Fotos: Ville de Nice – BMVR de Nice
Abb. 1: Außenansicht der Bibliothèque
Louis Nucéra in Nizza
Abb. 2: Die Bibliothek zwischen Museum und Theater
Abb.3: Eingangshalle
Abb. 4: Freihandbereich
Abb. 5: Lesesaal
Abb. 6:
Individuelle
Lesesaal-
leuchten

Der „Dickkopf“ von Nizza –
Zentrale der Stadtbibliothek

von Gernot U. Gabel

Das wohl eigenwilligste Gebäude einer städtischen Bibliothek hat sich die südfranzösische Hafenstadt Nizza geleistet. Im Zentrum der fünftgrößten Kommune Frankreichs wächst von den Schultern aufwärts eine riesige terracottafarbene Kopfkonstruktion aus dem Boden hervor, die oberhalb der Mundpartie in einen aus Glas und Stahl gefertigten Kubus übergeht (Abb. 1). In diesem spektakulären Gehäuse hat die Verwaltung der „Bibliothèque Municipale“ ihr Domizil, während sich die Besucher in das unterirdische Bibliotheksgefilde begeben müssen.

„La Bibliothèque Louis Nucéra”, wie das Ensemble zu Ehren eines lokalen Dichters (1928–2000) offiziell heißt, wurde Mitte der 1990-er Jahre konzipiert. Damals entschied sich Nizzas Stadtverwaltung, im Zentrum eine „Promenade des Arts“ einzurichten und dort die kulturellen Aktivitäten zu bündeln. Neben dem städtischen Theater und dem Museum für Moderne Kunst sollte als dritte Einrichtung die Stadtbibliothek (Abb. 2), die in einem historischen Gebäude beengt untergebracht war, dort einen großzügigen Neubau erhalten. Mit dem Auftrag betraut wurden die beiden Architekten Francis Chapus und Yves Bayard, denen sich der Künstler Sacha Sosno zugesellte, dessen Konzept einer Kombination von Skulptur und Gebäude die Stadtplaner überzeugte. Diese bewohnte Monumentalskulptur, „Tête Carrée“ genannt, wurde somit zum weithin sichtbaren Wahrzeichen der Bibliothek. 1997 stimmte der Stadtrat dem Bauauftrag zu, und im Sommer 2002 konnte das Ensemble (Baukosten ca. 20,5 Mio. €) eröffnet werden.

Der rund 30 Meter hohe und 14 Meter breite „Quadratschädel“ steht auf der Nordseite eines formal gestalteten Parks und zugleich an der östlichen Begrenzung der eigentlichen Bibliothek. Die Büros auf den vier Stockwerken sind auf den Park ausgerichtet, und nachts wird der gläserne Kubus mit einem vom Künstler Yann Kersalé konzipierten Lichterspiel erhellt. Über Treppen und einen Aufzug, die sich im Hals der Riesenstatue befinden, haben die Mitarbeiter Zutritt zur unterirdischen Bibliothek. Der Besuchereingang zu dieser Bibliothekslandschaft – ursprünglich war das Stockwerk als Kellergeschoss eines Einkaufszentrums konzipiert – liegt am anderen Ende des Parks, also direkt am städtischen Kunstmuseum. Nach der Eingangshalle (Abb. 3) mit Anmeldung und Garderobe betritt der Besucher den breiten, von Säulen gesäumten Mittelgang (Abb. 4), von dem aus sich die weiteren Räume erschließen. Zunächst trifft man auf die Kollektion für Erwachsene mit ca. 100.000 Medien, aufgeteilt in drei Sektionen. Gleich daneben liegt die Kinderabteilung (ca. 20.000 Medien). Als weitere Sektionen sind im mittleren Bereich der Leseraum für aktuelle Zeitungen und Zeitschriften, eine Videothek sowie eine Ausstellungszone ausgewiesen. Am weitesten vom Eingang entfernt liegen der Lesesaal (knapp 300 Plätze) (Abb. 5 + 6), daneben das Musik- und das Multimedien-Zentrum mit den Abspielstationen für Videos, Kassetten, CDs und DVDs. Ein kleiner Konferenz- und Konzertsaal (110 Plätze) schließt das Raumangebot ab. Da das Tageslicht fehlt, hat man die farblich hell gehaltenen Räume gekonnt ausgeleuchtet. Jeder Bereich erhielt kennzeichnende Farbtöne, wobei Beige und Hellblau dominieren; einige Wandflächen wurden auch in warmes Rot getaucht. Die Nutzfläche beträgt insgesamt 10.600 m2, die Zahl der ausleihbaren Medien wird mit rund 200.000 angegeben.

