„Alle Macht den Nutzern von Bibliotheken“
- Dr. Klaus Ceynowa im Gespräch mit B.I.T.online
Herr Dr. Ceynowa, die Bayerische Staatsbibliothek (BSB) ist eine der größten und wichtigsten Bibliotheken in Deutschland und genießt aufgrund ihrer umfassenden und wertvollen Sammlungen auch internationales Ansehen. 2008 wurde sie für ihre innovativen Dienste mit dem Titel „Bibliothek des Jahres 2008“ ausgezeichnet. Seit 2006 ist sie auch OCLC Governing Member und beteiligt sich am OCLC WorldCat. WorldCat verzeichnet inzwischen über 130 Millionen bibliografische Einträge und mehr als 1,3 Milliarden Bestandsnachweise. Seit 2007 hat die BSB selber über acht Millionen Einträge in WorldCat geladen. Immer mehr Nationalbibliotheken und Verbünde folgen dem Beispiel der BSB. Wo sehen Sie die Hauptvorteile einer solchen weltweiten bibliografischen Sammlung?
Dr. Ceynowa: WorldCat ist in der Tat eine sehr mächtige Ressource und im Bereich der bibliografischen Metadaten nach meiner Auffassung die weltweit bedeutendste und damit auch die einzige, die eine wirklich internationale Webpräsenz und Sichtbarkeit im Internet erreichen kann und mit WorldCat.org auch bereits erreicht hat. Darüber hinausgehend integriert der WorldCat seinen Content hervorragend in die großen Suchmaschinen und sogenannten Aggregatoren im Web wie z. B. Google und Yahoo und bietet zudem eine Fülle personalisierter Dienste um das eigentliche Metadatenangebot herum an. Gleichzeitig führt die Funktion „Find in a Libary near you“ die User immer wieder zurück auf die lokalen Bestände. Insgesamt ist der WorldCat daher für Bibliotheken nach meiner Meinung eine sehr große Chance, ihre Sichtbarkeit im Internet signifikant zu verbessern.
Diese Verbesserung der „Visibility“ im Netz, die OCLC ja selber „Building Webscale for Libraries“ nennt, stellt ja auch die generelle Produktstrategie von OCLC dar. Darüber hinaus, und das halte ich für sehr wichtig, arbeitet OCLC konsequent daran, den WorldCat in State of the Art-Internettechnologien zu integrieren. Das jüngste Beispiel hierfür ist die Adaption der WorldCat-Nutzeroberfläche für mobile Endgeräte speziell für das iPhone, und hiervon profitieren selbstverständlich auch alle Teilnehmer am WorldCat beträchtlich.
Was sind die Motive der BSB an WorldCat teilzunehmen?
Dr. Ceynowa: Die Motive unseres Hauses sind eigentlich schon genannt. Hinzu kommt für uns natürlich, dass der Bestand der BSB nicht nur von den schieren Zahl her beeindruckend ist, sondern eben auch einen seit 450 Jahren systematisch und nach wissenschaftlichen Kriterien aufgebauten Textkorpus darstellt. Wir haben also dem WorldCat nicht nur noch mehr Holdings, sondern eben vor allem auch genuin neue Records zu bieten. Ca. 50 % der geladenen Titel der BSB waren für den WorldCat ja neue und unikale Werke. Das wertet einerseits natürlich WorldCat auf, zeigt andererseits aber auch, wie wichtig es für die BSB ist, diese einzigartige Ressource „Webscale“ zu bringen. Vielleicht sollte ich auch sagen, dass sie die Qualität unseres Bestandes gerade jetzt ganz aktuell auch an der Nutzung eines anderen OCLC-Dienstes sehen. Wir sind ja seit zwei Tagen im Probebetrieb, d. . komplett ohne Werbung oder Marketing, Teilnehmer von WorldCat-Ressource Sharing und haben bereits in diesen zwei Tagen mehr als 160 Bestellungen bekommen. Wenn das so weitergeht, haben wir in der Tat ein ganz neues Produkt in unserem BSB-Portfolio.
Im Herbst 2009 werden die Mitglieder über die überarbeitete Richtlinie zum Gebrauch und Transfer von WorldCat-Records entscheiden. Seit geraumer Zeit sammelt und koordiniert das vom Board of Trustees und Members Council eingesetzte Review Board Vorschläge der Mitglieder. Welche Chancen sehen Sie darin, dass der Entwurf für die neuen Richtlinien von den Mitgliedern aktiv mitgestaltet wird?
