Bücher am Ende der Welt

Buch- und Bibliothekswesen in Chile

von Simone Klebes

Schon ein Blick auf die Landkarte genügt, um neugierig zu werden auf dieses Land, das sich so lang und schmal an die Westküste Südamerikas schmiegt. Im Durchschnitt nur 180 km breit, erstreckt sich Chile von Norden nach Süden über 4.400 km. Im Norden befindet sich die trockenste Wüste der Welt, während man im Süden über riesige Gletscher staunen kann. Von den knapp 16,6 Millionen Einwohnern lebt etwa ein Drittel in der Metropolregion Santiago. Nach 17 Jahren Diktatur unter Pinochet ist Chile seit 1989 wieder ein demokratischer Staat und hat sich zum wohlhabendsten Land Südamerikas entwickelt.

Abbildung 1: Beispiel eines bibliometros


Abbildung 2: Beispiel einer Filiale der Biblioteca Viva


Abbildung 3:Die chilenische Nationalbibliothek

Aufgrund der enormen Größe des Landes sind allgemeine Aussagen zur Bücherversorgung natürlich schwer. Zumindest in der Hauptstadt Santiago de Chile ist der Zugang zu Literatur weitgehend gewährleistet, auch wenn das Angebot nur selten wahrgenommen wird. Ein Minenarbeiter in der nördlichen Atacama-Wüste wird aber kaum je mit einem Buch in Berührung kommen. Schon in den meisten Schulen wird eine Wertschätzung des Mediums Buch nur unzureichend propagiert und an den Universitäten wird hemmungslos fotokopiert. Die kulturskeptische Haltung aus der Zeit der Diktatur sitzt vor allem im einfachen Volk noch tief.

1. Das Buch als Luxusobjekt

Die Schere zwischen arm und reich ist in Chile sehr ausgeprägt, doch selbst in wohlhabenderen chilenischen Haushalten wird man kaum Bücher finden. Zu seiner Zeit führte Pinochet eine Mehrwertsteuer auf Bücher über 19 % ein, die auch von der heutigen Regierung aufrechterhalten wird. Die offizielle Begründung lautet, dass man damit andere kulturelle Projekte gegenfinanzieren wolle. Demnach kostet ein Buch in Chile trotz der viel geringeren Kaufkraft der Bevölkerung meist genauso viel wie ein gleichartiges Buch in Deutschland. Es ist also kein Wunder, dass sich ein Chilene keine Bücher zur puren Unterhaltung oder Entspannung kaufen will und kann. Die meisten Bücher werden zur Weiterbildung gekauft und lesende Personen in den Parks oder in der Metro sind ein seltener Anblick.

2. Literaturversorgung durch Bibliotheken

Öffentliche Bibliotheken sind im Stadtbild Santiagos recht präsent und man stößt auf eine Vielzahl an kreativen Erscheinungsformen. An vielen Metrostationen gibt es so genannte Bibliometros (Abb.1), bei denen man als Mitglied Bücher ausleihen und sie auch außerhalb der Öffnungszeiten in eigens dafür aufgestellte Behälter zurückgeben kann. Dieses Konzept hat sich bereits in anderen Städten, wie zum Beispiel in Madrid, bewährt.

Außerdem gibt es in den meisten großen Einkaufszentren eine Filiale der Bibliothekskette Biblioteca Viva (Abb.2), die von einer privaten Stiftung finanziert wird. Die Inneneinrichtung ist bunt und kinderfreundlich gestaltet und das Angebot reicht von Kinderbüchern über Sachliteratur bis hin zu Filmen auf DVD. Vor allem an Wochenenden sind diese Mall-Bibliotheken recht gut besucht und viele Eltern nutzen das Angebot für Kinder, um selbst in Ruhe ihre Einkäufe zu erledigen. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass sich die großen Shoppingmalls mit Bibliotheken in den reicheren Vierteln Santiagos befinden und in den ärmeren Stadtvierteln ein solcher Service leider nicht gegeben ist.

