Editorial
Die Bibliotheken und das Buchwesen auf dem Mars

Vor 108 Jahren erschienen die Invasions-Romane von Wells und Laßwitz

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der Mars Konjunktur. Das Interesse der Weltöffentlichkeit an unserem nach dem römischen Kriegsgott benannten Nachbarplaneten war vor allem ausgelöst worden durch die Entdeckungen des amerikanischen Astronomen Asaph Hal und des italienischen Astronomen Giovanni Virginio Schiaparelli im Jahre 1877 - ein Jahr, in dem die Entfernung zum Mars relativ gering war, nämlich 56 Millionen Kilometer (gegenüber der Maximalentfernung von 399 Millionen Kilometern). Hal entdeckte die bereits von Kepler 1610 rein rechnerisch ermittelten Marsmonde und nannte sie nach den Begleitern des Kriegsgottes Mars Deimos und Phobos, also "Schrecken" und "Furcht".

Weitaus folgenreicher waren die Beobachtungen Schiaparellis, des damaligen Leiters der Mailänder Sternwarte. Er entdeckte ein Netz feiner Linien auf der Marsoberfläche und bezeichnete sie als "Canali", dem italienischen Wort für "Rillen", was in anderen europäischen Sprachen mit dem Wort für künstliche Wasserstraßen, nämlich Kanäle, übersetzt wurde. Seine Entdeckung aber ließ nur die Schlussfolgerung zu, dass intelligente Lebewesen die Marsoberfläche für ihre Bedürfnisse verändert hätten. Dies beflügelte die Phantasie von Wissenschaftlern und Dilettanten ungemein: der Mars wurde daraufhin "kartiert", eine Mars-Geographie und eine Mars-Topographie entstanden, die so detailliert waren, dass man hätte meinen können, sie seien per Autopsie aufgenommen worden. Der Amerikaner Percival Lowell, ein Mars-Enthusiast, leitete aus den angeblichen "Kanälen" - wir wissen heute, dass es sich um optische Täuschungen handelt - das Bild einer Zivilisation auf dem Mars ab. Von hochintelligenten und hochmoralischen Marsianern war auf Tagungen und in durchaus ernst gemeinten Publikationen die Rede. Die Mars-Studien nahmen nach 1892 und 1894, wieder Jahren einer günstigen Mars-Position, weiter zu. Aber nicht nur die wissenschaftliche oder pseudo-wissenschaftliche Diskussion um den Mars erreichte einen Höhepunkt, auch die Literatur griff die Spekulationen über eine Zivilisation auf dem benachbarten Planeten auf.

Das Thema einer marsianischen Gesellschaft war freilich an sich nicht neu. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sie Eingang in die utopische bzw. philosophisch-spekulative Literatur gefunden. So berichtete der schwedische Gelehrte und Theosoph Emanuel Swedenborg (1688-1772) in seinem Werk "Arcana coelestia" von seinen visionären Kontakten mit Marsianern, die in jeder Hinsicht der Entwicklung auf der Erde voraus seien und ein ideales individuelles wie gesellschaftliches Leben führten.

Von "konkreten" Reisen zum Mars phantasierten im 18. Jahrhundert Eberhard Christian Kindermann, Carl Ignaz Geiger und Marie-Anne de Roumier. In Geigers "Reise eines Erdbewohners in den Mars" (1790) spielt die Handlung tatsächlich auf dem Mars (im Gegensatz zu den sehr allegorischen Texten der vorhin erwähnten). Die Marsianer sind bei Geiger technisch hoch entwickelt und wohnen etwa in fahrbaren Häuschen, mit denen sie ohne Schwierigkeiten von Ort zu Ort gelangen können.

Im Jahr 1897 geschieht nun etwas Neues mit einer literarischen Wirkung bis in die Gegenwart. Das erste Mal landen in zwei Romanen nicht Erdbewohner auf dem Mars, sondern die Marsbewohner kommen zur Erde, und zwar in Massen. Die Romane von Kurd Laßwitz "Auf zwei Planeten" (Weimar: Felber 1897) und Herbert George Wells "The War of the World" (zunächst als Serie in Pearson's Magazine vom April bis Dezember 1897 erschienen) etablieren eines der häufigsten Motive in der Science Fiction. Invasionen von anderen Welten und Begegnungen mit Aliens, die fast immer dem Menschen technisch überlegen, aber grausam und zerstörerisch sind oder aber auf einer weitaus höheren ethischen Stufe als die Erdbewohner stehen, sind nahezu konstituierend für diese Literaturgattung geworden.

