Warten auf ein „wissenschaftliches iTunes“

Bibliotheken, Archive und Museen stehen in den nächsten Jahrzehnte vor großen Herausforderungen: Nicht nur Bestandskataloge und Neuerscheinungen sollen nach Vorstellung einer neuen, Internet-affinen Nutzergeneration „online“ verfügbar sein – im Zuge der systematischen und flächendeckenden Retrodigitalisierung bildet die digitale Erschließung, Bereitstellung und Sicherung historischer Dokumente einen zentralen Arbeitsschwerpunkt.
      B.I.T.online sprach mit Kay Heiligenhaus, Geschäftsführer des Digitalisierungsspezialisten semantics, über neue Erkenntnisse und Trends bei Digitalisierungsprojekten, über einen aufkommenden Wettbewerbsdruck sowie über das Warten auf ein „wissenschaftliches iTunes“.

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Kay Heiligenhaus, Geschäftsführer von semantics

Heiligenhaus: Auch Server können „abrauchen“, auch Festplatten nach einigen Jahren, bei schlechter Qualität schon nach Monaten, „ihren Geist aufgeben“. Optische Datenträger wie CD und DVD haben sich zur Langzeitspeicherung als ungeeignet erwiesen. Die digitale Speicherung sichert also nicht per se die Langzeitverfügbarkeit von Informationen. Sie schafft allerdings eine wesentliche Voraussetzung dafür, indem sie diese beliebig duplizierbar macht. Von daher kann man sagen: Ja, die Digitalisierung wird zur Pflichtaufgabe, so wie bereits die Mikroverfilmung eine Pflichtaufgabe unter anderen technologischen Voraussetzungen war. Sie dient der Reproduktion unersetzbarer Originale, sie kann diese aber nie ersetzen. Was die Digitalisierung auszeichnet, ist die Möglichkeit, die wesentlichen Informationen zu bewahren, ortunabhängig und redundant zu speichern und vor allem: sie leicht zugänglich zu machen. Das macht ihre Beständigkeit und Verfügbarkeit im Internetzeitalter aus.

Heiligenhaus: Ja, diese Möglichkeit besteht. Unter Umständen ist das jedoch eine bewusste Entscheidung. Wie gesagt, das Unikat ist unersetzbar. Es steht nur an einem Ort zur Verfügung. Damit ist sein Besitzer auch ein Informationsmonopolist: er entscheidet darüber, wer dieses Unikat sehen kann, wann und wie viel davon. Daraus kann sich ein sehr praktikables Geschäftsmodell entwickeln, denn die Liebhaber und Spezialisten werden immer das Unikat aufsuchen wollen – und dafür auch einen Preis bezahlen, wenn sie darauf angewiesen sind. Das mögen Nutzungs- und Reproduktionsgebühren sein oder Reise- und Übernachtungskosten. Die Masse an analoger Information läuft im Internet-Zeitalter jedoch Gefahr, schlicht in Vergessenheit zu geraten. Denn Information stellt hier keinen besonderen Wert an sich mehr dar. Einzig der Zugang zur Information entscheidet über deren (Markt)-Wert. Das hat Google mit seinen Aktivitäten bereits gezeigt. Daran werden auch die letzten Verteidiger einer überkommenen Buchdruckromantik nichts ändern.

Heiligenhaus: Die Förderungslandschaft sieht inzwischen auf nationaler wie internationaler Ebene sehr vielversprechend aus. Wir reden hier nicht mehr über fünfstellige Förderungsbeträge, sondern über Millionen, die die nationalen und EU-weiten Förderungsträger in die Digitalisierung von Bibliotheks- und Archivbeständen investieren. Auf Seiten der Antragsteller sind zwei Dinge primär geboten: Entweder verfügt die digitalisierende Einrichtung über hinreichend forschungsrelevante Mengen von bibliothekarischer und archivalischer „Massenware“ (Stichwort Massendigitalisierung) oder sie verfügt über exquisite Bestände von unikalem und hochgradig forschungsrelevantem Material (Stichwort Boutique-Digitalisierung). Die Zeit der „Jäger und Sammler“ aber ist endgültig vorbei. Es geht nicht mehr um Experimente, die immer wieder neu die Verfahren zu erproben versuchen, Bestände zu digitalisieren oder digital im Netz zu publizieren. Es geht um die Umsetzung praxiserprobter Produktionsabläufe. Hier konnten in den zurückliegenden Jahren bereits hinreichende Erfahrungen im Rahmen der vielfältigen, vor allem DFG-geförderten Initiativen und Schwerpunktbildungen gesammelt werden. Diese gilt es zu nutzen.

