Die Perfekte Bibliothek *


*) Nach einem Vortrag auf der Konferenz
„Exploring Acquisitions” in Oxford, 16. April 2009.
Abstracts

1 Einführung
2 Pläne für die perfekte Bibliothek
3 Visionen der perfekten Bibliothek in der Literatur
4 Vergleich dieser Idealvorstellungen mit dem Internet
5 Zusammenfassung

von Alice Keller

1 Einführung

Für die Dame des 19. Jahrhunderts wurden andere Werke empfohlen. Im Jahr 1856 stellte der Verleger Peck & Bliss, Philadelphia eine Liste von Büchern vor, die von einer zeitgenössischen Zeitung als „perfekte Bibliothek für die junge Dame“ gepriesen wurde.2 Die Bände kamen in einem eleganten Schuber und umfassten Titel wie: The Flora Offering, The Book of Parlour Games, The Lady’s Oracle, The Lady’s Mentor, The Lady’s Companion, und The Vicar of Wakefield.

Selbstverständlich denken wir als professionelle Bibliothekare an viel umfangreichere Sammlungen, wenn wir von der „perfekten Bibliothek“ sprechen. Dennoch ist es interessant festzustellen, dass auch eine sehr kleine Auswahl an Büchern für einen einzelnen Leser als perfekte Bibliothek gelten kann.

In diesem Aufsatz werde ich mich ausführlich mit dem Thema der „perfekten Bibliothek“ in der Geschichte, Fantasie, Literatur und Realität auseinander setzen. Schließlich werde ich diese Ansätze mit dem Internet vergleichen, um zu untersuchen, ob vielleicht Dienste wie Google Book Search et al. die perfekte Bibliothek darstellen. Meine Perspektive beschränkt sich ausschließlich auf den Sammlungsaspekt einer Bibliothek.

2 Pläne für die perfekte Bibliothek

Die Geschichte der perfekten Bibliothek kann nirgends anders beginnen als bei der Antiken Bibliothek von Alexandria. Unsere Geschichtsbücher erzählen uns, dass die Bibliothek von Alexandria mit der Aufgabe betraut war, das gesamte Weltwissen zu sammeln und gilt somit als erste Bibliothek mit systematischem und universellem Sammelauftrag. Die Bibliothekare verfolgten dieses Ziel mit einem aggressiven königlichen Mandat. Sie reisten nicht nur an die Buchmessen auf Rhodos oder in Athen, sondern sie zerrten auch alle Bücher (bzw. ihr antikes Äquivalent) von den einfahrenden Schiffen, behielten das Original für sich und ersetzten es durch eine Abschrift. Leider ist uns kein Katalog überliefert worden, so dass es nicht möglich ist zu wissen, wie groß die Bibliothek war. Der Überlieferung nach wurde die Bibliothek von Julius Caesar im Jahr 48 v. Chr. unabsichtlich niedergebrannt.

Abb.: Étienne-Louis Boullée, Deuxième projet pour la Bibliothèque du Roi (1785). http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6d/Bibliotheque_nationale_boul.jpg

Achtzehn Jahrhunderte später entwickelte ein französischer Architekt eine ähnliche Vision, um das gesamte Weltwissen unter einem Dach zusammen zu bringen. Mit seiner Zeichnung „Deuxième projet pour la Bibliothèque du Roi” aus dem Jahr 1785 entwarf der französische klassizistische Architekt Étienne-Louis Boullée eine gigantische Basilika, die angeblich in der Lage war, das gesamte Gedächtnis und Wissen der Menschheit zu fassen. Obwohl sie leider nie gebaut wurde, sind uns die Zeichnungen überliefert worden.

Der kanadisch-argentinische Autor Alberto Manguel weist darauf hin, dass der von Boullée konzipierte Raum für das Studium oder die private Lektüre kaum geeignet ist.3 Vermutlich ist der Raum eher zum schnellen Nachschlagen gedacht. Übrigens ist es kaum wahrscheinlich, dass der damalige französische König den Mann von der Straße in seine Bibliothek hinein gelassen hätte.

Dennoch ist es interessant, dass die Architekten des späten 18. Jahrhunderts es noch für möglich hielten, alle Bücher der Welt nicht nur in einem Gebäude, sondern in einem einzigen, riesigen Raum zusammen zu bringen.