Neben der „Bibliothèque Louis Nucéra”, die als Zentrale der Stadtbibliothek fungiert, unterhält die Direktion ein kürzlich renoviertes Domizil für ihre historischen Sammlungen. Bereits im 18. Jahrhundert gab es nämlich drei bedeutende kirchliche Kollektionen in Nizza, die im Verlauf der französischen Revolution konfisziert, in einem Zentrallager (dépôt littéraire) zusammengeführt und nach dessen Auflösung 1803 in die Obhut der Stadt übergeben worden waren. Mit diesem Fundus hatte die städtische Bibliothek ihre Arbeit aufgenommen, und durch Geschenke und Stiftungen flossen ihr im Verlauf des 19. Jahrhunderts weitere Sammlungen zu, sodass sie um die Jahrhundertwende rund 70.000 Bände umfasste. Nach dem Ersten Weltkrieg, als das provisorische Quartier die Bestände nicht mehr aufzunehmen vermochte und die Stadtverwaltung sich der Leseförderung aktiv annahm, erwarb man die imposante Villa eines Pariser Industriellen und öffnete dort 1925 die neue Zentrale der Stadtbibliothek. Heute ist in der Villa Rambourg die „Bibliothèque Patrimoniale Romain Gary“ untergebracht, benannt nach dem bekannten französischen Schriftsteller (1914–1980). Rund 330.000 Bände, darunter Handschriften des Mittelalters, Manuskripte und bibliophile Ausgaben, Stiche, Plakate und Karten sind in den stimmungsvollen Räumen (Nutzfläche ca. 1500 m2) zu konsultieren.

Nizzas Stadtbibliothek zählt zum kleinen Kreis der „Bibliothèques Municipales à Vocation Régionale“ (BMVR), deren Konzept zu Beginn der 1990-er Jahre formuliert und 1992 gesetzlich fixiert wurde. Ein Kreis öffentlicher Bibliotheken mit größeren Medienbeständen sollte in den Regionen einen Gegenpol zur Dominanz der Pariser Nationalbibliothek bilden. Von 35 Anträgen hatte das französische Kultusministerium zwölf bewilligt, die zwischen 1998 und 2006 entstanden, jeweils in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern. Diesem neuen Bibliothekstypus fällt die Aufgabe zu, neben der städtischen Bevölkerung auch den Einwohnern umliegender Gemeinden bibliothekarische Dienstleistungen anzubieten. Die Planer gingen von der Vorstellung aus, dass hinreichend dimensionierte und architektonisch anspruchsvolle Gebäude – alle BMVR wurden von renommierten Architekten entworfen – sowie einladend gestaltete Interieurs auch ein breites Publikum anziehen würden. Aber diese Hoffnung hat sich weitgehend nicht erfüllt, denn es sind wie bisher die bildungsaffinen Bevölkerungsschichten, die sich vornehmlich dieser Einrichtungen bedienen.

Vor Fertigstellung der neuen Bibliothekszentrale hatte die Stadtverwaltung von Nizza Verträge mit den umliegenden Gemeinden abgeschlossen, sodass heute die Bewohner der „Communauté d’Agglomération de Nice-Côte d’Azur“ genannten Region (ca. 930.000 Personen) als Benutzer zugelassen sind. Ihnen bietet das Bibliotheksnetz (12 Zweigstellen und 3 Bibliobusse) die Auswahl aus ca. 1,2 Mio. Dokumenten und Medien, und zwar kostenlos! Im Online-Katalog der Stadtbibliothek sind auch die Bestände von 18 Kultureinrichtungen in Nizza verzeichnet, vom Stadtarchiv und den Museen bis zu Kunst- und Musikschulen. Im Jahr 2007 haben die ca. 38.000 eingeschriebenen Benutzer der BMVR mehr als 1,5 Mio. Ausleihen getätigt. Nur die Öffnungszeiten lassen zu wünschen übrig, denn die Zentrale der Stadtbibliothek mit ihrem markanten „Quadratschädel“ ist von Dienstag bis Samstag gerade mal 36 Wochenstunden geöffnet
(www.bmvr-nice.com.fr).


Autor

Dr. Gernot U. Gabel

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