1969 – Das Jahr, in dem der erste Mensch den Mond betrat

und die Niedersächsische Landesbibliothek die TU Hannover
mit geisteswissenschaftlicher Literatur zu versorgen begann

Edwin Aldrin betrat als zweiter Astronaut den Mond.

von Georg Ruppelt

Frage an die reifere Jugend: Wissen Sie noch, was Sie in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1969 gemacht haben? Zur Erinnerung: Am 21. Juli, 3:56 MEZ, betrat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond mit den Worten: „Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer für die Menschheit.“ Ihm folgte Edwin Aldrin. Michael Collins, der dritte vom „Apollo 11“-Unternehmen, blieb im Mutterschiff.

Aha, jetzt erinnern Sie sich: Sie saßen vor dem Fernseher und verfolgten gespannt …

Es ist dieses eines jener Daten, in denen weltbewegende Ereignisse und die eigene kleine Individualgeschichte ineinander fließen. In denen Bilder oder auch Gehörtes aus der großen, weiten und scheinbar fernen Welt im eigenen Gedächtnis unmittelbar aktiv werden, wobei freilich nicht auszuschließen ist, dass das später tatsächlich Erinnerte von Berichten gefärbt oder gar verändert wurde.

An das Piepsen des ersten Sputnik glaube ich mich noch gut zu erinnern; und man konnte ihn auch sehen, wenn man nächtens vor die Tür trat – selbst in einer größeren Mittelstadt. Die Straßenbeleuchtung ließ damals noch etwas vom Sternenhimmel erkennen.

Auch an angstvolle Stunden vor dem Radio daheim und vor dem Fernseher bei den Nachbarn erinnere ich mich: Kuba-Krise! Und der Jubel, als es hieß: Die Schiffe drehen bei! Ähnlich im Gedächtnis verankert sind bei mir die Ermordung Kennedys (eigentlich hatten wir abends mit zwei amerikanischen Austauschschülerinnen eine „Fête“ feiern wollen) und der Fall der Mauer (ich lümmelte vor dem Fernseher und traute meinen Ohren nicht).

Viele dieser Bilder im Kopf haben etwas mit der Ost-West-Spannung, mit der geteilten Nachkriegswelt zu tun. Die heute 30- bis 40-Jährigen können dies nicht nachvollziehen – Gott sei Dank! Aber für die Menschen meiner Generation (60+) gehörte der „Eiserne Vorhang“ zur täglichen Realität. Die Welt hörte im Osten irgendwie auf. (Wie es aus Sicht von der anderen Seite war, darüber können nur Betroffene berichten.) Und ich werde mich immer an meine Verblüffung erinnern, wenn ich nach 1989 feststellte, wie nah doch vieles, ja eigentlich alles war, was vorher so unerreichbar schien. Und das gilt nicht nur für den Brocken, den man von meiner niedersächsischen Heimatstadt aus gut sehen, aber nimmermehr erreichen konnte.

Wie bildete sich diese Ost-West-Spannung eigentlich in den beiden wichtigen bibliothekarischen Fachzeitschriften jener Zeit ab, so fragen wir einmal ganz naiv, uns freilich dabei erinnernd, dass in der letzten, etwas frechen Glosse in dieser Zeitschrift über das Jahr 1959 schon einiges dazu gesagt wurde.

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Doch bevor wir uns dieses Vergnügen gönnen, hier noch einige wenige Daten aus der nichtbibliothekarischen Welt von 1969:

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Und nun zur
Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Zweimonatsschrift. Hrsg. von C. Köttelwesch unter Mitwirkung von W. Grunwald, D. Oertel, G. Pflug, D. Poggendorf, H. Striedl, W. Totok. Jg. 16. Frankfurt am Main: Klostermann, 1969 (ZfBB).

Und zum
Zentralblatt für Bibliothekswesen. (Verantwortlicher Redakteur: Leonhard Hoffmann. Redaktionsbeirat: Burghard Burgemeister, Werner Dube, Horst Kunze, Helmut Rötzsch, Gerhard Schwarz, Oskar Tyszko, Heinz Werner.) 83. Jg. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, 1969 (ZfB).

