"Ein neuer Blick auf Bibliotheken" - der Erfurter Bibliothekartag 2009

von Wilfried Sühl-Strohmenger

Nach Mannheim 2008 glaubte kaum jemand ernsthaft daran, dass der folgende Bibliothekartag in Erfurt vom 2.-6. Juni 2009 die dort erzielten Erfolge in irgendeiner Hinsicht würde übertreffen können. Jedoch geschah das Unerwartete, denn mit rund 3.623 registrierten Teilnehmer(inne)n1 lag Erfurt nochmals um rund 500 Anmeldungen höher - eine riesige Überraschung. An der gesamten Tagung nahmen 2.012 Personen teil, hinzu kamen 625 verkaufte Tageskarten. Für den erfolgreichen Verlauf des Bibliothekartages sorgten sodann 405 Referent(inn)en sowie die Moderator(inn)en im Rahmen der 72 Vortragsblöcke oder Workshops, die sich auf 12 Themenkreise verteilten. Schließlich waren die 521 Aussteller und die 58 Mitarbeiter(innen) der Tagungsorganisation wichtige Erfolgsgaranten.

Warum wollten so viele Bibliothekare(-innen) einen "neuen Blick auf Bibliotheken" werfen? Haben sich die hohen Erwartungen, die das Motto geweckt haben mag, tatsächlich erfüllt? Die letzte Frage kann nur individuell von den Besucher(inne)n selbst beantwortet werden, zudem wird das dieses Mal online eingeholte Feedback nähere Aufschlüsse bringen.

Den eher informellen Auftakt des Bibliothekartages in Erfurt bildete ein geselliges Beisammensein mit etwa 40 ausländischen Gästen am Pfingstmontagabend auf Einladung von BII und in Anwesenheit von Vorstandsmitgliedern der veranstaltenden Verbände VDB und BIB sowie des DBV und auch der amtierenden IFLA-Präsidentin Claudia Lux. Vertreten waren in Erfurt vor allem die Länder Österreich, Schweiz, Italien, Großbritannien, Niederlande, USA, Frankreich, Spanien und Dänemark.

Der am 4. Juni neu gewählte Vorstand des Vereins Deutscher Bibliothekare (VDB): Dr. Thomas Stöber (Schriftführer), Dr. Wilfried Sühl-Strohmenger (stellv. Vors.), Dr. Ulrich Hohoff (Vors.), Anke Berghaus-Sprengel (Kassenwartin), Dr. Klaus-Rainer Brintzinger (Stell. Vors.).

Der Eröffnungsabend am 2. Juni im Theater Erfurt war bereits frühzeitig ausgebucht - durchaus nicht selbstverständlich, wenn man sich an frühere Bibliothekartage mit eher schwach besuchten Eröffnungsveranstaltungen erinnert - und gespickt mit Grußworten höchster Prominenz des Freistaats Thüringen, der Stadt Erfurt und der Universität: Ministerpräsident Dr. Dieter Althaus, Kultusminister Bernward Müller, Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein und der Präsident der Uni Erfurt Prof. Dr. Kai Brodersen. Freistaat und Stadt hatten den Erfurter Bibliothekartag auch in finanzieller Hinsicht weit über das sonst übliche Maß hinaus unterstützt.

Die Grußworte bezogen sich verständlicherweise auf die Attraktionen der Stadt Erfurt und des Freistaats Thüringen mit seiner reichen Kultur- und Geistesgeschichte, aber die Redner bemühten sich sichtlich auch darum, ihre Wertschätzung von Bibliotheken herauszustellen: Sie sprachen über das Thüringer Bibliotheksgesetz, sie erinnerten an die Brandkatastrophe der Anna-Amalia-Bibliothek Weimar und die beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft beim Wiederaufbau der Bibliothek, sie bezogen sich auf den Dichter und Bibliothekar Jorge Luis Borges und seine "Bibliothek von Babel", sie betonten die wichtige Rolle der Bibliotheken bei der Leseförderung und für das lebenslange Lernen, sie zeigten sich stark beeindruckt davon, dass eine Universitätsbibliothek in der Lage ist, einen solchen großen Bibliothekartag auszurichten und dennoch den Bibliotheksbetrieb auf dem Campus aufrecht zu erhalten.

In seiner Begrüßungsrede nutzte der VDB-Vorsitzende Ulrich Hohoff die Gelegenheit, um wichtige Anliegen der Bibliotheken direkt an die Politik zu richten: die Bedeutung des wegweisenden Thüringer Bibliotheksgesetzes für weitere Bibliotheksgesetze in den Ländern, das Urheberrecht und der Dritte Korb mit möglichen Regelungen zu Open Access, die immer wichtiger werdende Rolle der Bibliotheken bei der Vermittlung von Informationskompetenz, die Exzellenzinitiative, die am 4. Juni 2009 von Bund und Ländern zu verabschiedende Fortsetzung des Hochschulpakts bis 2015, um nur einige Aspekte zu nennen.