Der Roman von Laßwitz erlebte bis 1930 zahlreiche Neuausgaben sowie einige Neuauflagen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Roman von Wells aber war Vorbild für eine nicht mehr überschaubare Fülle von trivialen und nicht-trivialen Science Fiction-Romanen und -Filmen.

Am 29. Juni 2005 startete der neue Science-Fiction-Film von Steven Spielberg in unseren Kinos: Krieg der Welten . Er fand außerordentlich positive Aufnahme bei der Kritik. In ihm findet sich übrigens eine Szene, in der Menschen in Panik vor den erbarmungslosen Invasoren fliehen. Eine kurze Einblendung zeigt ein Paar, das in einem Einkaufswagen Getränke und Lebensmittel mit sich zerrt; im Wagen eines anderen, älteren Paares sieht man ausschließlich Bücher ...

Der Film geht auf den Roman-Klassiker von H. G. Wells zurück. 1953 wurde die Romanvorlage schon einmal verfilmt. 1938 löste eine von Orson Welles in den USA gesendete Hörspielfassung eine Massenpanik aus. Kenner halten das 1979 mit Richard Burton als Sprecher produzierte gleichnamige Musical von Jeff Waynes für eine der besten musikalischen Literaturadaptionen. Zu Recht gilt somit H. G. Wells als der Urvater aller Alien-Invasionsromane.

Der zweite Urvater ist darüber fast in Vergessenheit geraten: Kurd Laßwitz und sein Roman Auf zwei Planeten. Der Roman beginnt mit der Ballonfahrt dreier deutscher Gelehrter, die den Nordpol erforschen. Dies wird beobachtet von einem Ort, "der sich bereits außerhalb der Erdatmosphäre" befindet. Es ist eine Raumstation und damit wohl die erste Raumstation der Literatur. Interessanterweise hat sie die Form eines Speichenrades und entspricht damit der später von Wernher von Braun - er war ein großer Verehrer von Laßwitz - und seinem Team entworfenen Station.

In einer Zeit, in der zwar grundlegende Erfindungen gemacht werden, von umfassendem Auto-, Luft- oder Funkverkehr aber noch nicht die Rede sein kann, erzählt Laßwitz von interplanetaren Reisen und anderen technischen Wunderwerken. Die Martier haben über dem Nordpol nicht nur eine Raumstation mit Shuttledienst ("Zum Raumschiff nach dem Mars" steht an einer Tür der "Außenstation Erde") fixiert, sondern auf der Erde auch eine künstliche Insel geschaffen. Maschinen werden mit Sonnenenergie betrieben. Nachrichten werden per Licht transferiert: "Sie telegraphierten nicht nur, sie telephonierten vermöge des Lichtstrahls." Sie kennen auch eine Art Telefax, das die elektromagnetischen Schwingungen in lesbare photochemische umsetzt. Fotokopierer in Handtaschenformat trägt jeder bei sich.

Die Bücher der Martier haben multimediale Eigenschaften: "sie brauchte nur die Empfangsplatte des Grammophons auf die betreffende Stelle des Buches zu legen, um den Laut selbst zu hören." Die martischen Bücher besitzen übrigens eine durchaus andere Form und werden auch anders benutzt als irdische codices oder Rollen: "Das Buch besaß wie alle Bücher der Martier die Form einer großen Schiefertafel, und wurde an einem Handgriff ähnlich wie ein Fächer gehalten, so dass die längere Seite der Tafel nach unten lag. Ein Druck mit dem Finger auf diesen Griff bewirkte, dass das Buch nach oben aufklappte, und auf jeden weiteren Druck legte sich Seite auf Seite von unten nach oben um. Man bedurfte auf diese Weise nur eine Hand, um das Buch zu halten, umzublättern und jede beliebige Seite festzulegen." Im übrigen ist für Martier dieses selbstverständlich: "Bücher gehören bei den Martiern zur unentbehrlichen Ausstattung jedes Zimmers, eher würde man die Fenster entbehren als die Bibliothek."