Spielen also die Ost-West-Auseinandersetzungen eine Rolle in den beiden Zeitschriften? Die Antwort ist: Ja, aber marginal. Um es kurz zu machen: Beide Zeitungsjahrgänge sind Kinder ihrer Zeit, aber es geht ihnen fast immer um die Sache; es sind erstens, zweitens und drittens Fachzeitschriften und nur gelegentlich spiegeln sich die politischen Zeitläufte in ihnen wieder.

Viele Artikel würde man ohne Herkunftsnachweis nur schwer dem einen oder anderen Publikationsorgan zuordnen können. Bibliothekarische Fachkompetenz, Berufsethos und sachlich orientierte Denk- und Schreibweisen dominieren beide Hefte. Und ich glaube mich recht zu erinnern, dass dies auch die Gründe dafür waren, dass bibliothekarische Begegnungen auf der Arbeitsebene zwischen den Systemen meistens durchaus ergiebig waren.

Es gibt in beiden Zeitschriften eine große Ausnahme von dieser Regel, das ist die Berichterstattung über die 34. Generalversammlung der IFLA bzw. der IVBV, des Internationalen Verbandes der Bibliothekarvereine, so die Diktion von ZfB, vom 18. bis 24. August 1968 in Frankfurt am Main. Schon im Vorwege hatte es diplomatische Auseinandersetzungen innerhalb der IFLA um die „völlig gleichberechtigte“ Behandlung der DDR-Delegation gegeben (ZfB, S.88).

Und dann marschierten Truppen der UdSSR, Bulgariens, Polens und der DDR in die CSSR ein. Dieses Ereignis spiegelt sich in den Konferenz-Berichten von Jochim Wieder (ZfBB) sowie Helmut Rötzsch und Gerhard Pomaßl (ZfB) wie folgt wider:

ZfB, S. 96: „Das zur Sicherung der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der CSSR notwendige Eingreifen befreundeter sozialistischer Länder am 21. August führte, unterstützt durch die provozierende westdeutsche Presse, bei einigen Teilnehmern aus kapitalistischen Ländern während der Tagung zu einer gewissen Hektik und Nervosität, die jedoch den ordnungsgemäßen Ablauf dank der besonnenen Haltung der Delegationen aus den sozialistischen Ländern und der Veranstaltungsleitung nicht behindern konnten. Lediglich während der Abschlußveranstaltung wurde eine Resolution einiger kleinerer europäischer kapitalistischer Staaten vorgetragen, in der das Präsidium gebeten wurde, ‚angesichts der gegenwärtigen Umstände, Ort und Zeit der nächsten IFLA-Konferenz zu einem späteren Zeitpunkt zu bestimmen’. Dazu ist zu bemerken, daß bereits auf der vorhergehenden Jahrestagung in Toronto 1967 die Einladung der UdSSR an den IVBV, die 35. Generalversammlung in Moskau durchzuführen, angenommen wurde. Es ist im Interesse der weiteren gedeihlichen internationalen Zusammenarbeit sehr zu hoffen, daß das Präsidium der IVBV die Entscheidung über Ort und Zeit der nächsten Tagung nur in Übereinstimmung mit der Sowjetunion trifft.

Trotz der aufgetretenen äußerlichen Schwierigkeiten konnte die Generalversammlung wie geplant zu Ende geführt werden. Den Veranstaltern kann bescheinigt werden, daß sie die Tagung ausgezeichnet organisiert und vorbereitet hatten. Die Pannen bei der Bereitstellung der vervielfältigten Hauptreferate waren nicht ihr Verschulden. Erstmalig waren die Simultanübersetzungsanlagen mit Bibliothekaren besetzt worden, was der Qualität der Übersetzungen sehr zum Vorteil gereichte. Die Vervielfältigung der Materialien der Konferenz mittels moderner reprographischer Einrichtungen klappte reibungslos. Die Bemühungen der Veranstalter beeinflußten die gute Arbeitsatmosphäre des Kongresses maßgeblich.“