Die nächste Bibliothek, mit der ich mich befassen möchte, ist die New York Public Library, welche am 24. Mai 1911 eröffnet wurde. Eine seitenfüllende Abbildung in der Zeitschrift Scientific American4 gibt uns einen detaillierten Querschnitt durch das vielstöckige Gebäude. Für mich stellt diese Abbildung eine faszinierende Vision der idealen Bibliothek des frühen 20. Jahrhunderts dar. Die Bibliothek bot Platz für 3 Millionen Bände und 1700 Leser. Der Hauptlesesaal war auf dem obersten Stockwerk untergebracht; die Büchermagazine befanden sich auf sieben darunter liegenden Etagen und beanspruchten somit den Hauptteil des Gebäudes. Um ein benötigtes Buch möglichst schnell an den Benutzer ausliefern zu können, wurde ein komplexes System von Rohrpost, Aufzügen und Förderbändern in Bewegung gesetzt.

Der Begleittext zur Abbildung erklärt, wie die Sammlung sämtliche Bedürfnisse von allen Lesern befriedigen konnte: „Der Mann, der gezielt eine knappe Definition oder Zusammenfassung sucht, oder der nach Lust und Laune in der Sammlung stöbern möchte, hat gleichermaßen die Möglichkeit, sein Bedürfnis zu befriedigen … Aber auch der Gelehrte, der Ingenieur oder der Student der Orientalistik findet seinen spezifischen Lesesaal mit Spezialsammlung.“

Wie dieses Beispiel der New York Public Library zeigt, wurde es nicht mehr als möglich erachtet – wie es Boullée im Jahr 1785 vorgesehen hatte – alle Bücher in einem einzigen Gebäude zusammen zu bringen. Auch stellten die Bibliotheksplaner in New York nicht den Anspruch, sämtliche Bücher der Welt im Bestand zu führen. Stattdessen waren sie der Meinung, dass 3 Millionen Bände ausreichend waren, um sämtliche Fragen aller Leser zu beantworten und ihre Informationsbedürfnisse vollständig abzudecken.

Hingegen zeigt der nächste Abschnitt, dass die Fachwelt Anfang des 20. Jahrhunderts die Hoffnung oder den Traum, die gesamte Buchproduktion an einem Ort zusammen zu bringen, noch nicht vollständig aufgegeben hatte.

Im Jahr 1929 verfasste George Watson Cole (Bibliothekar an der Huntington Library) ein Buchkapitel mit dem vielversprechenden Titel „The Ideally Perfect Library”5 . Seine Idee der perfekten Bibliothek war eine Sammlung mit allen je veröffentlichten Büchern seit der Erfindung des Buchdrucks bis zum heutigen Tag. „Wäre eine solche Sammlung je konzipiert und ausgeführt worden, richtig und mit genügend Platz versorgt, systematisch aufgestellt und klassifiziert, vollständig indiziert und katalogisiert nach Autor und Sachgebiet, so würde sie dem Wissenschaftler alle je veröffentlichten Publikationen seines Fachgebietes bieten. Eine solche Sammlung wäre in der Tat eine perfekte Bibliothek! Ein vollständiges Reservoir des Wissens, sofern es in gedruckter Form zur Verfügung steht.“

Obwohl Cole weiterhin von seiner perfekten Bibliothek träumte, vermute ich, dass man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Einsicht kam, dass es nicht mehr möglich war, alle je erschienenen Werke physisch an einem Ort zusammen zu bringen. Diese Erkenntnis wird deutlich in den Arbeiten der Belgischen Juristen Paul Otlet (1868-1944) und Henri La Fontaine (1854-1943), die kurz vor dem ersten Weltkrieg das „Repertoire Bibliographique Universel“ (RBU) ins Leben riefen. Die Idee war, eine vollständige Weltbibliographie aufzubauen, in der so viele Bücher, Filme und Tonaufzeichnungen wie möglich verzeichnet waren.

Gemeinsam gründeten sie das internationale Zentrum Palais Mondial und später das Mundaneum, woraus schließlich die International Federation for Information and Documentation (FID) hervorging.