Der Münchner Professor für Germanistische Mediävistik und Vorsitzende des Wissenschaftsrats Prof. Dr. Peter Strohschneider thematisierte in seinem Festvortrag über "Unordnung und Eigensinn der Bibliothek" das Spannungsverhältnis zwischen den Suchmaschinen, die nichts bewerten, sondern nur der Statistik der Informationsmengen folgen, und den Bibliotheken, die durch ihr wissenssystemisches Ordnungswissen darauf abzielen, Wissbares von Wissenswertem zu unterscheiden. Der "Eigensinn" der Bibliothek besteht darin, nicht nur Wissen zu sammeln, sondern Wissen zu ordnen - dies macht ihre Überlegenheit den Suchmaschinen gegenüber aus. Strohschneider reklamierte dann aber für die Wissenschaft den Impetus der "kognitiven Unordnung" (Stichwort: Serendipity), die indes der bibliothekarischen Wissensordnung zwingend bedarf, um produktiv werden zu können. Es gehe nicht darum, per Zufall etwas zu finden, sondern im Kontext des durch die Bibliothek geordneten Wissens suchend tätig zu sein, dabei aber auch Informationen zu finden, nach denen man gar nicht gesucht hat. Dies ermögliche die Suchmaschine so nicht, denn sie folge dem Prinzip der bloßen Häufung.

Schon das auffällig große Interesse an der Eröffnungsveranstaltung mag darauf hindeuten, dass man sich vom Erfurter Bibliothekartag Impulse erhoffte. Obwohl nicht gerade als leichte Kost zu bezeichnen, zog der dicht argumentierende Festvortrag von Peter Strohschneider das Auditorium in seinen Bann - so viel konzentrierte Aufmerksamkeit war nicht bei allen Festvorträgen vergangener Bibliothekartage zu beobachten. Nicht immer müssen es also Powerpoint oder Multimedia sein, sondern auch eine nur auf die Überzeugungskraft des Wortes setzende Rede vermag Wirkung zu erzielen, vielleicht sogar mehr, weil die multimediale Mischung von Text, Ton und Bild keineswegs die nachhaltige kognitive Verankerung garantiert. Aber ohne Töne blieb der Eröffnungsabend nicht, denn dank finanzieller Unterstützung durch die Firma Belser Wissenschaftlicher Dienst sorgte die Gruppe dOWNTOWNgROOVE für stimmungsvolle Musik zwischen den Grußworten und später beim geselligen Teil, mit Anklängen an klassische Rhythmen von Bach und Tschaikowsky.

Der Empfang des Oberbürgermeisters für die ausländischen Gäste aus Europa, Asien und Nordamerika fand im prächtigen Festsaal des Erfurter Rathauses statt. Die Ansprache des OB folgte nicht der üblichen Routine, sondern war sichtlich darum bemüht, den Gästen die Geschichte und Kultur der alten Universitätsstadt Erfurt näher zu bringen. Kurze Grußadressen sprachen sodann Barbara Lison (BID-Präsidentin) und der Präsident von EBLIDA Gerald Leitner (Wien). Der Erfurter Bibliothekartag ist demnach der größte nationale Bibliothekskongress in Europa!

Das Tagungsprogramm war abwechslungsreich, vollzog sich in unterschiedlichen Darbietungsformen (Vorträge, Workshops, Diskussionsforen, Postersessions, Arbeitssitzungen) und bot viele neue Erkenntnisse auf zahlreichen Feldern der Bibliothekspraxis: Rechtsfragen und Lobbyarbeit, Aus- und Fortbildung, Bibliotheksbau und Raumkonzepte, Bibliotheksorganisation und -technik, Bibliotheksmanagement, Erschließung, Bereitstellung und Vermittlung der Information, E-Medien, Bildungsarbeit und Informationskompetenz, Digitalisierung und Langzeiterhaltung, Open Access und Bibliothek 2.0, Fachinformation, Interkulturelle Bibliothekarbeit, regionale Verbundarbeit, nationale und internationale Vernetzung, Bestände und Sammlungen - Weiteres ließe sich anschließen. Da die Abstracts der meisten Vorträge auf dem OPUS-Server bei BIB http://www.opus-bayern.de/bib-info/ aufliegen, kann an dieser Stelle auf eine nähere Darstellung verzichtet werden.

Sicherlich war nicht alles neu, was vorgetragen und diskutiert wurde, auch ein roter Faden quer durch das gesamte Spektrum lässt sich nur schwer erkennen, aber es ist der Programmkommission doch hoch anzurechnen, dass sie sich durch die enorme Fülle der Einreichungen beim Call for Papers nicht hat hinreißen lassen, es allen Recht zu machen. Das Bemühen um Auswahl und Straffung bei der Programmgestaltung war deutlich erkennbar, wenn auch um den Preis, etliche Vortragsanmeldungen abschlägig bescheiden zu müssen. Aber dem Erfurter Bibliothekartag insgesamt kam dies zugute, da Themenüberschneidungen sich in Grenzen hielten, der Stress für die Teilnehmer, etwas zu verpassen, ebenfalls kontrollierbar blieb und allzu lange Themenblöcke mit mehr als 4 bis 5 Vorträgen die Ausnahme bildeten. Die gewonnene Zeit konnte dem Besuch der Firmenausstellung und dem Gespräch mit Kolleg(inn)en gewidmet werden.

