Vor vier Jahrhunderten schlug die Geburtsstunde der modernen Presse

Ansprache zur Vierhundert-Jahr-Feier der ersten Nummer des Aviso
im Braunschweiger Dom St. Blasii am 15. Januar 2009

von Georg Ruppelt

Nein, es wurde weder getrommelt noch trompetet, keine Fanfarenstöße waren zu hören und auch keine Jubelchöre, als auf den Tag genau vor vierhundert Jahren die erste Nummer des Aviso erschien. Und der, der ihn gedruckt hatte, Julius Adolph von Söhne, hätte sich wohl nicht einmal im Traum vorstellen können, dass vier Jahrhunderte später dieses Ereignis in einem weltberühmten Sakralbau mit illustren Gästen auf Einladung einer bedeutenden und einflussreichen Nachfolgerin seines Aviso gefeiert werden würde.

Ein neues Medium erblickte 1609 offenbar gänzlich unspektakulär das Licht der Welt. Seine Wirkung aber stand – und steht – dazu in völlig umgekehrtem Verhältnis. Pauken und Trompeten, Fanfaren und Chöre wären angemessen gewesen, denn dieses Ereignis war nichts weniger als die Geburtsstunde der modernen Zeitungspresse. Und es ist gut, dass unsere Zeit, in der ähnliches geschieht, sensibel ist für solche Zusammenhänge.

Die Geschichte des Aviso – zu Deutsch: Nachricht, Anzeige –, der im Laufe der Jahrzehnte Tausende von Nachrichten verbreitete, dieses Geschichte selbst ist spannend. Erst vor gut einem Jahrhundert sind seine ersten beiden Jahrgänge wieder entdeckt worden, nämlich in der vormals Königlichen, heute Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover. Diese weltweit einzig erhaltenen Exemplare fanden sich in der 40.000 Bände umfassenden Bibliothek des Abtes von Loccum, Gerardus Molanus, einem Freund von Leibniz. Und erst vor einem halben Jahrhundert konnte definitiv nachgewiesen werden, dass er in Wolfenbüttel gedruckt worden war.

Vor genau 70 Jahren erlebte der Aviso gleichsam eine drucktechnische Wiedergeburt. 1940 sollte nämlich in Leipzig eine gigantomanische Reichsausstellung an Gutenberg, den Deutschen, erinnern; der Krieg machte diese Pläne zunichte. Vom ersten Jahrgang des Aviso wurde dafür ein Faksimile gefertigt. Vor- und Nachwort dieses Nachdruckes sind allerdings leider von den Zeitläuften kontaminiert.

Was aber war das Besondere an Aviso und Straßburger Relation? Es gab doch schon vorher Flugschriften, auch solche, die sich „Zeitung“ nannten, freilich im alten Sinne von „Nachricht“?

Lassen wir einen grandiosen Niedersachsen zu Wort kommen:

„Ach, die sittenlose Presse!
Tut sie nicht in früher Stund
All die sündlichen Exzesse
Schon den Bürgersleuten kund?!“

Diese scheinheilige Beschimpfung der Presse findet sich in der scheinheiligen „Frommen Helene“ des großen Spötters und Weltweisen Wilhelm Busch – und ist natürlich in Wahrheit ein Lobgesang.

Doch einmal abgesehen davon sind die Verse auch eine recht genaue Beschreibung dessen, was nach heutigem Verständnis eine Zeitung ausmacht.

Lassen Sie uns diesem Medium in unserem eigenen Interesse eine gute Zukunft wünschen! Möge es immer den Mut, die Kraft und auch die ökonomische Basis besitzen, um sündliche Exzesse in Wirtschaft und Politik aufdecken und die Wahrheit ans Licht bringen zu können. Oder gut welfisch gesagt: Nec aspera terrent! – Auch Widerwärtigkeiten mögen sie nicht schrecken.


Autor

Georg Ruppelt

Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek -
Niedersächsische Landesbibliothek

Waterloostraße 8
30169 Hannover
Georg.Ruppelt@gwlb.de