Die Kraft der digitalen Unordnung

Bericht zur 32. Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Spezialbibliotheken (ASpB) vom 2009 in Karlsruhe

von Siegfried Schmidt

In der letzten Septemberwoche, vom 22. bis 25. September 2009, trafen sich mehr als 250 Spezialbibliothekarinnen und Spezialbibliothekare im vom Spätsommerwetter oft begünstigten Südwesten der Republik. Karlsruhe, Sitz der ältesten Technischen Hochschule in Deutschland und inzwischen eine der Exzellenz-Universitäten im Lande, war auf Einladung des Direktors der Universitätsbibliothek Christoph-Hubert Schütte als Tagungsort gewählt worden. Leider konnte der frühere Vorsitzende der ASpB und das Ehrenmitglied des Beirats an dieser Tagung, für die er mit großem Engagement einen idealen organisatorischen Rahmen geschaffen hatte, aus persönlichen Gründen selbst nicht teilnehmen. Unter Leitung seines Stellvertreters Dr. Herbert Kristen hatte die Universitätsbibliothek ein Ortskomitee gebildet, das nicht nur den absolut reibungslosen Ablauf der Tagung meisterte, sondern das auch zusammen mit dem Programmkomitee der ASpB ein attraktives Tagungsprogramm unter dem etwas ungewöhnlichen Motto Die Kraft der digitalen Unordnung auf die Beine gestellt hatte. Der Titel ist eine Anleihe an ein Buch des amerikanischen Philosophen und Schriftstellers David Weinberger1, wie der Vorsitzende der ASpB, Dr. Jürgen Warmbrunn, in seinem Grußwort zur Tagung näher erläuterte: „Wenn es zutrifft, dass ein kennzeichnendes Merkmal der digitalen Welt ihre ‚Unordnung’ ist, stellt sich die auch für unsere berufliche Zukunft bedeutsame Frage, ob wir als Informationsspezialisten aufgefordert und in der Lage sind, in dieses Ungeordnete Ordnung zu bringen, um Informationen und Wissen auch in der digitalen Welt optimal nutzbar zu machen.“

Ordnung herrschte auf jeden Fall im Programmablauf. Abgesehen von einigen Firmenvorträgen und Workshops, die inzwischen zu einem festen Bestandteil der ASpB-Kongresse geworden sind, gab es in diesem Jahr keine parallelen Sessions. Wer also das nötige Steh- (oder Sitz-)vermögen hatte, konnte die in 11 Themenblöcken zusammengefassten Fachvorträge, mehr als 30 an der Zahl, komplett hören. Eine Session wurde, auch das ist inzwischen zu einer guten Tradition der ASpB-Tagungen geworden, von der Gesellschaft für Bibliothekswesen und Dokumentation des Landbaus inhaltlich gestaltet, die zudem im Rahmen dieser Tagung in einem Festakt auf ihr 50jähriges Gründungsjubiläum zurück blickte.

Etliche Fachvorträge rekurrierten unmittelbar auf das Tagungsmotto. Die Zuständigkeit der Bibliothekarinnen und Bibliothekare für eine wie auch immer geartete Ordnung stand dabei wohl außer Frage. Hinsichtlich der Frage des „Wie“ gibt es aber derzeit durchaus sehr unterschiedliche Ansätze: Während manche Referentinnen und Referenten dabei eher konventionelle bibliothekarische Tugenden und Instrumentarien in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellten, setzten andere viel stärker darauf, sich das kreative Potential eines zunächst unübersichtlichen und chaotischen sozialen Webs durch noch zu entwickelnde und zu verfeinernde „gärtnerische und landschaftspflegerische“ Maßnahmen auch bibliothekarisch nutzbar zu machen.