Eine wunderschöne Kulisse für den Festabend lieferte der Erfurter Kaisersaal dem Bibliothekartag, eine geschichtsträchtige dazu, denn Erfurt hatte Kaiser Napoleon I. nach siegreicher Schlacht über die preußischen Armeen bei Jena und Auerstedt (1806) zwei Jahre später, nämlich im September 1808, für den Fürstenkongress auserkoren, an dem auch Zar Alexander I. teilnahm. Eine hübsche Napoleonparodie zum Auftakt des Festabends durfte deshalb nicht fehlen. Musikbegleitung, Essen, Theatereinlagen und das traditionelle "Abtanzen" bei Disko-Musik ließen diesen Festabend wieder zu einem besonderen Erlebnis für alle werden, die sich eine Karte gesichert hatten.

Die von Rembert Unterstell (DFG) moderierte Abschlussveranstaltung zum Thema "Bibliotheken sind Bildungseinrichtungen - Bibliotheken im Visier der Politik" mit Katrin Göring-Eckhardt (B. 90/Grüne, stv. Bundestagspräsidentin), Gudrun Heute-Bluhm (Präsidentin des DBV und OB von Lörrach), Petra Hätscher (UB Konstanz), Dr. Sabine Homilius (Leiterin der StB Frankfurt a. M.) und Mag. Markus Feil (Städtische Büchereien Wien) war recht lebhaft und zog noch viele Interessierte an - dennoch hätten es wiederum mehr sein können. Aber die Präsenz bis zum Schluss am Freitagmittag erwies sich auch in Erfurt für die meisten Besucher(innen) des Bibliothekartags wieder als schwer kompatibel mit den Heimfahrtplanungen, lag doch hinter rund 2.000 Kolleginnen und Kollegen, die für den gesamten Bibliothekartag gebucht hatten, eine ereignisreiche, streckenweise auch anstrengende Woche. Vielleicht sollte das Konzept der Schlussveranstaltung, in deren Vorbereitung und Organisation das Ortskomitee ja viel Arbeit investieren muss, von den veranstaltenden Verbänden einmal grundlegend überdacht werden? Vielleicht im Sinne eines zwangslosen, geselligen "Kehraus-Meetings" im Foyer mit einem kurzen Schlusswort des/der Ortskomitee-Vorsitzenden?

Die Erfurter Messe bot Vortragsräume im Congress Center, zusätzlich in den Hallen 2 und 3, die nicht mit von der Firmenausstellung belegt waren, ferner für die Arbeitssitzungen Räumlichkeiten im Augustinerkloster, in der Kleinen Synagoge, im Rathaus, in der Stadtbibliothek und in der Universitätsbibliothek. Der Kongress hatte dadurch Gelegenheiten, ab und an aus dem geschlossenen Bezirk des Messegeländes auszubrechen.

Die Räume im Congress Center und in den Ausstellungshallen (Hallen 2 und 3) brachten akustische Probleme mit sich, weil sie gegen den Schall der Nebenräume nur teilweise abzuschirmen waren. Die technische Betreuung der Vortragsräume war fehlerlos. Die Vorträge wurden zentral eingespielt, so dass die Vortragenden nicht gezwungen waren, mit USB-Stick u. dgl. zu hantieren. Dieses Verfahren hat sich mittlerweile zum Standard bei Bibliothekartagen entwickelt.

Erfurt kam wegen des attraktiven Programms, der günstigen Infrastruktur des Congress Centers sowie der schönen Stadt Erfurt sehr gut an. Leider fand das vielfältige und reizvolle Rahmenprogrammangebot mit Ausflügen u. a. nach Jena, Weimar, Gotha nicht den erhofften Zuspruch, den es verdient gehabt hätte. Offensichtlich konzentriert sich das Interesse der Bibliothekartagsbesucher(innen) immer mehr auf die eigentliche Fortbildung, so dass wenig oder keine Zeit mehr für das kulturell-touristische Vergnügen bleibt.


Autor

Dr. Wilfried Sühl-Strohmenger ist Leiter der Dezernate Informationsdienste und Bibliothekssystem der

Universitätsbibliothek Freiburg
Werthmannplatz 2
79098 Freiburg i. Br.
suehl@ub.uni-freiburg.de


Anmerkung

1. Die Zahlenangaben stellte das Erfurter Ortskomitee auf der Basis der von Intercom Dresden GmbH erfassten Kongressdaten zur Verfügung. Herzlichen Dank dafür!