Wissen erweitert - und was dann?

von H. Peter Ohly

Die vermeintliche Bildungsmisere in Deutschland hat sowohl dem Bildungsbereich, wie auch dem Forschungsbereich neue Impulse verschafft. Wissen wird nicht mehr statisch und gleichverteilt gesehen, sondern vielmehr gilt es, neues Wissen zu schaffen, dieses zu vermitteln und mit Nutzen einzubringen. Jenseits von 'Information als Rohstoff für Innovation'1 werden mit 'Informationsgesellschaft Deutschland 2006'2 und 'Information vernetzen - Wissen aktivieren'3 von staatlicher Seite neue Förderschwerpunkte gesetzt, die Deutschland im internationalen Verteilungskampf nachrüsten sollen. Ein Zitat aus dem Aktionsprogramm der Bundesregierung: 'Auch Forschung und Wissenschaft verändern sich im digitalen Zeitalter. Mit neuen interaktiven Netzanwendungen wird künftig die internationale Kooperation, die Nutzung neuer Forschungsgeräte und digitaler Daten und Archive wesentlich effizienter sein. ... Das künftige Internet wird - wie in der Vergangenheit schon - in starkem Maße Lösungen und Technologien nutzen, die zunächst in der Wissenschaft entwickelt und erprobt worden sind. Aus diesem Grund wird die Wirtschaft frühzeitig bei der Forschung auf dem Gebiet der e-science einbezogen.' Und im Positionspapier werden folgende näheren Ziele genannt:

'1. Den Zugang zur weltweiten wissenschaftlichen Information für jedermann zu jeder Zeit und von jedem Ort zu fairen Bedingungen sicherstellen.

2. Den durch die Entwicklung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien und Netze ermöglichten Paradigmenwechsel vom Anbieter zum Nutzer im Hinblick auf individuelle Informationsanforderungen vollziehen.

3. Die Informationsversorgung als Bestandteil unseres nationalen Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungssystems im Rahmen des Ausbaus der Wissensgesellschaft optimieren.

4. Den Aufbau von Informationssystemen mit hochwertigen Dienstleistungsprodukten unter dem Gesichtspunkt des globalen Marktes und der Effizienz fördern.

5. Die Aufgaben der staatlichen Informationseinrichtungen mit dem Ziel der Effizienzsteigerung prüfen und strategisch neu ausrichten.'

Und unter 'Wissen im Netz' wird im Förderprogramm 'IT-Forschung 2006'4 angesprochen: 'Mit dem Ausbau der Kommunikationsnetze wächst der Bedarf, Wissen darin zu speichern, zu verarbeiten und wiederzufinden. Die Software, die im Netz bereitgestellt wird, muss deshalb künftig nicht mehr nur die Suche und das Finden von Informationen, sondern zunehmend auch den Umgang mit dem darin enthaltenen Wissen unterstützen.' Ähnliche hoheitliche Aktivitäten gibt es auch in anderen Ländern: in den USA die Cyberinfrastructure-Initiativen5 des Directorate for Computer & Information Science & Engineering (CISE) der NSF, in England das 'UK e-Science Programme' vom November 2000 unter Führung des Engineering and Physical Sciences Research Council (EPSRC) und das European Research Area (ERA) wird mit dem 7th Research Framework Programme für Forschung und technologische Entwicklung von der EU Kommission vorbereitet.

All diese Förderprogramme legen den Schluss nahe, dass der bisherige Wissensbetrieb versagt hat, uneffizient geforscht und erst recht nicht seine Ergebnisse vermittelt hat. Dies soll jetzt alles mit neuer Technologie nachgeholt werden können. Aber es muss zunächst eingeschränkt werden, dass nicht alles Wissen ist, was sich 'Wissen' nennt. Oft handelt es sich nur um Daten, deren richtige Interpretation erst zur Information führt. 'Wissen' wieder setzt eine sinnvolle Einbettung von individuellen Informationen in einen generellen Zusammenhang voraus. Die Rolle der IT hierbei ist dann alles andere als eindeutig. Kann sie bereits erarbeitetes Wissen wiederverfügbar machen? Kann sie automatisch Sinnzusammenhänge aus Informationen ableiten? Ist sie in der Lage, genau die Informationen zusammenzutragen, die Wissenschaftler bei ihrer Arbeit benötigen? Kann sie Information und Wissen so treffend darstellen, dass ihr Gehalt umfassender, schneller und besser ihr Gehalt erkannt wird.