Exemplarisch für den erstgenannten Ansatz sei auf den die Tagung abschließendem Vortrag von Dr. Thomas Hilberer, Tübingen, Numerus Currens und ipod – die Organisation von Metadaten hingewiesen: Hilberer plädierte mit Leidenschaft dafür, dass die Wissensorganisation im digitalen Zeitalter eine Kernaufgabe der bibliothekarischen Profession sei und dass die Chance der Bibliothekarinnen und Bibliothekare in der Schaffung gehaltvoller Metadaten liege. Hier müsse man sich von Google und Co. bewusst abgrenzen: Während Google die Unendlichkeit des Meeres verkörpere, werde die Bibliothek so zu dem Glas Wasser, das man zum Trinken brauche. Jenseits solcher plakativer Metaphern stellte Hilberer aber auch sehr konkrete Forderungen auf: Die Konzentration des Personals auf die Metadatenproduktion müsse mit einer Verringerung des Einsatzes an einer Primärerfassung einhergehen. Dies könne z.B. erreicht werden durch eine geringere Zahl an Katalogverbünden, durch den Verzicht auf neue hypertrophe Regelwerke und durch eine Vereinfachung bestehender Katalogisierungsregeln.

Als ein Beispiel für die an zweiter Stelle genannte Strategie sei der in der gleichen Session platzierte Vortrag von Christof Neumann, Mannheim, Intelligenz im Chaos: Perspektiven und Probleme der Sacherschließung durch Collaborative Tagging genannt. Neumann berichtete hier von den vorläufigen Ergebnissen eines DFG-Projektes an der Universitätsbibliothek Mannheim. Ziel des Projektes ist es, das dem Collaborative Tagging zugrunde liegende Potential (letztlich wird durch die Option, dass jeder Katalognutzer beliebige Schlagwörter zu den Katalogeinträgen vergeben kann, mittels einer nicht-hierarchischen Kommunikation intelligenter Individuen bei nicht kontrollierbarer Dynamik kollektiv Wissen erzeugt) durch geeignete Maßnahmen zu zähmen. Die Bildung von Tag-Clouds und die Einbeziehung von Interferenzen zwischen einzelnen Begriffen reichen für ein solches tag gardening nicht aus, so Neumann weiter. Im Projekt wurden daher u.a. ca. 100.000 Tags, die in verschiedenen Bibliothekskatalogen mittels BibSonomy generiert wurden, mit Hilfe von linguistischen Verfahren und unter Heranziehung verschiedener Vokabularien wie der RVK und der SWD analysiert. Als ein Ergebnis dieser Analysen stellte er heraus, dass unter den Tags neben bekannten, kryptischen und irrelevanten Begriffen sehr viele aktuelle Begriffe vorkommen, die noch nicht Eingang in Standardvokabularien gefunden haben, aber das Sprachempfinden der Nutzerschaft verkörpern. Sein Vortrag schloss mit dem Appell das kreative Potential der Tagging-Systeme als Chance zu begreifen. Wenn mittels geeigneter Methoden die unabdingbare Aggregation und Integration dieser Daten gelinge, dann könne das Tagging durchaus zu einer neuen und qualitativ hochwertigen Erschließungsmethode im Internet werden.

Open Access (OA) war zweifelsohne ein thematischer Schwerpunkt der 32. ASpB-Tagung. Das Thema wurde unter unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, sei es aus der Praxis einer Wissenschaftsorganisation am Beispiel der Helmholtz-Gesellschaft, die den kostenfreien Zugang zu Publikationen schon sehr früh bejaht hat (Heinz Pampel, Berlin), sei es aus der Sicht zweier Universitätsverlage (Berlin und Kassel), die aus dem Ziel heraus, Wissenschaftler der Trägerinstitution in ihren Publikationsbedürfnissen zu unterstützen, in der Regel auf eine zweigleisige Publikationsstrategie setzen (kostenpflichtige Printerzeugnisse und idealer Weise zeitgleich parallel dazu ein frei zugängliches digitales Dokument) und sei es aus der Perspektive der Spezialbibliothek des zur Max-Planck-Gesellschaft gehörenden Fritz-Haber-Instituts in Berlin, über die Ute Siebeky berichtete. Hier ist die Bibliothek seit einiger Zeit nicht nur Informationsversorger für den Träger sondern sie fungiert auch als Institutional Repository. Autorinnen und Autoren des Instituts sollen ihre Publikationen möglichst auch digital für Open Access zur Verfügung stellen, sofern etwa Verlagsverträge dieses nicht untersagen. Zu den vielen nützlichen und praxisbezogenen Erfahrungen, die in diesen Vortrag einflossen, gehörte u.a. die Vorstellung konkreter Maßnahmen, durch die OA in der Institution gefördert wird und die Empfehlung, digitale Dokumente - unabhängig von einer potentiellen Freigabe - möglichst zeitnah zu ihrer Entstehung zu sammeln, da der spätere Beschaffungsaufwand sehr hoch ist.

