte der Bibliotheken mit säuberlicher Abfolge von Daten und Namen verfassen (S. 11-12), sondern nur über sein eigenes Staunen schreiben. Und so streift er nachts, „wenn der Lichtschein durch die Fenster fällt und die Bücherreihen schimmern“ (S. 22) durch die Bibliothek. Dann ist „die Bibliothek eine Welt für sich, ein Universum mit eigenen Gesetzen, die tun als ersetzten oder überholten sie jene gestaltlosen Universums ringsum.“ (S. 22) Seine Gedanken notiert er in 15 Kapiteln: Die Bibliothek als Mythos, Ordnung, Raum, Macht, Schatten, Form, Zufall, Werkstatt, Verstand, Insel, Überleben, Vergessen, Phantasie, Identität, Zuhause.

Einige Beispiele sollen Lust auf dieses außergewöhnliche Buch machen.

Nach einer Einführung in die eigene Büchersammlung widmet sich Manguel dem MYTHOS der Bibliothek am Beispiel der berühmten Bibliothek von Alexandria als Zentrum der Gelehrsamkeit. In deren Zerstörung sieht er eine Warnung, „dass alles, was wir zusammentragen, wieder verstreut wird, aber vieles auch wieder neu gesammelt werden kann.“ (S. 44)

In ORDNUNG sinniert Manguel über das Ordnen von Bibliotheken. Seine Erfahrungen mit dem Ordnen privater Büchersammlungen mit der bitteren Erkenntnis, dass es „keine endgültige Einteilung einer Bibliothek“ (S. 49) gibt, stellt er die Verpflichtung öffentlicher Bibliotheken zur Ordnung des Bibliotheksbestandes gegenüber und zieht als Beweis die Bemühungen von Kallimachos und Dewey heran.

Dass Bibliotheken immer viel zu wenig RAUM haben, belegt Manguel an Büchersammlern5, Bibliotheken6 und der vergeblichen Schaffung einer Weltenzyklopädie („die Universalbibliothek existiert und ist nichts anderes als die Welt selbst“, S. 104).

In den Mittelpunkt des Kapitels MACHT stellt Manguel das Verhältnis der Herrscher zu den Bibliotheken und die Macht und Ohnmacht der Leser, ausgehend von Leibniz´ Formulierungen über den Wert einer Bibliothek. Seine Gedanken konkretisiert er mit den Personen Assurbanipal und Carnegie; die Carnegie-Bibliotheken sieht er als „Ort, wo alle Bürger, sofern sie des Lesens mächtig sind, von ihrem Grundrecht Gebrauch machen können, sich ‚wider den Teufel zu rüsten‘.“ (S. 121)

Im Kapitel SCHATTEN träumt Manguel „von einer literarischen Bibliothek, die jedermanns Werk und niemandes Eigentum ist, einer unsterblichen Bibliothek, die dem Universum auf wundersame Weise Ordnung verleiht, … im Kielwasser jeder Ordnung segelt eine Schattenbibliothek abwesender Bücher“ (S. 125). Der Schatten, das sind die durch Kriege, Zensur und Bücherverbrennung zerstörten Bibliotheken, nachweisbar vom Altertum bis zu dem nach dem 11.9.2001 verabschiedeten US Patriot Act. Der Höhepunkt sind aber die durch die Nationalsozialisten vollzogenen Plünderungen und Zerstörungen jüdischer Bibliotheken. Manguel charakterisiert das ÜBERLEBEN jüdischer Bibliotheken durch Bibliotheken in den Ghettos und Konzentrationslagern sowie die Rettungsaktionen jüdischer Büchersammlungen.

Schließlich sei noch auf das Kapitel VERSTAND hingewiesen. Manguel fragt, ob es möglich ist, „eine Bibliothek so einzurichten, dass sie die zufällige, assoziative Ordnung widerspiegelt, eine Bibliothek, die dem uninformierten Betrachter wie ein willkürliches Chaos von Büchern vorkommen muss und dabei dennoch einer logischen, wenn auch zutiefst individuellen Ordnung folgt?“ (S. 222) Es ist nicht verwunderlich, dass ihm ein Beispiel einfällt: Aby Warburg. Auf nicht weniger als 13 Seiten würdigt er Leben und Werk dieses großartigen Büchersammlers. Auf Warburgs Bibliothek ist in dieser Zeitschrift mehrfach hingewiesen worden7.

Vieles andere wäre zu erwähnen wie die Bibliotheken imaginärer Bücher im Kapitel Bibliothek als PHANTASIE, die Plünderung der Nationalbibliothek in Bagdad („manchmal geschieht es auch, dass man eine Bibliothek mit Absicht verschwinden lässt“ S. 288)8 im Kapitel Bibliothek als VERGESSEN oder Leben und Werk von Borges, „der das ganze Universum ein Buch genannt hatte“ (S. 208) im Kapitel Bibliothek als WERKSTATT.

Manguel bekennt im Vorwort, dass er in seiner „tollkühnen Jugend“, als seine Freunde „von Heldentaten in Justiz und Ingenieurkunst träumten, in der Finanzwelt und in der Politik“ (S. 13), Bibliothekar werden wollte. In diesem Buch zeigt er, dass er dem Bibliothekswesen immer treu verbunden geblieben ist. Dem Leser gibt er viele Anregungen zur Sammlung, Ordnung und Nutzung von Bibliotheken.


Anmerkungen

1. Borges war von 1955-1973 Direktor der argentinischen Nationalbibliothek in Buenos Aires. Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel. In: Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel. Erzählungen. Stuttgart, 1986. S. 47-57. (RUB; 9497) – Erstmals erschienen 1941.

2. Manguel, Alberto: Eine Geschichte des Lesens. Berlin, 1998. 428 S.

3. Manguel, Alberto: Tagebuch eines Lesers. Frankfurt am Main, 2005. 231 S. – Vgl. Rez. in: B.I.T.online 9 (2006) 4, S. 370.

4. Eine kleine Ergänzung: Xavier Comte de Maistre (1763-1852) veröffentlichte 1794 den Roman „Voyage autour de ma chambre“, in deutscher Sprache erschienen als „Die Reise um mein Zimmer“. Die Fortsetzung „Expédition nocturne autour de ma chambre“ erschien 1825, in deutscher Sprache als „Nächtliche Entdeckungsreise um mein Zimmer“.

5. Darunter befinden sich einige heitere Auslassungen, die an verschiedene Kapitel aus einem weit verbreiteten Buch der 1960er Jahre erinnern: Ráth-Végh, István: Die Komödie des Buches. Budapest, 1964. 299 S. – Neuauflage sehr erwünscht!

6. Im Mittelpunkt steht die Library of Congress, mit Hinweis auf das großartige Buch von Baker Nicholson: Der Eckenknick oder wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen. Reinbek bei Hamburg, 2005. 491 S.

7. Offensichtlich hat sich Manguel nicht näher mit der ausgezeichneten Schrift von Schäfer beschäftigt: Schäfer, Hans-Michael: Die kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg: Geschichte und Persönlichkeiten der Bibliothek Warburg mit Berücksichtigung der Bibliothekslandschaft und der Stadtsituation der Freien und Hansestadt Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin, 2003. XIV, 413 S. – Vgl. Rez. in: B.I.T.online 7 (2004) 1, S. 79.

8. Inzwischen erschienen Eskander, Saad: Bagdad – Stadt der Bücher: Tagebuch des Direktors von Nationalbibliothek und -archiv des Irak. Köln, 2007. 222 S. Vgl. Rez. in: B.I.T.online 11 (2008) 3, S. 378-379.


Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
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