Solchen Fragestellungen wendet sich im Endeffekt die Tagung 'Knowledge eXtended'6 vom 2.11.2005 bis 4.11.2005 im Forschungszentrum Jülich zu. Der Untertitel ' Die Kooperation von Wissenschaftlern, Bibliothekaren und IT-Spezialisten' zeigt an, dass die Herausforderung der IT an die Wissenschaft unter dem Blickwinkel der Informationsversorgung gesehen werden soll. Als Haupt-Themenbereiche werden Open Access, Data Mining, Semantische Netze und Grid angegeben. Data Mining kann dabei für explorative Verdichtung von Daten, Informationen oder gar Wissen stehen7. Semantische Netze ermöglichen die komplexe logische Verknüpfung von Informationen und entsprechende Ableitungen darüber8.

Grid Computing erlaubt verteilten Zugriff, Bearbeitung und Abfrage bei großen verteilten Informationsbestände, wodurch die wissenschaftliche Kooperationsfähigkeit gesteigert wird9.

Content Management, das ebenfalls mit einem Beitrag vertreten ist, erlaubt die kollektive Darstellungsform-unabhängige Verwaltung von Texten durch gemeinsame Interpretationsstandards10.

Hiermit wären vorwiegend technische Aspekte benannt, die Forschern das verdichtende Arbeiten mit wissenschaftlichem Material erleichtern sollen und die oft erst beweisen müssen, dass sie die Qualität des wissenschaftlichen Arbeitens im jeweiligen Fachgebiet erhöhen11. Open Access dagegen berührt eher eine andere Dimension, nämlich die des sozial-politischen Umfeldes, was nicht selbstverständlich durch technische Infrastrukturen wie Open Access Archive und Zeitschriften sowie Interoperabilitätsstandards bedingt wird12.

Wissenschaftliche Ergebnisse könnten eventuell nur dann gesellschaftlich fruchtbar sein, wenn sie auch allen anderen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit weitgehend frei zur Verfügung stehen. Umgekehrt dürfte das geistige Eigentum durch 'Napsterisierung' in der Wissenschaft immer mehr in Gefahr geraten13. Stichpunkte hier hätten auch 'Digital Divide', 'Digital Rights' und 'Quality Control' sein können, womit sich unlängst auch die Internationale Gesellschaft für Wissensorganisation14 und die IuK-Initiative15 beschäftigt haben, aber zu keiner verbindlichen Aussage kamen. Wie wichtig die breite - wenn nicht sogar nachhaltige - Vermittlung von Wissen gesehen wird, eröffnet sich auch bei einem Blick auf die Studie 'Realizing America's Potential' der Science and Engineering Workforce des amerikanischen National Science Board vom August 2003. Hierin heißt es z.B.: '... we can think of nothing more dangerous than a failure to manage properly science, technology, and education for the common good over the next quarter century.'

Technische Wissensverarbeitung kann also das Training im verantwortlichen wissenschaftlichen Arbeiten nicht ersetzen. Auch sind Monopole und Missbrauch von Wissensverwertungen in großem Stile sozial ausgehandelten Regelungen zu unterwerfen. Leben wir wirklich schon in einer 'Google-Gesellschaft'16? Oder brauchen wir das Deep Web17 für Jedermann? Oder erweisen sich Begriffe wie 'Informationsflut'18, 'Wissensgesellschaft' oder 'eScience' gar bald als hausgemachte Papiertiger, die letztlich die Wissenschaft nicht weiterbringen. Hier Bezüglich klärender Fragen und eindeutiger Antworten sind wir erst am Anfang und auch die Tagung 'Knowledge eXtended' wird hieran nicht vorbeikommen.


