Alte Bücher im Kunstverein und im Internet

Die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek experimentiert mit einem neuen Ausstellungskonzept

Leibniz' vier-Spezies-Rechenmaschine

von Georg Ruppelt

Gottfried Wilhelm Leibniz wird gern in die vordersten Ränge der Ahnenreihe derjenigen gestellt, die als Vorbereiter von programmgesteuerten Rechenmaschinen, vulgo Computer, gelten. Ganz richtig ist das nicht, aber ganz falsch auch nicht. Als einer der „Erfinder“ des Binärcodes – die „Dyadik“, wie er ihn nennt – und als jemand, der die erste Vier-Spezies-Rechenmaschine entwickelte, kann man ihn schon mit einiger Berechtigung in diesen historischen Zusammenhängen betrachten. Seine unkonventionellen, Jahrhunderte weit voraus greifenden genialen Ideen, sein Motto „theoria cum praxi“ und mehr noch sein stürmisches Kommunikationsbedürfnis, das seinen Niederschlag u. a. in einem 15.000 Stücke umfassenden Briefwechsel mit 1.100 Korrespondenten in fast allen Erdteilen fand – dies alles lässt ihn durchaus modern und wenn schon nicht als Zeitgenossen, so doch wenigstens als Gesinnungsgenossen unseres Computer-Zeitalters erscheinen.

Nun sind die Aufgaben einer Bibliothek nicht nur die des Sammelns, Bewahrens und Bereitstellens, sondern auch die des Präsentierens und des sinnlichen Vermittelns – das jedenfalls meint der Verfasser dieses Beitrages. Er meint weiter, dass es sogar ihre Pflicht sei, wie es das Recht der Öffentlichkeit sei, dies einzufordern. Doch wie soll man über 300 Jahre alte handschriftliche Briefe, in denen der Binärcode beschrieben wird, wie das weltweit einzig erhaltene Exemplar der Leibniz’schen Rechenmaschine, wie mittelalterliche Pergamenthandschriften, Inkunabeln, alte Karten und Atlanten der Öffentlichkeit präsentieren, wenn man in der eigenen Bibliothek nicht die dafür notwendigen konservatorischen und sicherheitstechnischen Bedingungen vorfindet?

Eine Möglichkeit ist es, einen anderen Ausstellungsort als die Bibliothek zu wählen, einen, der all diese Voraussetzungen bietet und von einer professionellen Mannschaft betrieben wird. Die Leibniz-Begeisterung in Hannover anlässlich der Übergabe der UNESCO-Weltdokumentenerbe-Urkunde an die Bibliothek und die oben beschriebene Sachlage führten dazu, dass der Direktor der kestnergesellschaft in Hannover, eines der renommiertesten Ausstellungshäuser der Bundesrepublik, dem Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (GWLB) sein Haus als öffentlich zugängliche Schatzkammer anbot. Hinzu kam die Absicht junger Kuratoren des Kunstvereins, der die kestnergesellschaft ist, die Internet-Plattform YouTube einmal „irgendwie“ auf ihre Kunstaffinität oder was auch immer öffentlich abzuklopfen. So sollte es sein, und zwar vier Wochen lang, von Mitte Januar bis Mitte Februar 2009! Titel der Ausstellung: „Bookmarks. Wissenswelten von der Keilschrift bis YouTube“.

Ein Team aus beiden Häusern entwickelte innerhalb eines halben Jahres in vielen kreativen, anstrengenden und vergnügten Sitzungen ein Ausstellungskonzept, das die Gesamtveranstaltung in drei Bereiche gliederte.

Erstens: In der „Schatzkammer“ präsentierte die GWLB etwa 40 ihrer kostbarsten Exponate, darunter solche, die bisher nie öffentlich gezeigt worden waren (s. o.).

Zweitens: Im „Labor“, einem gleichgroßen Saal in unmittelbarer Nähe zur Schatzkammer, wurden mit Hilfe einer großen Leinwand und mehreren opulent ausgestatteten Computerstationen Möglichkeiten geschaffen, um allein oder in Gruppen über die Ausstellung, über YouTube und und und … zu debattieren.