Urheberrechtliche Fragen zu digitalen Dokumenten sind inhaltlich mit OA wesensverwandt; macht doch die Bibliothek, in dem sie selbst digitalisiert, Publikationen einer Allgemeinheit zugänglich. Zwei trotz der an sich zunächst trockenen Rechtsmaterie sehr anschauliche und spritzige Vorträge von Dr. Eric Steinhauer, Hagen, und Dr. Harald Müller, Heidelberg, machten deutlich, dass die gegenwärtige Urheberrechtsgesetzgebung in dieser Frage, anders etwa als beim Kopienversand, recht bibliotheksfreundlich ist. Auch wenn manche Ungereimtheiten bleiben: Unterm Strich sanktioniert das geltende Urheberrecht OA. Müller wagte sogar die Prognose, dass das Google Book Project durchaus Chancen habe, sich letztlich gegen das heute geltende Urheberrecht durchzusetzen. Ein weiterer Vortrag von Dr. Hans-Georg Nolte-Fischer, Darmstadt, thematisierte den inzwischen beim OLG Frankfurt/Main anhängigen Rechtsstreit zwischen der ULB Darmstadt und dem Ulmer-Verlag hinsichtlich der Digitalisierung der Lehrbuchsammlung. Die Bibliothek hatte zur Jahreswende 2008/09 ca. 100 Titel digitalisiert und kapitelweise als pdf-Dateien in das bibliotheksinterne Netz (also nicht campusweit) als Alternative zu den oft nicht verfügbaren, da komplett ausgeliehen Printausgaben bereit gestellt. Zunächst war ein sowohl Ausdruck als auch Downloading der Dateien erlaubt, die Download-Funktion wurde im Zuge des Gerichtsverfahren vorübergehend eingestellt. Ansonsten hat sich die Rechtsprechung aber erstinstanzlich weithin die Position der Bibliothek zu eigen gemacht.

Auch bei der diesjährigen Tagung konnten etliche Beiträge unter die Rubrik Aus der Praxis für die Praxis subsumiert werden. Mit Sicherheit werden hier die Tagungsteilnehmerinnen und –teilnehmer, je nach ihrer derzeitigen konkreten Situation, viele Anregungen mitgenommen haben. Exemplarisch sind zu nennen:

Die Universitätsbibliothek Karlsruhe nutzte die Gelegenheit der Tagung vor Ort, sich selbst in einigen Beiträgen zu präsentieren. Mit großer Konsequenz hat sie das Konzept der rund um die Uhr geöffneten 24-Stunden-Bibliothek realisiert. Ein System der Buchsicherung in Kombination mit der automatisierten Ausleihe und Rückgabe von Büchern ermöglicht den Betrieb und die Nutzung der 1.000 Arbeitsplätze im großzügigen Freihandbereich der vor wenigen Jahren durch einen Neubau stark erweiterten Bibliothekräume zur jeder Tages- und Nachtzeit. Als vorläufig letzter Baustein gehört zu diesem Konzept nun auch die Abwicklung von Fernleihbestellungen, über die die Bibliothekskunden per SMS benachrichtigt werden und die dann ähnlich wie in den Packstationen der Post in einzelnen codierten Abholfächern bereit liegen. Dr. Michael Mönnich stellte zudem das Karlsruher Recommendersystem BibTip (www.bibtip.org) vor. Dieses wendet im Internet von kommerziellen Anbietern längst erprobte Verfahren, die Aufmerksamkeit der Kunden auf bestimmte Produkte zu lenken, auf Web-OPAC’s an und wird als Chance gesehen, die Entfremdung der Benutzerinnen und Benutzer von bibliothekarisch orientierten Erschließungsinstrumenten im Katalog ein wenig abzumildern. Das Verfahren wird inzwischen kommerziell vertrieben und hat besonders unter den Hochschul- und Fachhochschulbibliotheken bereits etliche Abnehmer gefunden. Man darf gespannt sein, wie sich diese hochmoderne Spezialbibliothek in den kommenden Jahren nach der zum 1. Oktober 2009 vollzogenen Verschmelzung der Universität Karlsruhe und des Forschungszentrums Karlsruhe zum Karlsruhe Institute of Technology (KIT) weiter entwickeln wird.