Zum Autor

H. Peter Ohly ist Vorsitzender der Deutschen Sektion der Internationalen

Gesellschaft für Wissensorganisation
IZ Sozialwissenschaften
Lennéstraße 30
D-53113 Bonn
E-Mail: ohly@iz-soz.de


Anmerkungen

1. Programm der Bundesregierung 1995 - 2000, August 1996. Siehe hierzu etwa: Czermak, Jan-Michael: Information als Rohstoff für Innovation. Programm der Bundesregierung 1996 bis 2000. In: Nachrichten für Dokumentation 1997, H. 48, S. 31 - 36

2. Aktionsprogramm der Bundesregierung, Dezember 2003

3. Strategisches Positionspapier zur Zukunft der wissenschaftlichen Information in Deutschland, September 2002

4. Förderprogramm Informations- und Kommunikationstechnik, März 2002

5. z.B. 'Next Generation Cybertools' http://www.nsf.gov/funding/pgm_summ.jsp?pims_id=13553&org=CISE&from=home Anmerkung: Alle angegebenen URL-Adressen beziehen sich auf den Stand vom 10.8.2005

6. http://www.fz-juelich.de/zb/Knowledge_eXtended

7. siehe etwa: Säuberlich, Frank: KDD und Data Mining als Hilfsmittel zur Entscheidungsunterstützung, Frankfurt: Peter Lang Verlag 2000

8. siehe etwa: 1.3.5: Semantische Netze. In: Ferber, Reginald: Information Retrieval: Suchmodelle und Data-Mining-Verfahren für Textsammlungen und das Web. Heidelberg: dpunkt.verlag 2003. Auch als http://information-retrieval.de/irb/irb.html verfügbar.

9. Foster, Ian; Kesselman, Carl: The Grid: Blueprint for a New Computing Infrastructure. 2. Auflage. , Amsterdam: Elsevier 2004. Siehe auch: NCESS: What is the Grid? http://www.ncess.ac.uk/grid/

10. siehe etwa in der Wikipedia: 'Content Management System' http://de.wikipedia.org/wiki/ Content-Management-System und 'Enterprise Content Management' http://de.wikipedia.org/wiki/Enterprise_Content_Management

11. siehe hierzu die Keynote Speeches zur First International Conference on e-Social Science, Manchester, 22.-24.6.2005 http://www.ncess.ac.uk/conference-05/programme/

12. Budapest Open Access Initiative vom Dezember 2001 http://www.soros.org/openaccess/ und Open Archives Initiative http://www.openarchives.org

13. Kuhlen, Rainer: Napsterisierung und Venterisierung - Bausteine zu einer politischen Ökonomie des Wissens. In: PROKLA 32 (2002), Heft 1,S. 57-88 (auch als http://www.inf-wiss.uni-konstanz.de/People/RK/Publikationen2002/rk-prokla-version06-091001.pdf verfügbar)

14. Wissensorganisation und gesellschaftliche Verantwortung, Duisburg, 5.-7.11.2004 (Manuskripte und Podiumsdiskussion unter http://www.bonn.iz-soz.de/wiss-org/materialien_wissorg_04.htm)

15. Herausforderungen an das Publizieren und die Informationsversorgung in den Wissenschaften, Bonn, 9.-11.5.2005 (Beiträge unter http://www.iuk-initiative.org/index.php?option=com_content&task=view&id=57&Itemid=74)

16. Lehmann, Kai; Schetsche, Michael (Hg.): Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens. Transcript: 2005. Ähnlich auch: Zillien, Nicole: 'PowerPoint makes you dumb'. Ein Klärungsversuch mit Hilfe der Theorie der Strukturierung. Beitrag zur DGS-Tagung, München 2004. (als Abstract: http://www.dgs-kongress.lmu.de/Dokumente/abstracts/zillien-powerpointdumb-ah.pdf)

17. siehe etwa in der Wikipedia: 'Deep Web' http://de.wikipedia.org/wiki/Deep-web

18. kritisch hierzu etwa: Simon, Dieter: Zum akademischen Umgang mit Unwissen, In: Gegenworte 2004, H. 13, S. 11-13. Hobohm, Hans-Christoph: Die veränderten wissenschaftlichen Informationsflüsse und ihre Auswirkung auf die 'Fachinformation' in der Neuen Wissensordnung http://forge.fh-potsdam.de/~hobohm/cmc-wiss.htm. Nilges, Annemarie; Thiel, Anneke: Informationskompetenz im Wandel: Theorie und Praxis. In: Jahrbuch 2003 der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf http://www.uni-duesseldorf.de/HHU/Jahrbuch/2003/PDF/NilgesThiel.pdf. Telepolis vom 20.05.1999: Schwimmen in der Informationsflut: Rötzer, Florian: Gehirnareal für Multitasking entdeckt http://www.heise.de/tp/r4/artikel/2/2865/1.html