ILDS 2009: Das globale Netz macht die weltweite Dokumentlieferung schwieriger denn je

Großes Nachdenken über die Zukunft der Fernleihe und des internationalen Zugriffs auf Wissensressourcen auf der 11th Interlending and Document Supply Conference in Hannover, 20. - 22. Oktober 2009

von Vera Münch

Alle Fotos © TIB
Veranstaltungsort Hannover Congress Centrum

Der Austausch von Büchern und Dokumenten zwischen den Bibliotheken der Welt ist von den Veränderungen durch die Digitalisierung ganz besonders betroffen. Das gesamte System muss an die neuen Gegebenheiten angepasst werden. Nur wie das gehen soll, und ob die Fernleihe-Abteilungen überhaupt eine Zukunft haben, das weiß noch keiner so richtig. Diese und zahlreiche weitere Fragen diskutierten rund 190 Fachleute aus 35 Ländern auf der IFLA ILDS, der wichtigsten internationalen Konferenz dieser Sparte der Bibliotheksszene Mitte Oktober in Hannover. Dem Goportis-Konsortium war es gelungen, die renommierte Konferenz, die jedes zweite Jahr in einem anderen Land stattfindet, anlässlich des 50jährigen Bestehens der Technischen Informationsbibliothek (TIB) nach Deutschland zu holen. Goportis ist die Bezeichnung für den Leibniz-Bibliotheksverbund Forschungsinformation der drei Deutschen Zentralen Fachbibliotheken TIB, der Deutschen Zentralbibliothek für Medizin (ZB MED) und der Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften (ZBW).

Die Probleme sind in der Politik angekommen

Das Schwergewicht der Goportis-Kooperation reichte aus, Bundesbildungsministerin Prof. Dr. Annette Schavan für die Schirmherrschaft zu gewinnen. In ihrem Vorwort im Programmheft zur ILDS macht die Ministerin deutlich, dass ihr die Herausforderungen, die sich aus der Digitalisierung und dem Internet für wissenschaftliche Informationsversorgung und deren Qualität ergeben, durchaus bewusst sind. Sie fordert dort: „Anbieter wissenschaftlicher Information müssen gemeinschaftliche Anstrengungen unternehmen, um auf die Veränderungen zu reagieren, und sie müssen Strategien entwickeln, um ein tragfähiges Profil ihrer Stärken aufzubauen.“ Die Konferenz, so die Ministerin weiter, biete eine exzellente Gelegenheit, „den Boden für ausgedehnte Kooperationen zu bereiten und gemeinsame Strategien für eine ‚viable‘ Zukunft zu entwickeln.“ Das englische Wort „viable“ hat übersetzt mehrere Bedeutungen, unter anderem: existenzfähig, gangbar, durchführbar, praktikabel, wachstumsfähig, überlebensfähig … Was sie genau zum Ausdruck bringen wollte, bleibt – bewusst oder unbewusst – im Babylonischen Sprachgewirr der internationalen Kommunikation verschleiert.

Richard Boulderstone, Director e-Strategy and Information Systems der British Libraries, brachte in seiner Keynote mit dieser Kurve auf den Punkt, wie die Lage wirklich aussieht. Die Fernleihezahlen gehen rapide zurück. Die British Library hält mit zahlreichen neuen, spannenden Services dagegen, zum Beispiel mit den Diensten ETHOS – Electronic Thesis Online Service, mit der UKRR – UK Research Reserve, dem Dienst UK PubMed Central und einer Partnerschaft mit dem globalen Wissenschaftsportal http://worldwidescience.org/, mit dem auch die TIB kooperiert. Mehr zu den Projekten der BL im Web unter: www.//ethos.bl.uk und http://ukpmc.ac.uk/

Ulrich Korwitz, Leitender Bibliotheksdirektor der ZB MED, kündigt den Referenten des Hauptvortrages der Session 4 „Open Access and Copyright“ an: Professor Dr. Rainer Kuhlen, der über Skype in die Konferenz im Hannoverschen Kuppelsaal geschaltet war und seinen Vortrag über die Leinwand hielt. Die Konferenzteilnehmer fanden es innovativ.

Uwe Rosemann, Direktor der TIB, knüpft Netzwerke über die ganze Welt. Auf der ILDS in Hannover kündigte er unter anderem die Gründung von DataCite, einer internationalen Initiative zur Verbesserung des Zuganges zu Forschungsdaten an.

