Die Bibliothek – ein Ort von Menschen für Menschen

Ingrid Bussmann ist Expertin für Bibliotheksbau und EDV in Bibliotheken. Seit August 2001 ist sie Direktorin der Stadtbücherei Stuttgart und maßgeblich an der Entwicklung des Konzepts und des Raumprogramms für die Bibliothek 21 beteiligt. Im B.I.T.online-Interview spricht sie über die Zukunft der öffentlichen Bibliothek, die Motivation von MitarbeiterInnen, interkulturelle Angebote, Bibliothek 2.0 und „ihre“ neue Bibliothek 21. Die Fragen stellte Wolfgang Ratzek.

Ingrid Bussmann: Der Architekt bezeichnete die Bibliothek kürzlich als eine Arche Noah des Wissens. Traditionell bewahren Bibliotheken Wissen und machen Wissensquellen zugänglich. Zukunft braucht immer auch Vergangenheit, aus der sie sich entwickelt. Das selbstbewusste Einstehen für die Bedeutung der Printkultur gehört heute genauso zur Bibliothek wie die Vermittlung von digitaler Lesekompetenz, also die kritische Reflexion der digitalen Entwicklungen. Die Bibliothek heute entwickelt sich mehr und mehr zu einem Ort der Vermittlung von Kompetenzen im Bereich der Lese- und Sprachförderung sowie der Informationskompetenz. Und sie ist ein Ort der Begegnung für den offenen und freien Wissensaustausch. Was in den verschiedenen Internetforen geschieht, kann die Bibliothek als realer Ort bieten. Die Bibliothek nimmt in der Kommune eine zentrale Funktion für die Menschen ein. Sie ist einer der wenigen öffentlichen Orte, die selbstbestimmt genutzt werden können und dem Einzelnen ermöglichen, am öffentlichen Leben teilzuhaben, ohne öffentlich zu sein. Die Bibliothek ist heute und in Zukunft ein Ort von Menschen für Menschen.

Ingrid Bussmann: Die Antwort ist sehr subjektiv, je nachdem, aus welcher Perspektive man antwortet. Für mich schafft eine gute Leitung die Balance zwischen Vision und Realität. Antoine de Saint Exupery soll gesagt haben, wenn du ein Schiff bauen willst, schicke die Leute nicht zum Holzsammeln, sondern entzünde ihre Sehnsucht für das weite Meer.

Eine gute Leitung muss ein Bild von der Zukunft haben und den Mitarbeitern eine Perspektive aufzeigen. Sie muss Ziele setzen und mit den Mitarbeitern gemeinsam den Weg in die Zukunft gestalten. Natürlich muss sie auch die Realitäten sehen und kluge politische Strategien entwickeln, um den Zukunftsweg zu ermöglichen. Sie muss nicht nur die MitarbeiterInnen, sondern auch die Politiker, die Verwaltung und die Öffentlichkeit von der Bibliothek begeistern. Und sie muss dazu anleiten, die Arbeit effizient und wirtschaftlich zu erledigen.

Ingrid Bussmann: Ich habe mal in einem Führungsseminar gelernt, dass man Mitarbeiter nicht motivieren kann. Die Motivation kommt aus der Person, aber man kann Rahmenbedingungen schaffen, die den MitarbeiterInnen das Gefühl geben, eine sinnvolle Arbeit zu tun und Anerkennung für ihren Einsatz zu finden. Dazu gehört ein positives Feed-Back auch für die Alltagsarbeit, Spielraum, um eigene Ideen zu gestalten (natürlich im Rahmen der Zielvorgaben) und die Chance, den Erfolg für die eigenen Ideen auch selbst erfahren zu können. Natürlich muss man Leistung auch einfordern. Aber die Förderung von MitarbeiterIinnen trägt sehr zur Motivation und Leistungssteigerung bei, das kann die Teilnahme an einer Fortbildung sein oder eine Studienreise oder ein Erfahrungsaustausch mit Kollegen in anderen Bibliotheken, die Teilnahme an Arbeitskreisen als Vertreterin der Bibliothek oder kleine Projekte. Ob die sogenannte leistungsbezogene Bezahlung zu dieser Motivierung beiträgt, ist eher fraglich. Man muss den MitarbeiterInnen das Gefühl vermitteln, dass man ihnen etwas zutraut. Dann bekommt man in der Regel sehr viel zurück.

