Neues aus Großbritannien

E-Legal Deposit in Großbritannien

von Alice Keller

Einführung

Das Pflichtexemplar in England hat eine lange Geschichte. Die Bodleian Library weist stolz auf ihren Gründer hin, der bereits im Jahr 1610 in einem Abkommen mit der Stationers' Company1 in London unterzeichnete, damit von jedem verzeichneten Buch eine Kopie an seine Bibliothek nach Oxford geliefert würde. Oxford ist damit die älteste Pflichtexemplar-Bibliothek Großbritanniens. (Gerne weisen Bibliothekare aus Oxford darauf hin, dass ein solches Abkommen mit Cambridge erst im Jahr 1709 besiegelt wurde!)

Heute unterstehen Verleger und Verteiler in Großbritannien und Irland der gesetzlichen Pflicht, gedruckte Veröffentlichungen in sechs so genannten Legal Deposit Libraries abzuliefern. Gemeinsam sind diese sechs Bibliotheken für das Sammeln und Archivieren von gedruckten Medien verantwortlich. Hierbei handelt es sich um die British Library, die Nationalbibliotheken von Schottland und Wales, die Bibliothek der Trinity College Dublin (Irland), die Bodleian Library (Oxford) und die Universitätsbibliothek Cambridge.

Die Neufassung des Pflichtexemplargesetzes:
das Legal Deposit Libraries Act 2003

Bis ins Jahr 2003 erstreckte sich das Pflichtexemplargesetz ausschließlich auf gedruckt vorliegende Publikationen. Die Pflichtabgabe wurde durch das Copyright Act 1911 geregelt, das je länger desto weniger ausreichend war, um das gesamte Schrifttum des Landes zu sammeln. Entsprechend war man in Fachkreisen sehr dankbar, als das Legal Deposit Libraries Act 20032 den Sammelauftrag der sechs Pflichtexemplar-Bibliotheken auf nicht gedruckt vorliegende Veröffentlichungen ausweitete.

Uns allen war damals allerdings nicht klar, dass zwischen Verabschiedung dieses Gesetzes und Einleitung des Sammelns von Online-Publikationen mehr als fünf Jahre verstreichen würden! Die Bibliothekare und Verleger von Großbritannien und Irland betraten Neuland, und bis heute ist man sich nicht restlos klar, genau was abgeliefert werden muss; wie es abgeliert werden soll; und wer, wann und wo Zugriff auf diese Materialien hat.

Bald wurde uns klar, dass es sich beim Legal Deposit Libraries Act aus dem Jahr 2003 lediglich um so genanntes Ermächtigungsgesetz handelte, und dass weitere Gesetze oder Verordnungen nötig sein würden, bis der Sammelauftrag effektiv in die Praxis umgesetzt werden konnte. Etwas Trost brachte ein Kommentar in der Geschichtsband der Bodleian Library, wo festgehalten wird, dass bereits die erste Vereinbarung mit der Stationers’ Company im Jahr 1610 nicht ohne Widerstand und Hindernisse ablief. Laut Überlieferung soll Sir Thomas Bodley von sich selbst gesagt haben, dass er „met with many rubs and delays“.

Aktivitäten seit 2004: Einsetzung des Legal Deposit Advisory Panel (LDAP)

Die Verantwortung für die Vorbereitung der sekundären Gesetze oder Verordnungen liegt beim Legal Deposit Advisory Panel (LDAP).

Dieses Gremium wurde im Jahr 2005 einberufen und besteht aus 15 Mitgliedern: darunter 5 Bibliothekare, 5 Verleger und 5 unabhängige Mitglieder, einschließlich der Vorsitzenden Dr. Ann Limb. Das LDAP ist damit beauftragt, den Staatssekretär (Department for Culture, Media and Sport) zu beraten und vorzuschlagen, wo weitere Verordnungen zwingend notwendig sind, und in welchen Bereichen mit freiwilligen Abkommen gearbeitet werden kann.

Relativ schnell richtete LDAP den primären Fokus auf drei vorrangig zu behandelnde Formate: Offline Publikationen (CDs und DVDs, ausschließlich Ton und Film), frei zugängliche Online-Publikationen, und wissenschaftliche elektronische Zeitschriften. Zudem befasste sich das Gremium mit der Definition des Vereinigten Königreichs im digitalen Zeitalter (Territorialität) und mit der Taxonomie des elektronischen Universums.

Besonders fasziniert hat mich persönlich das Konzept der virtuellen Territorialität. Ich war Beisitzerin in einigen Sitzungen, wo man verzweifelt versuchte, die britische Revierabgrenzung in die virtuelle Welt zu übertragen. Je länger man diskutierte, desto weniger war klar, wie man die Insel im Internetzeitalter definieren konnte. Probieren Sie es selber – für mich bleibt es eine unlösbare Knacknuss!