Dr. Ceynowa: Diese neue Richtlinie wurde meines Erachtens von OCLC dem Members Council im Herbst 2008 ziemlich überhastet vorgelegt und sollte, so war zumindest der Eindruck zahlreicher Member, mal eben so durch gewunken werden. Das hat natürlich zu massiven Irritationen geführt, zumal die Richtlinie in Form einer rechtsverbindlichen Regelung daherkommt, was nicht so gut zum Selbstverständnis von OCLC als einer Mitgliederkooperative passt. Insgesamt besteht wohl bei vielen Mitgliedern OCLC‘s jetzt der Verdacht, dass hier, wenn auch nicht unbedingt ein Monopol auf bibliografische Daten geschaffen werden soll, aber doch zumindest verhindert werden soll, dass die Bibliotheken ihre Daten völlig frei im Netz und damit eben auch zur Nutzung durch andere Aggregatoren anbieten können. Wie man praktisch mit dieser Policy umgehen soll, vor allen Dingen wie man unterscheiden soll, was jetzt ein eigenes Katalogisat ist – diese berühmte Formel vom „Original Cataloging“ –, das man also frei distribuieren kann, und was auf der anderen Seite ein WorldCat-Derived-Katalogisat ist, das ist mir zumindest schleierhaft. Als Beispiel: Die BSB lädt einen von ihr genuin katalogisierten Titel in den WorldCat, dieser wird dort von einer anderen Bibliothek mit weiteren Metadaten angereichert und die BSB lädt ihn dann irgendwann wieder herunter; durch dieses Herunterladen aus WorldCat ist er dann selbstverständlich WorldCat-Derived und wir dürften ihn nach der derzeit vorliegenden Fassung der Policy nicht mehr völlig frei im Web verbreiten.
Wie beurteilen Sie die Erfolgsaussichten für eine für alle Seiten zufriedenstellende Lösung?
Dr. Ceynowa: Eine solche Lösung setzt meines Erachtens zunächst voraus, dass der neuen Policy der Charakter eines rechtsverbindlichen Dokuments genommen wird, sodass hier eben nicht mehr diese fatale und vielleicht angsteinflößende Option im Raum steht, dass OCLC seine Mitglieder juridisch belangen kann. Die Policy sollte nach meiner Meinung den Charakter einer freiwilligen Verständigung auf die gute Praxis des Catalog-Data-Sharing haben und eben auf der Freiwilligkeit einer seit bald einem halben Jahrhundert erprobten Bibliothekskooperative beruhen. Losgelöst von diesen Feinheiten denke ich, dass OCLC grundsätzlich klar sein sollte, dass man im Internet Geld nicht verdienen kann mit der Monopolisierung von Content, sondern mit einzigartigen, auf Alleinstellungsmerkmalen beruhenden Services, die auf diesen Content aufsetzen. Und ich denke, es sollte uns als Teilnehmern auch klar sein, dass wir Bibliothekare zumindest mittelfristig unsere Kataloge durchaus auch als freie Public Domain-Produkte zur nichtkommerziellen Nachnutzung durch jedermann anbieten sollten. Wir können eben nicht laut Open Access für die Dokumente selber fordern, aber bei den Metadaten zu diesen Dokumenten eine restriktive Politik fahren. Insgesamt denke ich, dass sich OCLC einen sehr großen Schritt weit von seiner ursprünglich anvisierten Policy wird entfernen müssen, um die Zustimmung der Mitglieder zu erreichen.
Seit 1998 ist die Zahl der teilnehmenden Bibliotheken an OCLC WorldCat kontinuierlich gestiegen. Von 1999 bis 2007 ist die Zahl der Teilnehmer außerhalb der Vereinigten Staaten von 3.200 auf fast 12.000 gewachsen. OCLC hat auf die veränderte Gewichtung reagiert und die Leitungsstruktur neu geregelt. Neben dem überregionalen Global Council wird es zukünftig Regional Councils geben. Sie und andere Delegierte arbeiten gerade an der Struktur und Ausrichtung dieser neuen Organisationsform. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Dr. Ceynowa: Diese Entwicklung war zwingend, da OCLC ja faktisch ein global agierendes Unternehmen geworden ist mit einer Vielzahl weltweit verteilter Partner, die auch unter ganz unterschiedlichen Handlungsbedingungen agieren. Wir unterscheiden zurzeit drei Regionen, das sind zu einem die „Americas“ mit den Vereinigten Staaten, Südamerika und der Karibik, zum zweiten OCLC Asia-Pacific, und zum dritten OCLC EMEA – was für Europe, Middle East, Africa steht. In diesen Regionen bearbeitet OCLC sehr differente Geschäftsfelder. Im amerikanischen Sprachbereich liegt der Schwerpunkt auf dem WorldCat und die mit ihm verbundenen Dienste. Im europäischen Bereich sind es die Integrated Library Systems (ILS) und im Bereich Asia Pacific ist es eine ganze Bandbreite diverser Produkte. Dies alles in einer einzigen, die Mitglieder repräsentierenden Institution zu bündeln, eben im Members Council, wurde in den zurückliegenden Jahren ja offenbar zusehends schwierig. Die Regional Councils stellen nun gleichsam die Lokalisierungskomponente dieses globalen Unterfangens dar.