Als Highlight der Bemühungen des Programmkomitees, internationalen Aspekten gebührenden Raum zu verschaffen, darf der Festvortrag von Mrs. Janice R. Lachance, seit 2003 Chief Executive Officer der amerikanischen Special Library Association (SLA), angesehen werden. Als „großer Bruder“ der ASpB vertritt die SLA die Interessen von mehr als 11.000 Informationsspezialisten aus ca. 75 Ländern. Mrs. Lachance stellte nicht nur die Organisation, die Ziele und die Aufgaben der SLA näher vor, sondern sie legte auch dar, wie sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare berufs- und gesellschaftspolitisch positionieren sollten. In durchaus vergleichbarer Weise geschah dies für den internationalen Dachverband der Bibliotheksverbände, der IFLA, durch Ingeborg Verheul, Communication and Services Director in der IFLA-Zentrale in Den Haag. Frau Verheul warb zugleich für ein stärkeres Engagement deutscher Spezialbibliotheken in der IFLA. Zwei weitere fachkundige Beiträge zur Situation französischer und slowenischer Spezialbibliotheken rundeten diesen Blick über die nationalen Grenzen hinaus ab.

Im Rahmen der Mitgliederversammlung der ASpB fanden turnusmäßig gemäss der Satzung Vorstandswahlen statt. Seitens des Beirates wurde eine Kandidatenliste zur schriftlichen Abstimmung vorgelegt, die mit überwältigender Mehrheit auf Zustimmung unter den rund 35 von der Versammlung vertretenen Mitgliedsbibliotheken stieß. Somit wurde Dr. Jürgen Warmbrunn, Bibliothek des Herder-Instituts Marburg, für weitere drei Jahre in seinem Amt als Vorsitzender der ASpB bestätigt. Erster stellvertretender Vorsitzenden ist nunmehr Herr Henning Frankenberger, Leiter der Bibliothek des MPI für ausländisches und internationales Sozialrecht in München. Herr Frankenberger trat an die Stelle von Frau Ursula Flitner, Bibliothek des MPI für Bildungsforschung Berlin, die nicht mehr für dieses Amt kandidierte. Zum zweiten stellvertretenden Vorsitzenden und neuen Schatzmeister der ASpB wurde Herr Michael Normann, Universitätsbibliothek Karlsruhe, gewählt.

Trotz der Wirtschaftskrise war auch in diesem Jahr eine stattliche Anzahl von Firmen als Aussteller auf der Tagung zugegen. Die Nähe der Ausstellungsfläche im Foyer des Audimax der Hochschule zu den Vortragsräumen und hinreichende Pausenzeiten zwischen den einzelnen Sessions gaben den Teilnehmerinnen und Teilnehmern genügend Raum, die sie interessierenden Stände zu besuchen und mit den Anbietern ins Gespräch zu kommen. Etliche Firmen nutzen die Tagung auch als Plattform für eigene Produktpräsentationen, die teilweise auf eine große Resonanz stießen.

Dieser Bericht kann natürlich nur einen knappen Einblick in die Vielfalt der Tagung bieten. Somit bleibt zu hoffen, dass der Tagungsband zum Kongress möglichst zeitnah im Universitätsverlag Karlsruhe publiziert werden kann. Auch das im Schlusswort des Vorsitzenden gegebene Versprechen, bei den Referentinnen und Referenten dafür zu werben, ihre Präsentationen auf den Tagungswebseiten (http://blog.ubka.uni-karlsruhe.de/aspb/) einzustellen, ist eine wichtige Maßnahme, um der Tagung die Nachhaltigkeit zu verschaffen, die sie verdient.


Autor

Prof. Dr. Siegfried Schmidt ist Direktor der

Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek
Kardinal-Frings-Straße 1-2
50688 Köln
siegfried.schmidt@erzbistum-koeln.de


Anmerkung

1. David Weinberger: Everything is miscellaneous: the power of the new digital disorder. New York 2007. – Dt. Übersetzung unter dem Titel: Das Ende der Schublade: die Macht der neuen digitalen Unordnung. München 2008.