Editorial
Wer frisst wen in der digitalen Gesellschaft?

Diese Frage stellt in den grauen Novembertagen, in denen dieses Editorial entsteht, Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der FAZ und bekannter Autor des Methusalem-Komplotts in Spiegel-Online. Er bekennt: „Mein Kopf kommt nicht mehr mit.“ Er sei den geistigen Anforderungen unserer Zeit nicht mehr gewachsen. Ohne Google wäre er aufgeschmissen und nicht mehr imstande, einen Handwerker zu bestellen oder zu recherchieren. Das Problem sei seine Mensch-Computer-Schnittstelle und zitiert dabei den schlimmen Satz von Marvin Minsky, einem der ersten Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz: „Das Hirn ist nichts anderes als eine Fleisch-Maschine.“ Seine Maschine sei offenbar nicht mehr besonders gut. Er lebe ständig mit dem Gefühl, eine Information zu versäumen oder zu vergessen. Und das Schlimmste: „Ich weiß noch nicht einmal, ob das, was ich weiß, wichtig ist oder das, was ich vergessen habe, unwichtig. Kurzum: Ich werde aufgefressen.“ Schirrmacher hat auch eine Antwort darauf, welcher Teil von ihm aufgefressen werde, nämlich seine Aufmerksamkeit, die sei die Nahrung der Informationen. Daher gäbe es nicht genügend Aufmerksamkeit für all die neuen Informationen, nicht einmal mehr in unserem eigenen persönlichen Leben. Der darwinistische Überlebenskampf sei im Begriff, auf das Leben des Einzelnen überzugreifen, auf seine Kommunikation mit anderen, sein Erinnerungsvermögen, das der größte Feind neuer Informationen sei, auf sein soziales Leben, auf seine Berufs- und Lebenskarriere. Schirrmacher zeigt aber auch Auswege auf: es sei wichtiger, Hypothesen, Faustregeln und Denkweisen zu lehren und zu lernen, als statistisch abfragbare Fakten. Die Befreiung der Curricula von Aufgaben, die Computer besser können als Menschen, sei in den meisten Schulen und Universitäten noch nicht angekommen. Man müsse Computer aber als Instrumente integrieren, die man nicht nur einfach benutzen solle, sondern über die man nachdenken müsse. Man solle erkennen lernen, dass der Computer nur Instrumente bereit halte, um dem Menschen Denken und Kreativität zu ermöglichen.

Das beschriebene Überangebot an Information auf Relevanz, Aktualität und Glaubwürdigkeit können nach Ansicht von Janice R. Lachance, Chief Executive Officer der Special Libraries Association, nur Informationsfachkräfte sinnvoll bewerten. Frau Lachance hielt im September den Festvortrag zur Eröffnung der ASpB-Tagung. Dies wiederum war Anlass für das aktuelle Interview in diesem Heft, geführt von Vera Münch und Helga Bergmann. Obwohl die Organisationen auf die Kompetenz und Expertise von Information Professionals angewiesen seien, würden sich leider manche von ihren Informationsspezialisten trennen, weil man dort der irrigen Auffassung sei, man könne alles dank der Suchmaschinen im Internet finden. Grundsätzlich vermittelt sie aber einen optimistischen Ansatz: „Bibliothekare leisten einen sehr wertvollen Beitrag für die Wirtschaft, der global betrachtet Milliarden Dollar wert ist, und ihre Qualifikation und ihr Wissen werden im Informationszeitalter dringender gebraucht denn je. Für Spezialbibliothekare und Information Professionals ist die Zukunft glänzend.“

Weniger optimistisch ging es in der Anfangsphase der ILDS 2009 (Interlending and Document Supply Conference) in Hannover zu. Die Fernleihen gehen angesichts der Veränderungen durch die digitale Welt massiv zurück. Die IFLA-Tagung zeigte Schwächen auf, aber auch neue Ziele. Sie finden den Bericht bei den Reportagen.

Um nun die Eingangsfrage von Frank Schirrmacher „Wer frisst wen in der digitalen Gesellschaft?“ nicht beantworten zu müssen, kommt mir als langjährigem Leiter der Universitäts- und jetzigen KIT-Bibliothek meine Vita entgegen. Mit dem Erreichen des 65. Lebensjahres scheide ich aus dem Bibliotheksdienst aus und lege gleichzeitig auch die Chefredaktion dieser Zeitschrift in jüngere Hände. Für letztere konnte aus dem gleichen Hause Dr. Michael W. Mönnich gewonnen werden, der ab dem nächsten Heft die Hauptverantwortung für den Inhalt tragen und für Sie, liebe Leserinnen und Leser, der erste Ansprechpartner sein wird. Er wird dabei unterstützt von Dr. Alice Keller von der Universität Oxford, von der sie seit geraumer Zeit „Neues aus Großbritannien“ lesen konnten. Ich werde weiterhin als Herausgeber zusammen mit den anderen Kollegen diese Zeitschrift begleiten.

Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihr Interesse an dem Inhalt, bei den Autoren für Ihre Beiträge und bei den Mitarbeitern von B.I.T.online und dem Verlag für die langjährige Zusammenarbeit. Ich wünsche, dass wir alle mit den neuen Aufgaben weiter zum Gelingen von B.I.T.online beitragen und zur qualitätvollen und aktuellen Information unserer Leserinnen und Leser. Mit guten Wünschen für ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes Neues Jahr bin ich

Ihr Christoph-Hubert Schütte
Chefredakteur