"Wie würde ich ohne Bücher leben und arbeiten können?" -
Privatbibliotheken jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert

Hrsg. Ines Sonder; Karin Bürger; Ursula Wallmeier


- Berlin: vbb verlag für berlin-brandenburg, 2008. 432 S. (Neue Beiträge zur Geistesgeschichte; 8)
- ISBN 978-3-86650-069-3, Euro 29.95

Dieses berührende Buch als Beitrag zu einer Geschichte des jüdischen Bibliothekswesens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist den Forschungen am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Potsdamer Universität zu danken. Dieses Zentrum hat sich um die Erschließung privater Bibliotheken jüdischer Gelehrter und Intellektueller verdient gemacht und zählt zu ihren Beständen inzwischen die Sammlungen des Historikers Alex Bein, des Religionsphilosophen Ernst Simon, des Kulturwissenschaftlers Ludwig Geiger und des Literaturkritikers Walter Boehlich. Die Erfahrungen bei der Erschließung dieser Sammlungen waren der Ausgangspunkt für die Idee, auch der Geschichte anderer jüdischer Bibliotheken nachzugehen. Nach umfangreichen Recherchen und Gesprächen mit Nachfahren der ehemaligen Bibliotheksbesitzer unternehmen die Herausgeber und Autoren den Versuch, den Weg von 18 Bibliotheken jüdischer Exilanten zu verfolgen mit dem Ziel, sie möglichst vollständig zu erhalten, wissenschaftlich zu erforschen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein großartiges Unternehmen!

Die Beiträge werden durch ein kurzes Editorial der Herausgeberinnen und ein umfangreiches Nachwort "Büchersammlungen als Lebenszeugnisse und Erinnerungsräume" von Ernst Fischer sowie den Nachweis der Standorte der 18 Bibliotheken, ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, ein Abbildungsnachweis und ein Personenregister sehr gut erschlossen.

Angetrieben durch eine fanatisch antisemitische Führung unter Hitler und die Initiativen aus den Parteigliederungen und den staatlichen Bereichen, wurde die Vernichtung der jüdischen Privatbibliotheken immanenter Bestandteil der Auslöschung jüdischen Lebens. Man erkannte sehr schnell den politischen und finanziellen Wert der Sammlungen. Die Bibliotheken wurden beschlagnahmt, anschließend an Antiquariate verkauft, dem "Institut zur Erforschung der Judenfrage"1 übereignet, symbolisch verbrannt oder den Papiermühlen zur Vernichtung übergeben. Ein großer Teil aber landete in den staatlichen Bibliotheken und wurde in bestehende Sammlungen einverleibt, dort stehen sie zu einem großen Teil noch immer - über die Bemühungen der Bibliotheken zur Restitution geraubten Bibliotheksgutes wurde in unserer Zeitschrift mehrfach berichtet.2

Vor dem Leser breitet sich ein Panorama von Sammlungen prominenter oder weniger prominenter Personen aus, über deren Bibliotheken bislang nur wenig bekannt war. Wir nehmen Anteil am Schicksal der 18 Sammlungen in ihrem gesamten Verlauf von einer Zeit der Zukunftsgewissheit über die existenzielle Bedrohung bis zum tragischen Ende in Form der Zerstreuung oder des kompletten Verlusts, aber auch der wundersamen Rettung und Wiederauffindung.

Die Autoren berichten vom Leben und Wirken der Personen und stellen das Motto des Bandes "Wie würde ich ohne Bücher leben und arbeiten können?" in den Mittelpunkt. Es gibt u.a. Berichte über

"Vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs im 20. Jahrhundert, der den Kontrast zwischen einer Blüte der Buchkultur und ihren nachhaltigen Verlusten so deutlich machte, war es unser Bestreben, dieses Jahrhundert in seiner historischen Gesamtheit in den Blick zu nehmen." (Editorial, S. 7) Das ist den Herausgebern und Autoren gelungen.

Fazit: Das Buch ist eine wichtige Quelle für alle Bibliotheks-, Kultur- und Literaturhistoriker. Die Bibliothekswissenschaftler, die sich mit den jüdischen Privatbibliotheken im 20. Jahrhundert beschäftigen, haben mit dem Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Potsdamer Universität einen wichtigen Partner.

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
D-12557 Berlin
dieter.schmidmaier@schmidma.com


Anmerkungen

1. Das 1939 in Frankfurt am Main zur sog. rassenideologisch fundierten Gegnerforschung gegründete "Institut zur Erforschung der Judenfrage" wurde zur größten Sammelstelle für Bücher aus jüdischem Besitz und dem Besitz freikonfessioneller Vereinigungen. Es besaß Ende 1944 über 500 000 Bände. Vgl. u.a. das entsprechende Stichwort in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus. 5. Aufl. Stuttgart, 2007.

2. Jüdischer Buchbesitz als Raubgut: Zweites Hannoversches Symposium / hrsg. von Regine Dehnel. Frankfurt am Main, 2006. 435 S. (Rez. in B.I.T.online 9 (2006) 1, S. 272-273.) und Bockenkamm, Detlef: Geraubt. Die Bücher der Berliner Juden. Berlin: Zentral- und Landesbibliothek, 2008. 79 S. (Rez. in diesem Heft)