Vorkonferenz „Rethinking in Resource Sharing in Europe Forum“

Die Interlending-Szene ist klein, aber hochrangig besetzt und international vernetzt. Um dem Publikum, das aus aller Welt zur ILDS in Hannover erwartet wurde, entgegen zu kommen, hatten die Organisatoren den Konferenztermin im Anschluss an die Frankfurter Buchmesse 2009 gelegt. Dazwischen fand noch ein Tag Vorkonferenz zum Thema „Umdenken in der Teilung von Wissensressourcen“ (Rethinking in Resource Sharing) ebenfalls in Hannover statt, den Poul Erlandsen von der Nationalbibliothek für Bildung und Erziehung in Kopenhagen organisiert hatte. Erlandsen ist Vorsitzender des Steuerungskommitees der IFLA Resource Sharing Intitiative. Auf dieser Vorkonferenz, an der rund 50 Interlending-Experten aus Europa, Amerika, Asien und Afrika teilnahmen (es dürften 20 Nationen vertreten gewesen sein, darunter Indien und China), wurde vor allem über nationale und grenzüberschreitende Aktivitäten im Bereich Fernleihe über Datennetze berichtet. Zudem wurden spannende Netzwerke innerhalb und über die Länder hinaus vorgestellt und die Probleme diskutiert, die sich durch die unterschiedliche Gesetzgebung im Bereich Urheberrecht auftun. „Rethinking“ – Umdenken / Neu denken – war das am häufigsten gebrauchte Wort auf dieser Veranstaltung und auch auf der nachfolgenden ILDS 2009. Wie unterschiedlich der Stand der Entwicklung in den verschiedenen Ländern und Einrichtungen ist, kam in der Frage aus dem Auditorium zum Ausdruck, ob man eBooks künftig ins Resource Sharing einbeziehen sollte und müsste.

Die Folien zu den Vorträgen sind, soweit sie von den Referenten zur Verfügung gestellt wurden, auf der Konferenzwebseite http://www.bcr.org/RRSEuropeForum/agenda.html zum Herunterladen bereitgestellt.

14 Tage Nachdenken über die bibliothekarische Zukunft

Buchmesse, Vorkonferenz und ILDS 2009 in Folge bedeuteten für die Beteiligten fast zwei Wochen ununterbrochener, intensiver Beschäftigung mit der Zukunft bibliothekarischer Dienstleistungen aus allen denkbaren Blickwinkeln. Die komprimierten Darstellungen hinterließen den unmissverständlichen Eindruck, dass der Umbruch derzeit immens ist und die Vorgänge eine Eigendynamik gewonnen haben, die von niemandem mehr wirklich einschätzbar oder gar kontrollierbar ist. Diese Dynamik wird gespeist aus der Tatsache, dass die ganze Welt an den Veränderungen beteiligt ist. Irgendwo auf der Welt treibt in jeder Minute irgendwer, der sich dazu berufen fühlt, irgendwelche Entwicklungen im Bezug auf digitale Informationsbereitstellungen voran – Bibliotheken, Unternehmen, Privatpersonen, Organisationen … Was am Ende der Entwicklungen stehen wird, welche bibliothekarischen Dienstleistungen übrig bleiben und auch, welche Bibliotheken überleben werden, weiß heute noch niemand. Fest steht nur, dass die Entwicklungen und ihre Ergebnisse alle Bibliotheken betreffen. Und es zeichnet sich auch schon ab, dass nur die großen Bibliotheken, die über entsprechendes Know-how zu den Aufgabenstellungen der Digitalisierung, über die notwendigen Personalressourcen verfügen und die von ihren Trägergremien mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet werden, im internationalen digitalen „Resource Sharing“ mitmischen und längerfristig bestehen können. Aber selbst die Großen müssen eng kooperieren – national wie international – und dabei ihre nationalen Interessen sichern oder, wie das von manchen Bibliothekaren so gerne geträumt wird, nationale Interessen aufgeben und das Wissen der Welt allen Menschen dieser Erde gleichberechtigt verfügbar machen.

Vor dieser Vision des „One World in Knowledge Sharing“ stehen allerdings viele ungelöste politische und finanzielle Fragen – ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Interessen der Verlage, Agenturen, Softwaregiganten und Informationsanbieter, denen die Digitalisierung einen schnellen, direkten und preiswerten Weg direkt in den Weltmarkt öffnet.