Das Repertoire Bibliographique Universel wuchs sehr schnell. Im Jahr 1897 enthielt es 1,5 Millionen Nachweise. Zwei Jahre später waren es 3 Millionen Nachweise; im Jahr 1912 waren es 9 Millionen, und zuletzt im Jahr 1930 waren es 16 Millionen Nachweise. Der Zettelkatalog umfasste 2 Register: eines nach Autor, das andere nach Sachgebiet. Ein internationaler Suchdienst wurde aufgebaut, der im Jahr 1912 über 1500 Anfragen erhielt und bearbeitete.6

Mit der Weltbibliographie von Otlet und La Fontaine wurde der Anspruch nach einer perfekten Bibliothek durch die Vision eines perfekten Katalogs ersetzt. Es scheint wie wenn der Traum der perfekten Bibliothek nach mehr als 2000 Jahren aufgegeben worden war, ohne dass er je erfüllt werden konnte.

3 Visionen der perfekten Bibliothek in der Literatur

Aber es sind nicht nur Bibliothekare, die von einer perfekten Bibliothek träumen. Auch viele Autoren der letzten Jahrhunderte haben sich intensiv mit diesem Thema befasst.

Aber während sich Bibliothekare in ihren Träumen auf Sammlungen von gedruckten Büchern beschränken, geht die Belletristik einen Schritt weiter und phantasiert von Bibliotheken ganz anderen Ausmasses. Hier umfasst die perfekte Bibliothek sowohl alle bisher geschriebenen Büchern, als auch alle noch nicht geschriebenen Bücher.

Die älteste Vision dieser Art ist mir in Jonathan Swifts „Gullivers Reisen” (1726) begegnet, wo der Held die Insel Glubbdubdrib besucht7 .

Abb.: Zeichnung der Wissensmaschine in Jonathan Swifts, Gulliver's Travels, 1726. http://www.jaffebros.com/lee/gulliver/bancroft/10.jpeg

Hier begegnen wir in der Akademie von Lagado einem Professor, der eine Wissensmaschine betreibt. Dieses Gerät generiert gleichzeitig Wissen und Bücher: „Jeder weiß, wie mühselig es ist, in der herkömmlichen Weise Fortschritte in Kunst und Wissenschaft zu machen. Aber mit dieser Maschine ist es sogar für eine ungebildete Person möglich, zu geringen Kosten und mit wenig körperlicher Mühe, Bücher in Philosophie, Poesie, Politik, Recht, Mathematik und Theologie zu verfassen – ohne den geringsten Einsatz von Genie oder Studium.“

Die Wissensmaschine besteht aus einem Rahmen, in dem eine Vielzahl von Holzblöcken mit Drähten fixiert sind und die auf allen sechs Seiten mit Wörtern oder Wortteilen beschrieben sind. Junge Studenten halten die vielen Griffe, die über den Rahmen mit den Holzblöcken verbunden sind. Auf Befehl des Professors schütteln die Studenten den Rahmen, wodurch neue Wortkonstellationen entstehen. Die Studenten suchen nur Wort- und Satzfragmente, die Bruchstücke eines Satzes darstellen könnten. Sobald ein solches Fragment gefunden ist, werden die Resultate an Schreiber diktiert. Ließen sich Gelder und Helfer für 500 solche Rahmen finden, so ist der Professor überzeugt, so könnte man einen kompletten Korpus von Kunst und Wissenschaft aufbauen.

In seiner Erzählung erkennt Swift deutlich, dass das unvollständige menschliche Wissen – bzw. der langsame und mühsame Prozess zur Aneignung dieses Wissens – der limitierende Faktor für den menschlichen Fortschritt ist. Durch den Einsatz seiner Wissensmaschine könnte diese Erkenntnisproduktion automatisiert und beschleunigt werden und so zum Aufbau einer Universalbibliothek beitragen, die das gesamte Wissen umfasst.

Zwei sehr andersartige und gleichzeitig ähnliche Visionen zum Aufbau einer kompletten Bibliothek mit Büchern, die noch nicht geschrieben worden sind, wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgestellt.

Das erste Beispiel ist die in Berlin im Jahr 1904 verfasste Kurzgeschichte „Die Universalbibliothek” von Kurd Lasswitz8 . Hier beschreibt der Autor, wie vier Freunde gemeinsam auf die Idee kommen, eine Universalbibliothek mit jedem erdenklichen Buch aufzubauen. Ihr Idealbuch besteht aus 500 Seiten mit je 40 Zeilen zu 50 Zeichen. Jedes solche Buch, das mit jeder Kombination von 100 erlaubten Zeichen (Groß- und Kleinbuchstaben, Zahlen, mathematische Symbole, Satzzeichen und Leerzeichen) geschrieben werden kann, findet sich in dieser Bibliothek. Hiermit werden alle erdenklichen Informationsbedürfnisse abgedeckt.