Die wichtigsten traditionellen öffentlichen Bibliotheken sind die sehenswerte seit 1813 bestehende Nationalbibliothek im Stadtzentrum (Abb.3) und die Biblioteca de Santiago im Stadtteil Quinta Normal. Die Biblioteca de Santiago ist eine großflächige, zweckmäßig aber schön eingerichtete Bibliothek mit breitem kulturellen Angebot und einer Vielzahl an Internetarbeitsplätzen und deshalb vor allem am Wochenende bei vielen Chilenen sehr beliebt. Leider hat der chilenische Staat der Einrichtung schon seit Jahren keine Gelder mehr zur Verfügung gestellt, weshalb die wenigen Bücher in hüfthohen Regalen ihren Platz finden.

3. Literaturversorgung durch Buchhandlungen

Ein Großteil des Buchkaufs findet in Chile auf der Straße oder an Kiosken statt. Raubkopien sind weit verbreitet und wie bereits erwähnt gibt es keine Hemmschwelle ganze Bücher einfach zu fotokopieren. Auf Buchbestellungen muss man teilweise wochenlang warten, denn einen Zwischenbuchhandel oder gar Barsortimente gibt es nicht. Internetbestellungen sind aus naheliegenden Gründen nicht üblich. Nur circa 10 % der Haushalte haben einen Internetanschluss und viele besitzen kein Bankkonto mit dazugehöriger Kreditkarte, um online zu bezahlen. Wer trotzdem nicht auf Lesestoff verzichten will, reist über die Anden ins benachbarte Argentinien, wo man Bücher viel günstiger erwerben kann.

In Chile gibt es eine große Buchhandelskette, die Feria Chilena del Libro. Anders als in Deutschland müssen sich die Buchhandlungen nicht vor allem durch Service und Ambiente profilieren. Auf den meisten Büchern stehen keine Preise, der Kunde muss erst mit dem Buch zu einem der Scanautomaten und den Strichcode einscannen, um den Buchpreis zu erfahren. Darüber hinaus gibt es in Chile keine buchhändlerische Ausbildung, die Bücher auf den Auslagen liegen häufig durcheinander und mitten im Verkaufsraum stehen Kisten und Pakete mit unausgepackten Büchern. Ein schöneres Einkaufserlebnis bieten zahlreiche kleinere Buchhandlungen mit Antiquariat, die in bestimmten Stadtvierteln angesiedelt sind.

4. Verlage und Buchmessen

Die meisten Verlage auf dem chilenischen Buchmarkt sind spanische Imprints, fast alle eigens chilenischen Verlage sind Universitätsverlage. Schulbücher haben bei weitem den höchsten Warengruppenanteil, denn wie bereits erwähnt ist der Markt für Unterhaltungsliteratur in Chile nicht besonders groß. Buchmessen erfreuen sich allerdings großer Beliebtheit, da dort die Verlage im Rahmen kultureller Open-Air-Events ihre Produkte billiger anbieten. Die wichtigste Buchmesse Feria Internacional del Libro de Santiago findet in den ersten beiden Novemberwochen im Zentrum Santiagos statt. Das Interesse der Besucher gilt zwar häufig eher dem kulturellen und vor allem dem kulinarischen Zusatzangebot, aber auf diese Weise kommen zum Beispiel Kinder im Rahmen von Familienausflügen wenigstens indirekt mit Büchern in Kontakt. Die schlechte Ausstattung der Schulen mit Büchern und die hohen Buchpreise verhindern leider allzu oft, dass sich das Medium Buch in den Alltag junger Chilenen integrieren könnte. Die Beliebtheit einiger öffentlicher Bibliotheken zeigt allerdings, dass der Bedarf durchaus vorhanden ist, sobald das Buchangebot mit dem Angebot an neuen Medien wie zum Beispiel Internetarbeitsplätzen gekoppelt ist. Wünschenswert wäre es, die kreativen Bibliotheksprojekte auch in die ärmeren Stadtviertel auszuweiten, um diesen Bevölkerungsschichten einen Kontakt zum Buch zu ermöglichen.


Autorin

Simone Klebes

hat im Anschluss an ihr Buchwissenschaftsstudium in Erlangen ein dreimonatiges Praktikum
in der Bibliothek des Goethe-Instituts in Santiago de Chile absolviert.
simoneklebes@gmx.de