Tunger, Dirk: Bibliometrische Verfahren und Methoden
als Beitrag zu Trendbeobachtung und -erkennung in den Naturwissenschaften


- Jülich: Forschungszentrum, 2009. - 311 S.: Ill., graph. Darst.
Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 2007
- ISBN 978-3-89336-550-0

In den letzten 300 Jahren ist die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse kontinuierlich gewach­sen. Der Zeitraum, in dem neue Erkenntnisse von noch neueren Erkenntnissen abgelöst werden, hat sich seitdem immer weiter verkürzt. Die Zahl der jährlich erscheinenden wissenschaftlichen Publika­tionen und deren Zitationen hat inzwischen ein Ausmaß angenommen, das es nicht nur für die Wis­senschaftler selbst nahezu unmöglich macht, alle für sie relevanten Informationen zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zu verarbeiten. Besonders virulent ist diese Entwicklung in den STM-Fä­chern (Medizin, Natur- und Ingenieurwissenschaften), in denen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften von weltweiter Bedeutung in der gemeinsamen Wissenschaftssprache Englisch ein globaler Wettbe­werb ausgetragen wird. Spätestens mit diesem Ringen um die neuesten Erkenntnisse, die effizien­testen Technologien, die besten Produkte und die genialsten Köpfe fragen sich auch die Vertreter in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wie die Reise weitergeht. Denn nur wer in diesem Wettbewerb einen Vorsprung erzielt und diesen auch halten kann, schafft bzw. sichert Wohlstand und Sicherheit für die Zukunft. Da die zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzt sind, gilt es, diese möglichst zielgerichtet einzusetzen. Man müsste also einen Blick in die Zukunft werfen können...

Natürlich ist das nicht möglich. Aber könnte man denn nicht aus Entwicklungen in der Vergangenheit, die ja grundsätzlich rekonstruierbar sind, Prognosen für die Zukunft entwickeln? Und wenn ja, wie und womit, unter welchen Bedingungen und welchem Aufwand? Diesen Fragen stellt sich Dirk Tunger in seiner Dissertation "Bibliometrische Verfahren und Methoden als Beitrag zu Trendbeobachtung und -erkennung in den Naturwissenschaften". Sein Ansatz: Mit Hilfe bibliometrischer Analysen wird eine Datenbasis erstellt, aus der gegenwärtige Trends in den Naturwissenschaften identifiziert und be­obachtet werden können. Durch sorgfältige Interpretation der Daten und in Verbindung mit anderen Faktoren können daraus in einem Trendbeobachtungssystem Prognosen für zukünftige Entwicklun­gen in den Naturwissenschaften abgeleitet werden auf deren Grundlage wiederum Zukunftsentschei­dungen möglich sind.

Tunger beschränkt sich nicht auf bibliometrische Analysen, sondern thematisiert auch andere Metho­den der Gewinnung und Auswertung zukunftsrelevanter Daten, die qualitative Betrachtungen ermögli­chen. Dafür hat er eine Menge Literatur zusammengestellt und ausgewertet. Der Dissertation sind 20 Seiten Literaturverzeichnis angehängt. Der Verfasser führt in die Terminologie ein, diskutiert Grundla­gen, Möglichkeiten und Grenzen, Aufbau und Durchführung bibliometrischer Analysen und beschreibt und vergleicht mit Scopus und dem Science Citation Index (SCI) bzw. Social Science Citation Index (SSCI) zwei Zitatdatenbanken als Datengrundlage (Werkzeuge wie SciVal von Elsevier oder InCites von Thomson Reuters konnten in der Arbeit nicht berücksichtigt werden, da sie zum Zeitpunkt der Erstellung noch nicht auf dem Markt waren). Tunger erläutert den Einfluss "weiterer Sphären" aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf Entstehung, Verlauf und Ende von Trends in den Naturwissen­schaften und stellt die Verbindung zwischen bibliometrischen Analysen und der Trendforschung her. Zahlreiche Beispiele zu den Themen "schneller Brüter", "Vogelgrippe" oder auch "Nanotechnologie" veranschaulichen den Prozess der Datengewinnung, -auswertung und -interpretation. Den Schluss der Arbeit bildet ein umfangreicher Anhang mit zwei kompletten bibliometrischen Analysen.

Der Verfasser stellt sein Thema sehr grundlegend und auf breiter Basis dar. Mitunter tut er hier des Guten etwas zuviel, etwa wenn er dem Satz "Eine Einrichtung der Forschungsförderung ist z.B. die DFG" eine eigene Fußnote widmet. Auch folgt die Darstellung nicht immer stringent der Struktur der Kapitel und Abschnitte. Der Verfasser ist sprunghaft und wiederholt sich. Vereinzelt fehlen die sprach­liche Präzision und der abschließende Gedanke, etwa wenn auf S. 18 der Nutzen eines Trend­beobachtungssystems erläutert werden soll: Tunger führt aus, dass im Zuge der Globalisierung auch die Wissenschaft einem Wettbewerb ausgesetzt ist und betont nochmals den Einfluss von Verände­rungen in Politik und Gesellschaft. Dies alles ist richtig und verständlich und gut aber die Frage nach dem Nutzen, den die Trendbeobachtung hier stiften kann (vermutlich Identifikation der Mitbewerber und deren Stärken, Schwächen und Entwicklung im globalen Wettbewerb), bleibt unbeantwortet. Man kann zwischen den Zeilen lesen, dass er so etwas in der Art meinen könnte. Er äußert es aber nicht, jedenfalls nicht an dieser Stelle.

Manche Passagen, besonders in den Einführungskapiteln, bereiten durch exzessiven Gebrauch des Passivs und eintönige Formulierungen kein Lesevergnügen. Vereinzelte Versuche, an sich klare Defini­tionen nochmals mit eigenen Worten zu umschreiben, wirken etwas bemüht: "Ein Trend ist demnach eine Grundtendenz, die die Richtung charakterisiert, in die eine Entwicklung geht..." Auch der Satz hätte sorgfältiger ausfallen können. So wird aus einem "einer" schon mal "eienr", Zitate in direkter Rede werden meist in kleinerer Schrift eingerückt, vereinzelt aber auch in Anführungszeichen in den laufenden Text gesetzt.

Trotz dieser stilistischen und formalen Unzulänglichkeiten und obwohl aktuelle Entwicklungen wie SciVal oder InCites nicht berücksichtigt werden konnten, eignet sich die Dissertation gut für die Einar­beitung in die Themenkomplexe Bibliometrie und Trendbeobachtung am Beispiel der Naturwissenschaf­ten. Die Grundlagen werden ohne unnötiges Fachchinesisch vermittelt und die zahl­reichen Beispiele machen das ganze sehr anschaulich. Die Arbeit wirkt mit Vorwort, Einleitung, Pro­blemstellung, Diskussion und Zusammenfassung allerdings etwas aufgebläht. Wer es kürzer haben möchte, ist mit dem Titel "Bibliometrische Analysen - Daten, Fakten und Methoden" von Raphael Ball aus demselben Verlag auch gut bedient, bei dem Tunger übrigens Koautor ist.

Michael Normann
Universitätsbibliothek Karlsruhe