Lasswitz, selber ein Mathematiker, erspart uns die Rechnung und verrät uns, dass seine Universalbibliothek insgesamt 102mio Bände umfasst.

Ein ähnliches, viel besser bekanntes Gedankenexperiment kommt vom argentinischen Dichter und Bibliothekaren Jorge Luis Borges. Seine Bibliothek in der Kurzgeschichte „Die Bibliothek von Babel” (verfasst 1941)9 enthält jedes einzelne Buch, das mit einem Alphabet von 25 Zeichen (22 Buchstaben, Komma, Punkt und Leerzeichen) auf 410 Seiten geschrieben werden kann.

Borges bietet dem Leser faszinierenden Einblick in die räumliche Anordnung seiner wabenartigen Bibliothek – oder seines „Universums“, wie er es nennt.

Borges fasst die Reaktion der Menschheit wie folgt zusammen: „Als verkündet wurde, dass die Bibliothek alle Bücher umfasse, war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl. Alle Menschen wussten sich Herren über einen unversehrten und geheimen Schatz. Es gab kein persönliches, kein Weltproblem, dessen beredte Lösung nicht existierte: in irgendeinem Sechseck.”

Natürlich hat eine solche Bibliothek auch bedeutende Nachteile. Nebst allen wertvollen Büchern, enthält die Bibliothek von Babel auch jeden erdenklichen Blödsinn: ein vollständig leeres Buch, ein Buch voller Fragezeichen und jede Zusammenstellung von korrekten und falschen Fakten. In seiner Kurzgeschichte hat Lasswitz dieses Problem wie folgt beschrieben: „Hm, ja – aber das Schlimmste kommt erst, wenn man einen scheinbar vernünftigen Band gefunden hat. Du willst z. B. etwas im Faust nachsehen und triffst auch wirklich den Band mit dem richtigen Anfang. Und wenn du ein Stückchen gelesen hast, geht es auf einmal weiter: „Papperle, happerle, nichts ist da!“, oder einfach „aaaaa“.“

Es fällt uns nicht schwer zu erkennen, dass eine solche Sammlung nicht nur wertlos, sondern auch irreführend und sogar gefährlich ist.

Die Beispiele von Swift, Lasswitz und Borges zeigen klar, dass eine Sammlung nur so schnell aufgebaut werden kann, wie das menschliche Wissen akquiriert und verarbeitet werden kann. Bücher können nicht im Voraus, also vor dem menschlichen Erkenntnisgewinn, publiziert werden. Der limitierende Faktor einer Bibliothek ist somit nicht nur Platz und Ressourcen, sondern das unvollständige menschliche Wissen und unsere Fähigkeit, Richtig von Falsch zu unterscheiden.

4 Vergleich dieser Idealvorstellungen mit dem Internet

Nachdem ich diese Visionen der perfekten Bibliothek in Geschichte und Literatur vorgestellt habe, drängt sich nun die Frage auf, ob das Internet die perfekte Lösung bietet. Im Vergleich zur traditionellen Bibliothek hat das Internet viele Vorteile: Es kennt: keine Platzprobleme, ist 24 Stunden pro Tag verfügbar und enthält inzwischen Millionen von frei zugänglichen Volltexten. Mit Bestimmtheit bietet das Internet eine sehr vielversprechende Plattform für die perfekte Bibliothek.

4.1 Exkurs: Die Vorzüge des Internets in die Realität umgesetzt

Bevor ich Online-Bibliotheken aus der Nähe betrachte, möchte ich auf einen Zeitungsartikel hinweisen, den ich Anfang dieses Jahres per Zufall entdeckt habe.

Am 28. Februar 2009 meldete die britische Tageszeitung Daily Mail, wie ein Amazonzulieferer sein Buchdepot auflösen wollte und hierzu der Öffentlichkeit freien Zugang zur uneingeschränkten „Plünderung“ des Lagers gab.10

Außerhalb des Depots reihten sich Porsches und BMWs neben Lieferwagen, während die Sammler ihre Schätze in Kisten oder in Einkaufswagen füllten. Eine Familie fuhr sogar mit Auto und Anhänger auf. Andere stapelten ihre Buchberge in Kinderwagen.