Drittens wurden als weiterer Teil des Gesamtkonzeptes nicht weniger als 25 „Vorträge“, d. h. übersetzt lectures, angeboten, diese auch in Zusammenarbeit mit der Leibniz Universität Hannover, also während der Dauer der Ausstellung fast täglich einer.

Die Zusammenarbeit in der Vorbereitungs- wie in der Präsentationszeit war eine Freude. Für den Schreiber dieser Zeilen, der seit 1977 regelmäßig mehr oder weniger aktiv an Ausstellungen beteiligt ist, gehörten diese Monate zu den angenehmsten und fröhlichsten, die er in diesem Zusammenhang erlebt hat. Bibliotheksangehörige und Kunstmanager hatten je andere Sichtweisen auf die Dinge, was sich nach anfänglichen kollegialen Flapsigkeiten auf den Gegenstand ausgesprochen positiv auswirkte.

Textbezogenheit, Literaturnähe hier, Sinn für Ästhetik und Inszenierung dort. Diese nun wirklich einmal synergetisch zu nennende Arbeitsweise führte dazu, dass die Kostbarkeiten der Bibliothek als Kunstwerke ausgestellt wurden und so ihre Schönheit und vor allem ihre Aura als sanft erleuchtete Solitäre in der tiefschwarz ausgekleideten und abgedunkelten Schatzkammer entfalten konnten. Welch ein Erlebnis, die Leibniz’sche Rechenmaschine in ihrer ganzen Pracht als Schmuckstück und Mittelpunkt der Ausstellung erleben zu dürfen! Keine Beschriftung am Objekt lenkte vom Eindruck des Buches, der Handschrift, der Karte ab. Das Buch – ein Kunstwerk! Mit Saalzetteln und einem Begleitband konnte der Besucher sich dennoch über die Exponate klug lesen.

Mehr noch erfuhr und erfährt der Interessierte aber noch aus dem Internet. Dort sind alle Exponate nicht nur ausführlich beschrieben, sondern auch mit teilweise bewegten Abbildungen dokumentiert. Der Besucher kann, was ihm in üblichen Buchausstellungen nicht möglich ist, in den kostbaren Stücken „blättern“, jedenfalls virtuell. Und alles bleibt im Netz, das so überdies der Ausstellung Dauerhaftigkeit verschafft.

Dauerhaft sind aber nicht nur die Kostbarkeiten der Bibliothek im Netz präsent, dauerhaft sind dort auch die Eröffnungsreden und die Vorträge zugänglich. Fast alle lectures wurden per Camcorder aufgenommen und in YouTube gestellt. Manches ist darunter, was gerade für die derzeitige Diskussion um Digitalisierung, Urheberrechte etc. interessant sein dürfte.

Die Ausstellung war ein spektakulärer Erfolg, gelobt von den Medien der niedersächsischen Metropole und besprochen von allen überregionalen Tageszeitungen. Andrang herrschte in der kestnergesellschaft vor allem am Wochenende und da besonders am Sonntag. Klar, das ist der Museumstag! Tausende von Besuchern, alte und junge, bewunderten die Kostbarkeiten und spielten im Labor. Und es war rührend zu sehen, wie 10-jährige Mädchen und Jungen ihre Omas und Opas vor den Bildschirm zogen, wo diese über YouTube staunten – für die Kinder eine Alltäglichkeit.

Das Experiment Bibliotheksausstellung im Kunstverein hat sich gelohnt, für beide Partner, und für die Besucher und die Internetbesucher sicher auch. Die Beteiligten haben viel gelernt; dieses Experiment hat uns bereichert durch Wissen, Ideen, Lebensfreude und menschliche Kontakte. Sehr viel Besseres wird man von einem Projekt kaum sagen können.

Die Ausstellung online:
www.youtube.com/bookmarks2009
www.bookmarks2009.de
www.gwlb.de


Autor

Dr. Georg Ruppelt

Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek -
Niedersächsische Landesbibliothek

Waterloostraße 8
30169 Hannover
Georg.Ruppelt@gwlb.de