Welche Chancen und Möglichkeiten werden diese Regional Councils für europäische und deutsche Mitgliedsbibliotheken bieten?
Dr. Ceynowa: In dem diese Regional Councils gerade die spezifischen Anforderungen der verschiedenen Regionen über das Regional Council in das Global Council und auch zu der Unternehmensexekutive in Dublin/Ohio kanalisieren, wird natürlich der regionale Einfluss und damit auch die Partizipationschance für deutsche Mitgliedsbibliotheken deutlich höher. Allerdings sollte man nicht übersehen, das „unsere“ Region, also EMEA, wiederum ein Konglomerat sehr unterschiedlicher Kundengruppen und Produktschwerpunkte in einer geographisch extrem diversifizierten Struktur darstellt.
In der Ausgabe 1/2009 der B.I.T.online sagte die Generaldirektorin der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt und Mitglied im OCLC Board of Trustees, Frau Dr. Niggemann im Interview: „Alle Macht den Bibliotheken.“ Sie sind selbst Delegierter des OCLC Members Council. Teilen Sie die Ansicht von Frau Dr. Niggemann?
Dr. Ceynowa: Den genauen Zusammenhang dieser Aussage kenne ich nicht, aber als Bibliothekar gefällt mir diese Aussage natürlich sehr gut. Noch besser finde ich allerdings: „Alle Macht den Nutzern von Bibliotheken.“ Und ich sehe gerade hier eine wichtige Funktion des Member Councils bzw. in Zukunft des Global Councils auch und gerade jenseits der formalen Funktionen dieses Councils wie etwa des Rechtes, ein bestimmtes Kontingent von Mitgliedern des Board of Trustees zu bestimmen. Das Members Council oder Global Council ist eben die Stimme der Kooperative in und manchmal auch gegenüber OCLC als Unternehmen. Selbstverständlich muss OCLC als Unternehmen trotz der grundsätzlichen Not-For-Profit-Ausrichtung am Markt funktionieren. Und da ist es immer eine Frage des Austarierens, des Abwägens, wie diese Unternehmensziele und die Ziele, die die Mitglieder als OCLC-Kooperative haben, hier in Einklang zu bringen sind. Wenn Sie nach einem Beispiel für die Einflussmöglichkeiten fragen: Gerade die derzeitige Diskussion um die WorldCat-Record-Policy ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie die Stimme der Mitglieder über das Members Council sehr deutlich artikuliert werden kann und dann auch gehört wird.
Was sind Ihre Erfahrungen bezüglich der internationalen Zusammenarbeit?
Dr. Ceynowa: Ich kann das nur stichwortartig zusammenfassen. Die Erfahrungen sind ganz ausgezeichnet. Die Meetings des Council sind sehr professionell vorbereitet. Es ist eine sehr große Bandbreite von strategischen wie auch operativen Themen, die dort jeweils angesprochen werden. Es geht auch immer sehr klar darum, wo sich OCLC in Zukunft hinbewegen will. Hilfreich ist auch immer der Bericht von CEO Jay Jordan selbst, der sich sehr offen der Diskussion stellt. Spannend sind natürlich auch die informellen Kontakte zwischen den Veranstaltungen und Vorträgen zu Kollegen weltweit, und gerade aus der europäischen Perspektive gewinnt man auch ein vertieftes Verständnis für die gesamte amerikanische Bibliotheksszene.
Einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 18.März 2009 zur Folge verzeichnet die BSB Nutzungsrekorde. Sowohl Nutzerzahlen, Ausleihen, Fernleihen und insbesondere Zugriffe auf den OPAC sind deutlich (10,6 % plus) angewachsen. Welche Ziele verfolgt die BSB sowohl national als auch international in naher Zukunft?
Dr. Ceynowa: Wir verstehen uns ja als eine der großen europäischen Universalbibliotheken und selbstverständlich auch als internationale Forschungsbibliothek und wir werden in dieser Funktion in den kommenden Jahren vor allem unsere konsequente Digitalisierungsstrategie weiter vorantreiben. Wir werden mit Sicherheit noch mehr Ressourcen, und zwar sowohl personell wie auch finanziell, in den Bereich der digitalen Langzeitarchivierung investieren. Wir werden auch einen sehr dezidierten Schwerpunkt im Bereich von Services für das elektronische Publizieren, vor allen Dingen für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, setzen. Außerdem werden wir natürlich auch weiter arbeiten auf dem Felde des Internets der Zukunft, das wir vor allen Dingen als mobiles und als 3D-Internet sehen. Hier dürfen Sie sich z. B. auf einen virtuellen Showroom mit voll manipulierbaren 3D-Ansichten von Spitzenstücken unserer Sammlung freuen. Natürlich bleiben wir auch die Bayerische Staatsbibliothek mit unverzichtbaren Diensten für den Wissenschaftsstandort Bayern und selbstverständlich auch als maßgebliche lokale Destination für Wissenschaftler und Studierende hier in München.