ZfBB, S. 194/5: „Abschließend hat der Chronist kurz von den internationalen Auswirkungen der sowjetischen Intervention in der CSSR zu berichten, jenes tragischen Ereignisses, das inmitten des Verlaufs des Kongresses düstere Schatten auf die IFLA-Veranstaltung warf und diese einer – bei früheren Konferenzen niemals aufgetretenen – schweren Belastungsprobe aussetzte. Trotz der vorübergehend getrübten Atmosphäre konnten die Arbeiten, äußerlich ungestört, fortgesetzt und die Konferenz zum guten Ende geführt werden. Die 12köpfige Delegation der CSSR, der zahlreiche Sympathiekundgebungen galten, nahm bis zuletzt an den fachlichen Beratungen teil und reiste – wie geplant – erst nach dem Kongreß ab. Es konnte allerdings nicht ausbleiben, daß in der abschließenden Vollversammlung einige Erklärungen abgegeben wurden, die sich gegen die bereits im Vorjahr angenommene Einladung zur Tagung 1969 in Moskau wandten. Acht europäische Delegationen, denen sich auch der VDB anschloß, ersuchten den Vorstand, ‚Ort und Zeit der nächsten IFLA-Konferenz zu gegebener Zeit zu bestimmen’. […]

Daß die Frankfurter Konferenz in sachlicher und menschlicher Hinsicht der erwähnten Belastungsprobe zum Trotz als erfreuliches und denkwürdiges Ereignis in die Annalen der IFLA eingehen kann, hängt gewiß auch mit einem Vorrecht der Bibliothekare zusammen, auf das sie stolz sein dürfen: sie dienen ihrer gemeinsamen Sache, ohne sich dabei durch ideologische, weltanschauliche oder politische Gegensätze beirren zu lassen. Im Rahmen der IFLA bilden sie eine weltumspannende Familie, deren Mitglieder in einer Atmosphäre kollegial-freundschaftlicher Verbundenheit und steter Verständigungsbereitschaft ihre fachlichen Angelegenheiten erörtern und die Zusammenarbeit über alle Schwierigkeiten hinweg immer weiter voranbringen. So möge es auch in Zukunft bleiben!“

Was für Sätze! Wir haben einige, anders als im Original, deswegen auch fett gedruckt.

Interessant übrigens, wie hoch die Berichterstatter die Zahl von 406 Teilnehmern in Frankfurt loben, im Vergleich zu 100 in München 1956. Mit einem tiefen Glücksempfinden denkt der Präsident des IFLA-NOK (d. i. das Nationale Olymp…, äh, Organisationskomitee) für 2003 just an dieser Stelle an die über 4600 Teilnehmer in Berlin und grüßt die Kolleginnen und Kollegen des Komitees von dieser Stelle aus herzlich.

Im Übrigen sind die restlichen der 446 Seiten von ZfBB und die 752 von ZfB vor allem den recht prosaischen Anforderungen der Gegenwart und Planungen für die Zukunft gewidmet. Die EDV im Westen und die EDVA im Osten halten mit Macht Einzug in die Bibliotheken, ganz sicher aber jedenfalls in die beiden Fachzeitschriften. Der erste Beitrag in ZfBB heißt „Computereinsatz in Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland“ (Walter Lingenberg), der erste in ZfB „Möglichkeiten für die Modernisierung der materiell-technischen Basis der Bibliotheken“ (Gerhard Schwarz und Hans-Joachim Meister). Es ist der erste wirkliche Beitrag im Jahrgang, wenn wir einmal absehen von der an allererster Stelle stehenden 1 1/2-seitigen „Stellungnahme des Präsidiums des Deutschen Bibliotheksverbandes zur Bibliotheksverordnung des Ministerrates der DDR und zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der Deutschen Demokratischen Republik“ – eine Überschrift, die ich mit Genuss abgeschrieben habe, weil sie es schafft, in nur 22 Worten sechs Genitive unterzubringen.

Was gab es sonst noch?

Kommen wir zum Schluss, zum Schluss auch der beiden Zeitschriftenjahrgänge. Was sind die letzten Meldungen?

Im ZfB sind es Personalnachrichten, u. a. diese:

In der ZfBB sind die letzten Seiten mit Werbung ausgefüllt. Davor kommen die Personalnachrichten und davor kommt die Rubrik „Aus deutschen Bibliotheken“, die ich deswegen erwähnen muss, weil sie mir die zweite Hälfte meines Beitragtitels geliefert hat. Und damit kann ich darauf verzichten, die Hannover betreffende Hauptnachricht aus dieser Rubrik zusammenzufassen, denn das habe ich ja schon in der Überschrift getan. Was für ein sprachlicher Salto!

Ich verbeuge mich und danke für Ihren Applaus.


Autor

Dr. Georg Ruppelt

Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek -
Niedersächsische Landesbibliothek

Waterloostraße 8
30169 Hannover
Georg.Ruppelt@gwlb.de