Die Szene kombiniert viele Elemente des Internets: der Zugang war frei und kostenlos; die Sammlung war riesig; man bediente sich selbst und konnte beliebig viele Bücher nach freier Wahl mitnehmen; es herrschte keine Ordnung, und es gab keine Regeln. Die Zugangsbeschränkungen waren minimal, die Unordnung und das Chaos maximal. Aber die Öffentlichkeit liebte es!

Für uns Bibliothekare nehmen Ordnung und System zwangsläufig einen hohen Stellenwert in der perfekten Bibliothek ein. In diesem Beispiel sieht man jedoch, wie die breite Öffentlichkeit fasziniert ist von der Kostenlosigkeit, Zufälligkeit und Unordnung einer Sammlung. Und genau die Charakteristika Zufall und Chaos zeichnen das Internet aus und werden unterschiedlich als größter Vor- oder Nachteil betrachtet.

4.2 Wo sind die Grenzen der Bibliothek im Internet?

Zwei kürzlich erschienene Artikel von Johanna Drucker und Robert Darnton können als gute Zusammenfassung für die Grenzen der Bibliothek im Internet betrachtet werden.

Johanna Drucker, Professorin für Informationswissenschaften an der University of California, Los Angeles, nimmt den Standpunkt einer Geisteswissenschafterin ein11 . Sie weist darauf hin, dass die Digitalisierung von Inhalten nicht nur eine Frage des technischen Zugangs ist. Massendigitalisierung allein reicht nicht aus, um eine Bibliothek im Internet aufzubauen. Wir müssen viel mehr Beachtung dem sorgfältigen Aufbau einer digitalen Arbeitsumgebung schenken, wenn wir die Bedürfnisse des wissenschaftlichen Arbeitens vollständig abdecken möchten. Sonst meint sie: „werden wir feststellen, dass wir uns auf eine Zukunft hin bewegen, die unseren Ansprüchen nicht genügt.“

Eine der Fragen, mit der sich Drucker ausführlich befasst, ist die Auswahl der zu digitalisierenden Ausgabe: welche Version oder Übersetzung eines Textes soll als repräsentative Kopie eines Werkes digitalisiert werden? Gibt es sogar Unterschiede zwischen verschiedenen Exemplaren des gleichen Buches? Was passiert mit den handschriftlichen Anmerkungen und Notizen, die gegebenenfalls wichtige Informationen enthalten?

Abb.: Handschriftliche Randnotizen in William Bullocks, Virginia Impartially Examined (1649), Bodleian Library.

Ein gutes Beispiel einer solchen Forschungsarbeit ist der Aufsatz von Peter Thompson, Dozent für Frühe Amerikanistik an der Universität Oxford. Seine Forschung bezieht sich auf die Randnotizen in einem Traktat „Virginia Impartially Examined“ aus dem Jahr 1649. Hier zeigt eine sorgfältige Handschrift aus dem 17. Jahrhundert, bei welchen Textstellen der Leser mit dem Text sehr oder überhaupt nicht einverstanden ist.12

Die meisten Wissenschaftler, die sich mit diesem Traktat auseinander setzen, nutzen die im Internet zur Verfügung gestellte Version in Early English Books Online. Für diese Verfilmung wurde allerdings das Exemplar der British Library genutzt, worin die Anmerkungen, auf denen die Forschungsarbeit von Peter Thompson beruht, fehlen. In diesem Fall hat Drucker also Recht: verlässt sich die ganze historische Forschung auf eine einzige digitalisierte Kopie, so wird der Erkenntnisgewinn geschmälert und an Lebendigkeit und Interesse verlieren.

Die Frage der Qualität, der Selektion und der Vollständigkeit wurde von Paul Duguid in seinem Aufsatz „Inheritance and loss?” untersucht.13 Duguid geht hier auf die verschiedenen Mängel des Google Massendigitalisierungsprogramms ein. Er betont, dass die intellektuelle Selektion der Ausgaben bei einem Projekt von Anfang an in Betracht gezogen werden muss. Hierbei muss der heutige und zukünftige Forschungswert der verschiedenen Ausgaben im Detail beurteilt werden. „Even with some of the best search and scanning technology in the world behind you, it is unwise to ignore the bookish character of books.”