Auf dem Mars selbst gibt es komfortable Lesehallen, die von den Martiern stark frequentiert werden. Auf dem Planeten existiert nämlich eine offizielle Lesepflicht: " jeder Martier war verpflichtet, bei Verlust seines Wahlrechts, aus zwei Blättern, von denen eines ein oppositionelles sein musste, täglich über die wichtigsten politischen und technischen Neuigkeiten sich zu unterrichten. ... An den Wänden befanden sich jedoch kleinere Abteilungen, verschlossene Logen, in mehreren Stockwerken über einander, in denen sich Bekannte zusammensetzen und ihre Meinung austauschen konnten."

Die "Umweltverschmutzung" auf der Erde ist den Martiern unbegreiflich: "Woher kommen diese Nebel über ihren neuen Städten?" fragt einer. "Hauptsächlich von der Verbrennung der Kohle." "Aber warum nehmen sie die Energie nicht direkt von der Sonnenstrahlung? Sie leben ja vom Kapital, statt von den Zinsen."

Auf dem Mars selbst erleben die menschlichen Gäste eine technisch hoch entwickelte Zivilisation. Hauptverkehrsmittel der Martier sind Gleit- und Radbahnen, angetrieben von Elektromotoren, die sich aus gespeicherter Sonnenenergie speisen. Für den Personentransport werden vor allem die Radbahnen genutzt, bei denen es möglich ist, einzelne Module für den individuellen Reiseverkehr zu nutzen. Diese erreichen eine maximale Geschwindigkeit von 400 Stundenkilometern. Die Martier leben in riesigen Häusern über den Kanälen. Ein Fünftel der Fläche in den überbauten Gebieten ist im übrigen als Naturpark ausgewiesen. Die Mehrheit wohnt auf dem Lande in kleinen transportablen Häusern, die problemlos und ohne dass die Bewohner sie verlassen müssen, auf dem Luftwege an andere Orte gebracht werden können. Automaten, die äußerlich den Martiern gleichen - wir würden sie Androiden nennen - erledigen z. B. einfache Arbeiten.

Augenfälliger noch als die technische Überlegenheit der Laßwitzschen Martier ist aber ihre ethische. Sie leben, vereinfacht gesagt, streng nach den kantischen Prinzipien. Ihre hochentwickelte Ethik führt schließlich zum Konflikt zwischen den beiden Planeten. Die Martier sehen sich gezwungen, die Erde zu unterwerfen. Dies entzweit allerdings auch die Martier untereinander, die sich in Freunde der Erde und ihre Gegner aufspalten. Letztere beschreiben die Erde so:

"Von Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Freiheit haben diese Menschen keine Ahnung. Sie zerfallen in eine Menge von Einzelstaaten, die untereinander mit allen Mitteln um die Macht kämpfen. Darunter leidet die wirtschaftliche Kraft dermaßen, dass viele Millionen im bedrückendsten Elend leben müssen. ... Jede Bevölkerungsklasse hetzt gegen die andere und sucht sie zu übervorteilen. ... Heuchelei ist überall selbstverständlich. ... Morde kommen alle Tage vor, Diebstähle alle Stunden. Gegen die so genannten unzivilisierten Völker scheut man sich nicht, nach Belieben Massengemetzel in Szene zu setzen. Und diese Bande sollen wir als Vernunftwesen anerkennen?" - Die großen europäischen Nationen erleben nun durch die Martier das, was Millionen Menschen in Asien, Afrika und Amerika durch die Europäer erlebt haben. Kennzeichnend dafür ist der Ausruf eines irdischen Helden des Romans: "Wir sind ja doch arme Rothäute!"

Die von den Martiern zwar gut gemeinte, aber für die Menschen schwer erträgliche Unterdrückung führt zu einer Solidarisierung der Völker. Einem Geheimbund unter Führung Amerikas gelingt es schließlich, die Martier durch eine militärische List vernichtend zu schlagen. Auf der Erde aber sind die Völker in dem Bewusstsein geeint, dass sie zusammengehören und für die gesamte Erde zu handeln haben. "Friede sei auf Erden, damit die Erde den Menschen gehöre!"

Dem Roman von Kurd Laßwitz, der jahrzehntelang erfolgreich war, bis er schließlich von den Nationalsozialisten wegen seiner demokratischen Grundhaltung abgelehnt wurde, war nicht der andauernde weltweite Erfolg beschieden wie dem Krieg der Welten von Wells. Heute erinnert u. a. der renommierte Kurd-Laßwitz-Preis für Science Fiction an diesen "Mit-Urvater" der Marsromane.

Dr. Georg Ruppelt