Publikationsstrategien einer Disziplin:
Mathematik in Kaiserreich und Weimarer Republik

Hrsg. Volker R. Remmert; Ute Schneider


- Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. 220 S.
(Mainzer Studien zur Buchwissenschaft; 19)
ISBN 978-3-447-05805-6. € 58,00

Das Forschungsprojekt „Eine Disziplin und ihre Verleger: Formen, Funktionen und Initiatoren mathematischen Publizierens in Deutschland, 1871-1949“ und die daraus resultierende Tagung „Rahmenbedingungen mathematischen Publizierens in Deutschland 1871-1949“, die 2007 am Mathematischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand, haben sich mit einigen Aspekten der Entstehung, Verbreitung, Erschließung und Speicherung von Informationsquellen am Beispiel der Mathematik beschäftigt. Die Ziele der Mainzer Tagung lassen sich am besten mit den Worten der Herausgeber beschreiben (die folgenden Zitate entstammten dem Vorwort auf Seite 7):

  1. „Die zentrale Rolle und Bedeutung des mathematischen Publikationswesens in den Prozessen der Disziplinbildung, -differenzierung und -spezialisierung sind in der wissenschaftshistorischen Forschung unumstritten.“

  2. „Wissenschaftliche Publikationen erfüllen nicht nur eine Kommunikationsfunktion, sondern gleichfalls eine soziale Funktion innerhalb der Wissensgemeinschaft.“

  3. Wissenschaftliche Publikationen unterliegen „auch den ökonomischen und strukturellen Rahmenbedingungen des jeweiligen Buchmarktes. Andererseits richten sich Verlage bei der Profilierung und Spezialisierung ihres Programms an der Wissenschaft aus, sodass eine gegenseitige Abhängigkeit besteht.“

  4. Die Verlage „können eine aktive Rolle im Kommunikationsprozess innerhalb einer Disziplin oder zwischen verschiedenen Disziplinen übernehmen, die über die reine Dienstleistungsfunktion in der Bereitstellung von Publikationsmöglichkeiten weit hinausgeht.“

Diese Formulierungen gelten im Wesentlichen auch für andere Wissenschaftsdisziplinen. Der Mathematik gebührt durch diese Tagung die Vorreiterrolle.

Sechs der acht in dem Sammelband veröffentlichten Beiträge gehen auf Vorträge der Mainzer Tagung zurück:

  1. Fragen der Disziplinstruktur in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Berliner und Göttinger mathematischen Tradition, der Verdienste der Mathematiker Felix Klein, David Hilbert, Karl Weierstrass und Bernhard Riemann sowie der Zeitschrift „Mathematische Annalen“ (David E. Rowe)

  2. Facetten mathematischer Publikationsformen (Gert Schubring über das mathematische Publizieren in Schulprogrammen, Zeitschriften und Lehrbüchern, Maria Reményi über Lehrbücher im Kontext mathematischen Publizierens sowie Volker Peckhaus über das gescheiterte Projekt der „Zeitschrift für die Grundlagen der gesamten Mathematik“)

  3. Mathematik im Verlagswesen (Ute Schneider über die Konkurrenten auf dem mathematischen Markt)

  4. Die Kommunizierbarkeit des Wissens (Volker R. Remmert über den Fachberater im mathematischen Verlag).

Ergänzt werden die Referate durch zwei Beiträge:

  1. Selbstwahrnehmung und -darstellung der Mathematik (Bjoern Schirmeier über die Frage, „wie die Mathematiker in der Weimarer Republik ihr eigenes Fach wahrnahmen“ (S. 190) am Beispiel von Beiträgen in der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften“ zwischen 1919 und 1930)

  2. Motivationen zur Herausgabe mathematischer Literatur im 21. Jahrhundert (Klaus Peters über den Einfluss moderner Informations- und Kommunikationstechnologien).

Der Rezensent hätte sich gewünscht, dass die Herausgeber im Vorwort auf den größeren Zusammenhang, die Entwicklung von Wissenschaftsverlagen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, eingehen. Das Thema war z. B. Gegenstand einer Tagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Buch-, Bibliotheks- und Mediengeschichte1. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gaben viele alte Universalverlage, die sowohl Belletristik als auch wissenschaftliche Literatur und Sachbücher publizierten, ihr breites Angebot zugunsten einer stärkeren Profilbildung auf. Verlagsneugründungen spezialisierten sich von Beginn an auf eine oder wenige Disziplinen. Im Mittelpunkt des Wolfenbütteler Tagungsbandes, an dem auch die beiden Herausgeber des Mainzer Tagungsbandes mit wichtigen Beiträgen vertreten waren, stehen die Publikationsstrategien eines Verlags, sich durch seine Produktion sowohl auf dem wissenschaftlichen Markt zu behaupten als auch auf die Entwicklung der Disziplin einzuwirken. Die Autoren untersuchen die Beziehungen zwischen den Vertretern einzelner Wissenschaftsdisziplinen und ihren Verlegern, deren Ergebnisse in Form von Büchern und Zeitschriften einerseits der Unterstützung von Lehre, Forschung und Praxis dienten, andererseits zur Verbreitung von Erkenntnissen für Wissenschaftler anderer Disziplinen und für das breite Publikum gedacht waren.

Der große Mathematiker Konrad Knopp hat in seiner, auch an Laien gerichteten Antrittsrede zum Lehrstuhlinhaber für Mathematik an der Universität Tübingen am 27. Januar 1927 zum Thema „Mathematik und Kultur“ referiert. Mit seinen Ausführungen wollte er die Angst vor der Mathematik überwinden helfen und auf ihre Stellung im öffentlichen Leben hinweisen: „Wie ein hohes, unwegsames Gebirge liegt das mathematische Land vor den Blicken des Laien. Die Zugänge sind steil und steinig … und auch denen, die schon lange darin sind, ist es versagt, den Nachkommenden den Weg zu ebnen oder zu erleichtern.“2 Der vorliegende Band trägt zu besseren Zugängen zur Mathematik bei und ist ein sehr wichtiger Beitrag zum Jahr der Mathematik 2008 aus der Sicht der Buch- und Bibliothekswissenschaft, denn die Beiträge behandeln wesentliche Aspekte interdisziplinärer Forschungsaufgaben.

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
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dieter.schmidmaier@schmidma.com


1. Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung / Hrsg. Monika Estermann; Ute Schneider. Wiesbaden, 2007. 204 S. – Zur Mathematik: Ute Schneider über Mathematik im Verlag B. G. Teubner und Volker R. Remmert zu Aspekten mathematischen Publizierens zwischen 1933 und 1945.

2. Knopp, Konrad: Mathematik und Kultur. Berlin, 1984. S. 3. (Den Autoren und Freunden unseres Hauses zum Jahreswechsel 1984/1985. Walter de Gruyter Berlin) – Die Rede ist veröffentlicht in: Preußische Jahrbücher 211 (1928) S. 283-300.