Ingrid Bussmann: Stuttgart ist in der Tat eine der Städte mit dem höchsten Migrantenanteil. Und die Bibliothek gehört zu den Orten mit der höchsten Nutzung durch Migranten.

Insbesondere Schüler nutzen die Chance zum gemeinsamen Lernen in der Bibliothek, unterstützen sich gegenseitig bei Hausaufgaben oder Lernen miteinander. Viele Migranten erzählen uns, dass sie durch die Bibliothek und ihr Medienangebot ihre Deutschkenntnisse vertiefen konnten. Unsere fremdsprachige Literatur für Kinder wird intensiv genutzt, denn man weiß heute, dass der Elternsprache eine wichtige Rolle im Erlernen der deutschen Sprache zukommt. So fördern wir auch das Vorlesen in den Elternsprachen oder Angebote wie zweisprachige Bilderbuchkinos.

Migranten haben – wie alle Kunden der Bücherei – sehr unterschiedliche Bedürfnisse. Wir bieten daher auch Begegnungen mit Autoren aus den Herkunftsländern wie der Türkei oder der Slowakei an. In den Stadtteilbüchereien bestehen internationale Gesprächskreise, wir kooperieren mit den verschiedenen Initiativen zur Integration. Und im Moment arbeiten wir an einem Grundsatzpapier mit Leitlinien für unsere interkulturellen Angebote.

Ingrid Bussmann: Die Grundidee der „Ateliers“ war, systematikübergreifende Sinnzusammenhänge zu schaffen, die sich an den Nutzungsbedürfnissen der Kunden orientieren. Dieses Konzept ist nun etwa zwölf Jahre alt und wir sind im Moment dabei, die Atelierstruktur für die neue Bibliothek neu zu bedenken.

Ingrid Bussmann: Was ist die „Bibliothek 2.0“? Ich bin da sehr kritisch, wenn ich den Eindruck gewinne, dass Bibliotheken aktuelle Trends aufgreifen, nur weil es gerade Mode ist. Wir diskutieren in Stuttgart alle neuen Entwicklungen sehr intensiv. Und gerade die Entwicklungen im Internet sind auch dringend kritisch zu hinterfragen. Wir haben gerade mit sehr großem Erfolg ein Datenschutzfestival gemacht mit neun Workshops für Kinder, Schüler und Multiplikatoren und drei Abendvorträgen zum Thema. Damit haben wir einen Diskurs angestoßen zu den Hintergründen der Web 2.0-Entwicklungen und der Frage, was eigentlich mit all den Daten im interaktiven Netz geschieht, wer da welche Interessen vertritt und wie man sich schützen kann. Ich denke, in der gesamten Diskussion sollten sich Bibliotheken mehr fragen, was eigentlich ihre ureigenste Stärke ist und welche Angebote sie machen können, die andere nicht machen.

Ingrid Bussmann: Natürlich bietet unsere Homepage aktuelle Möglichkeiten wie RSS-Feeds, wir haben einen Blog zur neuen Bibliothek eingerichtet. Wir bieten Medientipps als Blogs und Zugänge zu freien e-Books. Wir konzentrieren uns darauf, das Wissen, das im Kontext unserer Kultur- und Bildungsangebote entsteht, im Netz festzuhalten, wie unsere Audiobooks und Mitschnitte oder Manuskripte von Vorträgen – das sind einmalige Angebote, die sonst niemand bieten kann, und sie werden sehr intensiv genutzt. Wir werden diese Rolle der Bibliothek als Produzent von Wissen in der neuen Bibliothek noch intensivieren.