Verbleibende Aufgaben für die Bibliotheken

Was sich in diesem Umfeld zur Zeit als drängendste Aufgaben für Bibliotheken stellt, kann man ebenfalls in Ministerin Schavans Vorwort nachlesen: „?…? Zur gleichen Zeit steigt der Bedarf an der Begutachtung wissenschaftlicher Publikationen durch Experten und an strukturierter Informationsqualität, an zuverlässiger Informationslieferung und Langzeitarchivierung, um eine vernünftige Nutzung des breiten Spektrums vorhandener Inhalte und der enormen Menge an verfügbaren Daten zu gewährleisten.“ Auf der ILDS wurde deutlich, dass sich die Zentralbibliotheken bereits darauf konzentrieren. Vorreiter in Europa sind die British Library und die TIB – im Rahmen von Goportis sowie anderer Kooperationen mit Fachinformationsanbietern, Universitäten und Forschungseinrichtungen. „Es ist offensichtlich, dass einzelne Services immer weniger Bedeutung haben“, sagte Uwe Rosemann, Direktor der TIB, in seiner Moderation des Blocks „The Future of Information Services“. Eine große Frage dabei sei, wie man seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darauf vorbereite. „Digitalisierung erfordert andere Qualifikationen als die bisherigen Bibliotheksdienstleistungen.“ Am Rande der Konferenz ergänzte der TIB-Chef, die ILDS zeige sehr deutlich, dass es in vielen Ländern bereits starke Netzwerke zur Lösung der Aggregation von Know-how zur Digitalisierung gäbe. Aber: „Diese Erkenntnis ist in Deutschland noch nicht so verbreitet.“ Rosemann kündigte an, dass Goportis zur Fachmesse „Online Information“ Anfang Dezember in London die Gründung von DataCite, einer internationalen Initiative zur Verbesserung des Zuganges zu Forschungsdaten, vorstellen werde.

Netzwerken und Marketing gegen die Krise

Netzwerken und Marketing wird als Mittel gehandelt, um Bibliotheken erfolgreich durch die Krise zu bringen. Neben dem in zahlreichen Vorträgen empfohlenen und am Rande der Konferenz intensiv gelebten Networking rieten Referentinnen und Referenten immer wieder auch dazu, den Wert der Bibliothek in Zahlen darzustellen, also sichtbar und messbar zu machen und für die angebotenen Dienstleistungen ein intensives Marketing zu betreiben. Clare MacKeigan vom kanadischen Bibliotheksdienstleister Relais International verwies u.a. auf beispielhafte Aktivitäten der Penn Libraries der University of Pennsylvania in Philadelphia (siehe dazu http://www.library.upenn.edu/portal/). Sie präsentierte ein dort gedrehtes Marketingvideo, in dem ein junger Mann singend (!) die elektronische Ausleihmaschine Borrow Direct der Bibliothek erklärt. In seinem Liedtext bedankt er sich überschwänglich für die tollen Möglichkeiten („thanks to Penn Library ...“). Das Video kann auf YouTube angehört und angesehen werden unter http://www.youtube.com/watch?v=B1xrmmTwx9I. Es hat absolut das Zeug, Kultstatus zu erlangen. Ob es allerdings als Marketinginstrument für Deutschland und Europa geeignet ist, darf stark bezweifelt werden.

Die Stimmung ist besser als die Lage

Die Stimmung in der Bibliothekswelt und „der IFLA-Familie“ (wie TIB-Marketingfrau Nicole Petri sich ausdrückte) ist deutlich besser als die Lage: „Ich bin immer wieder überrascht zu sehen, wie Bibliothekare tanzen können“, neckte Ulrich Korwitz, Leitender Bibliotheksdirektor der ZB MED, zum Schluss die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für ihre den Berichten zufolge sehr engagierte Teilnahme am konferenzbegleitenden Unterhaltungsprogramm. Ernsthaft fasste er dann die Diskussionen der Konferenz in kurzen Worten zusammen: „Die ILDS hat mehr geboten, als ich erwartet habe. Vortragsthemen und Diskussionen waren viel breiter, als der Begriff ILDS impliziert“, so Korwitz. Die Teilnehmer hätten Interessantes über

gehört, gelernt und diskutiert. Darüber hinaus hätte man einen tiefen Einblick in

Korwitz zog nach den drei Konferenztagen das Resümee: „Interlending und Document Supply ist ein wichtiger Teil des Bibliotheksgeschäftes, aber er muss im Kontext aller anderen Aktivitäten gesehen werden: der Aufgabe, aus Forschungsdaten Information zu erstellen – von Metadaten bis zum Volltext.“ Vor diesem Hintergrund sei selbst Open Access kein Widerspruch zu ILDS: „Wir müssen auch dieses Material indexieren.“ Dem Kunden sei es egal, welche Daten wie und wo in welcher Form lägen. „Sie wollen den Zugang und sie brauchen die Kompetenzen, an die Informationen heranzukommen.“

Das genaue Programm der Konferenz und die Abstracts der Vorträge sind auf der ILDS 2009-Konferenzwebseite bereitgestellt und dort mit den Volltexten bzw. Vortragsfolien verlinkt. www.ilds2009.de


Autorin

Vera Münch ist freie Journalistin und PR-Beraterin

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