Heiligenhaus: Entscheidend sind die Gesamtkosten des Vorhabens und die Nachhaltigkeit eines Angebotes. Dabei spielt die Frage „kommerzielle Lösung“ vs. „Open Source-Lösung“ nur eine untergeordnete Rolle. Erfahrungsgemäß liegen die Kosten für die Digitalisierung von Bibliotheks- und Archivgut, die auf die Softwareanschaffung und Betreuung entfallen, bei etwa 10 % der Gesamtkosten eines Digitalisierungsprojektes. Bei Open Source-Lösungen, das mag überraschen, sind die Kosten häufig deutlich höher. Wenn auch zunächst nicht offensichtlich, versteckt sich doch deren Löwenanteil zumeist in den aufgewendeten Personalmitteln für Installation, Anpassung, Weiterentwicklung und Betrieb. Entscheidend ist aber letztlich die Produktivität der Gesamtlösung. Was nutzt es einer Einrichtung, wenn zwar de facto keine Lizenzkosten anfallen, mangelnde Funktionalitäten aber dazu führen, dass es zu einer sinkenden Effektivität und damit zu einem steigenden Personalaufwand kommt? Für den Entscheider sind also immer die Gesamtkosten zu betrachten. Hier spielen softwaregestützte Verfahren der Automatisierung in der Massenproduktion klar ihre Vorteile gegenüber „Bastellösungen“ aus, die für die Bereitstellung einiger hundert Seiten digitaler Materialien sicherlich ihren Dienst tun.

Heiligenhaus: Dienstleister bieten Know-how in einem inzwischen hochspezialisierten Umfeld. Ein konsortialer Ansatz, wie ihn beispielsweise das hbz verfolgt, sichert dabei den teilnehmenden Einrichtungen eine Reihe von Vorteilen. So können zum einen im Rahmen der zentralen Beschaffung Funktionalitäten zu einem deutlich günstigeren Preis erworben werden. Durch die größere Anzahl von digitalen Objekten, die auf einer gemeinsamen Plattform bereitgestellt werden, wird zum anderen eine deutlich günstigere Kostenkurve bei den laufenden finanziellen Belastungen der Teilnehmer erzielt. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass die Schaffung einer zentralen Hardware-Umgebung und deren Betreuung den Personalaufwand für die einzelnen Teilnehmer minimiert. Dennoch – in der Praxis gilt es im Einzelfall zu entscheiden, ob ein komplettes oder partielles Outsourcing Sinn macht und die Nachhaltigkeit des jeweiligen Projektes unterstützt.

Heiligenhaus: Das ist aktuell ein gleichermaßen heiß wie konträr diskutiertes Thema. Es geht um aktuellste Veröffentlichungen, vor allem in der Medizin, den Natur- und Ingenieurwissenschaften. Ähnlich wie die Musikindustrie müssen jetzt auch die Fachverlage feststellen, dass sie die mediale Revolution verschlafen haben und ihre bislang praktizierten Geschäftsmodelle den Erfordernissen des Marktes nicht mehr entsprechen. Die Situation ist verworren. So sehen wir zurzeit, dass an allen Stellen schlichtweg Fakten geschaffen werden, die nun vor den Gerichten auszutragen sind. Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber doch noch zu einer klaren Formulierung der rechtlichen Grundlagen finden wird, auf der Bibliotheken und Verlage agieren können. Jenseits der aktuellen Debatten kann es aber letztlich nur um einen Interessenausgleich zwischen den Parteien gehen. Es nutzt den Bibliotheken wenig, wenn sie zwar alles im Netz bereitstellen und zum „kostenlosen Download“ zur privaten und wissenschaftlichen Nutzung anbieten können, dadurch absehbar jedoch die Geschäftsgrundlage für diejenigen Produzenten entzogen wird, die diese Inhalte allererst schaffen: die Autoren. Andererseits nutzt es den Verlagen wenig, wenn sich die Nutzer von abwegigen Geschäftsmodellen abwenden. Wir alle warten folglich auf ein – ich nenne das mal salopp – „wissenschaftliches iTunes“, das die Nutzungsmöglichkeiten hochwertiger Inhalte zu einem fairen Preis mit allen Vorteilen der digitalen Distribution und Weiterverwendung von Informationen ermöglicht.