Folgt man der Logik von Drucker und Duguid, so kann das Internet nur dann eine perfekte Bibliothek bilden, wenn ein strenges Auswahlverfahren bei der Digitalisierung von Inhalten eingeführt wird – oder wenn genügend Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit nicht nur jedes Werk, sondern jedes gedruckte Exemplar eines Werkes digitalisiert werden kann. Hiermit würden eigentliche und spezifische Bibliotheken oder Sammlungen im Internet originalgetreu nachgebaut.

Aber die Bibliothek im Internet hat auch andere Defizite. Das größte Problem für Robert Darnton, Professor an der Harvard Universität, sind die eigentlichen Lücken im Inhalt. Dieses grundlegende Defizit beschreibt er in seinem hoch aktuellen Aufsatz „Google & the future of books”.14

Gemäß Urheberrechtsgesetz dürfen digitalisierte Inhalte erst siebzig Jahre nach dem Tod des Autors in der Public Domain zur Verfügung gestellt werden. In den USA wird dies so interpretiert, dass die Öffentlichkeit derzeit Zugang zu gescannten Büchern ab Publikationsdatum 1. Januar 1923 hat. Danach unterliegen die Titel dem Urheberrechtsgesetz und können nicht frei im Internet zur Verfügung gestellt werden. (Darnton erklärt in einer Fußnote, wie dieses präzise Datum für die USA ausgehandelt worden ist).

Hier in Europa hält sich Google an eine viel konservativere Auslegung des Urheberrechtsgesetzes: ein Werk kann erst nach 140 Jahren im Internet frei geschaltet werden. Entsprechend können derzeit Bücher mit Erscheinungsjahr später als 1869 nicht frei zugänglich gemacht werden. Somit gibt es Fälle, in denen ein Buch, das über Google Book Search in den USA im Volltext lesbar ist, in Europa gesperrt bleibt.

Für Darnton stellt dieser beschränkte Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken den fundamentalen Mangel und die größte Einschränkung des Internets als Bibliothek dar. Gemäß seiner Überzeugung sind Bibliotheken ein öffentliches Gut, die Möglichkeit des Lernens „Free To All“. Er ist nicht total abgeneigt gegenüber der profitorientierten Wirtschaft – schließlich ist das öffentliche Gut davon abhängig – aber wir dürfen es nicht zulassen, dass der Inhalt unserer Bibliotheken kommerzialisiert wird. Eine solche Entwicklung wäre für Darnton ein grundlegender Widerspruch.

Ja, Bibliotheken müssen digitalisiert werden, aber nicht zu jedem Preis. Es muss im Interesse der Öffentlichkeit erfolgen. Darnton plädiert für die Neuverhandlung der Spielregeln und für die Unterordnung der privaten Interessen gegenüber dem öffentlichen Interesse.

Auf der einen Seite scheinen wir mit dem Internet unser Ziel einer perfekten Bibliothek beinahe erreicht zu haben. Auf der anderen Seite präsentieren sich nun neue, fast unüberwindbare Probleme, die das Ziel wieder weiter in die Ferne rücken lassen.

5 Zusammenfassung

Wo stehen wir nun? Was können wir von unseren bibliothekarischen Vorfahren, aus der Fantasie und Literatur, sowie aus der jungen Geschichte des Internets lernen? Wie sieht also die perfekte Bibliothek aus?

George Watson Cole wagt eine Antwort in seinem Aufsatz „The ideally perfect library“ aus dem Jahr 1929: „Wir können also festhalten, dass die beste Bibliothek diejenige ist, in welcher ein Wissenschaftler am ehesten fündig sein wird für die höchstmögliche Zahl der Fragen, die sich im Zusammenhang mit seiner Arbeit stellen.”15 Obwohl sich hinter dieser komplexen Aussage eine sinnvolle Logik verbirgt, bietet Cole keine schlüssige Antwort auf die Frage, wie die perfekte Bibliothek denn nun wirklich aussieht.

Die zweitausendjährige Bibliotheksgeschichte lehrt uns, dass unvollständige Sammelpolitik, beschränktes Platzangebot und/oder Zugangsmöglichkeiten, sowie willkürlicher oder unwillkürlicher Verlust von Büchern die limitierenden Faktoren beim Aufbau einer perfekten Bibliothek darstellen.

In mancher Hinsicht bietet das Internet eine einfache Antwort auf die Probleme Platz und Zugang. Aber gleichzeitig wird der Zugang durch das restriktive Urheberrechtsgesetz in vielen Fällen erschwert oder verunmöglicht. Zudem herrscht auch im Internet keine vollständige Sammelpolitik und verlorene Texte bleiben verloren.

Somit bleibt die Möglichkeit, von der Autoren der Literatur wie Swift, Lasswitz oder Borges träumen: wir könnten die Computerkraft dazu nutzen, alle Bücher der Vergangenheit und der Zukunft automatisch zu generieren und im Internet frei zugänglich anzubieten.

Allerdings zeigen diese Beispiele aus der Literatur, dass das unvollständige menschliche Wissen, bzw. das Unvermögen, Falsch von Richtig zu unterscheiden, der limitierende Faktor ist. Und genau hierzu dienen Bibliotheken: nämlich zur Unterscheidung von Falsch und Richtig. Die perfekte Bibliothek ist somit Weg und Ziel zugleich.

Dies war wohl auch die Erkenntnis des Dichters David Drake, als er sein Gedicht „The Perfect Library“ schrieb.16


Autorin

Dr. Alice Keller

Assistant Director, Collections & Resource Description
Bodleian Library, Oxford University Library Services
Oxford OX1 3BG, England
alice.keller@ouls.ox.ac.uk


Anmerkungen

1. The London Literary Gazette and Journal of Belles Lettres, Arts, Sciences, Etc. (London, 1824), p.659.

2. T.S Arthur, Friends and Neighbours, or, Two Ways of Living in the World (Philadelphia: Beck & T. Bliss, 1856) [p.301].

3. Alberto Manguel, The Library at Night (New Haven: Yale University Press, 2008), p.139.

4. Scientific American (27 May 1911).

5. George Watson Cole, „The Ideally Perfect Library,” in: Essays offered to Herbert Putnam: by his colleagues and friends on his thirtieth anniversary as librarian of Congress, 5 April 1929, ed. by William Warner Bishop and Andrew Keogh (New Haven: Yale University Press, 1929), p.113-127.

6. Siehe hierzu auch: Georg Ruppelt, „Zettel-Internet und Granit-Datei,“ B.I.T.online 11, Nr. 4(2008), S.393-400.

7. Lemuel Gulliver, „Travels into Several Remote Nations of the World”; or „Gulliver’s Travels” by Jonathan Swift, first published London, 1726 (amended 1735). Part III: A Voyage to Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib and Japan, Chapter V. Online verfügbar: http://www.jaffebros.com/lee/gulliver/.

8. Kurd Lasswitz, Die Universalbibliothek (Berlin 1904); Online verfügbar: http://gutenberg.spiegel.de/.

9. Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel (Orig. 1941). Online verfügbar: http://www.bibliomaniac.de/fab/prim1/borges.htm

10. „Thousands in scramble for free books after Amazon supplier abandons warehouse”, Mail Online, 28 February 2009; Online verfügbar: http://www.dailymail.co.uk/.

11. Johanna Drucker, „Blind Spots: Humanists must plan their digital future,” The Chronicle of Higher Education. Section: The Chronicle Review 55, Issue 30 (2009): B6; Online verfügbar: http://chronicle.com/free/v55/i30/30b00601.htm.

12. Peter Thompson, „William Bullock’s ‘Strange Adventure’: A Plan to Transform Seventeenth-Century Virginia,” The William and Mary Quarterly 61, no. 1 (2004): p.16; Online verfügbar: http://www.historycooperative.org/journals/wm/61.1/thompson.html.

13. Paul Duguid, „Inheritance and loss? A brief survey of Google Books,” First Monday 12, no. 8 (2007); Online verfügbar: http://outreach.lib.uic.edu/www/issues/issue12_8/duguid/.

14. Robert Darnton, „Google & the Future of Books,” The New York Review of Books 56, no. 2 (February 12, 2009); Online verfügbar: http://www.nybooks.com/articles/22281.

15. George Watson Cole, „The Ideally Perfect Library,” p.127.

16. David Drake, Each of us is a book: Poems for the library minded (Jefferson, NC: McFarland & Co., 2003), p.38.