Vorbereitungsarbeiten in den Bibliotheken

Währendem sich LDAP mit der übergeordneten Politik und Strategie befasst, sind die sechs Pflichtexemplar-Bibliotheken aufgefordert, ihre Kooperation im Kontext des erweiterten Sammelauftrags neu zu überdenken. Eine Arbeitsgruppe, genannt Legal Deposit Librarians Committee Implementation Group (LDLC IG), mit Vertretern der sechs Bibliotheken beschäftigt sich mit den bibliotheksrelevanten Fragestellungen wie technische Infrastruktur (Dokumentenserver), Zugang, Metadaten, digitaler Datenerhalt, sowie Kostenberechnung. Dieser Gruppe zur Seite steht ein Projektleiter, der im Auftrag aller Pflichtexemplar-Bibliotheken u. a. für einen guten Kontakt zwischen den verschiedenen Gremien sorgt.

Die sechs Bibliotheken hatten sich übrigens auch schon vor Neufassung des Pflichtexemplargesetzes für die freiwillige Abgabe von Offline Materialien eingesetzt. Hierfür gründeten sie im Jahr 1999 das Joint Committee on Voluntary Deposit; wobei sich das „Joint“ auf die Zusammenarbeit zwischen Bibliotheken und Verlegern bezieht. Wie der Name sagt, beschäftigte sich die Gruppe mit der freiwilligen Abgabe von so genannten Offline oder Handheld Materialien (v. a. CD-ROMs und DVD-ROMs). Auch Mikroformen fallen theoretisch in diese Kategorie, aber die Diskussionen befassten sich stets und fast ausschließlich mit den elektronischen Publikationen.

Nach Verabschiedung des neuen Pflichtexemplargesetzes im Jahr 2003 wurden der Name und die Funktion des Gremiums revidiert: Heute heißt es Joint Committee on Legal Deposit (JCLD); es dient als erweitertes Diskussionsforum zwischen Bibliotheken und Verlagsvertretern, und steht dem LDAP beratend zur Seite.

Die fünf Triaden

Das Legal Deposit Advisory Panel (LDAP) merkte sehr schnell, wie weitläufig das zu bearbeitende Feld war. Es teilte also sich selbst und das Revier in fünf Segmente und nannte diese „Triaden“. In dieser Neuformation konnten die Mitglieder von LDAP sich auf einen Teilaspekt konzentrieren und diesen im Detail bearbeiten. Die nachfolgenden Abschnitte befassen sich mit den Fragestellungen und Resultaten dieser fünf Triaden. Aufgabe der ersten Triade ist es, den Überblick zu wahren und die Prozesse zu koordinieren. Die zweite Triade befasst sich mit der oben bereits erwähnten Territorialität. Wie interpretiert man den Gesetzestext „published in the UK“ für Online-Publikationen? Der Domainname .uk ist nicht ausreichend für die klare Identifikation und Abgrenzung des gesamten elektronischen Sammelgutes. So viel ich weiß, hat man bis heute noch keine einfache und klare Antwort gefunden. Die restlichen drei Triaden sind verantwortlich für die Bearbeitung folgender drei Materialarten (mehr Informationen im nachfolgenden Text):

Jede Triade war damit beauftragt, die Ausgangslage zu definieren und Empfehlungen zu erarbeiten, ob weitere Verordnungen notwendig sind, oder ob freiwillige Abkommen zu befriedigenden Resultaten führen werden. Die Segmente und Fragestellungen waren komplexer als anfangs gedacht, und es dauerte nicht lange, bis alle Triaden weitere Spezialisten und Subkommissionen um sich gruppiert hatten.

Offline Publikationen

Wie bereits oben erwähnt, bestand seit 1999 ein freiwilliges Abkommen zwischen den Bibliotheken und Verlegerverbänden, welches die fakultative Abgabe von Offline Publikationen regelte.

Die Resultate dieses seit einiger Zeit laufenden „Voluntary Schemes“ wurden als befriedigend eingestuft. Des Weiteren wird allgemein akzeptiert, dass die Bedeutung und Zahl von Offline Publikation zugunsten von Online Publikationen zurückgehen. Weitere Verordnungen wurden nicht für nötig erachtet, man empfahl stattdessen die Weiterführung des „Voluntary Deposit“.

Im Konkreten heißt das, dass die Pflichtexemplar-Bibliotheken zum Eintreiben von gewünschten Offline Publikationen höfliche Bittschreiben ausstellen. Dies im Gegensatz zu den mehr energischen Brieftexten zur Anforderung von gedruckten Publikationen.

Web-Veröffentlichungen

Diese Triade befasst sich mit den Optionen für die Archivierung von Web-Inhalten durch Harvesting-Methoden. Bald merkten die Mitglieder dieser Arbeitsgruppe, dass man sich weiter einschränken musste, um brauchbare Resultat zu liefern. Entsprechend wurde der Fokus in erster Linie auf das sichtbare, frei zugängliche Web gerichtet. Glücklicherweise musste man nicht ganz von Vorne beginnen, denn das UKWAC (UK Web Archiving Consortium) hatte schon sehr wertvolle Vorarbeit geleistet.3

Das UKWAC arbeitet nach dem „rights-cleared“ Prinzip: d. h., dass die Bibliotheken zuerst auf schriftlichem Weg die Rechte einholen, bevor sie den Web-Inhalt archivieren. Erst nachdem der Betreiber der Website sein Ja-Wort gegeben hat, wird die Website auf die Sammelliste genommen und regelmäßig mit Harvesting-Methode nach neuem Inhalt abgegrast.

Dieses Vorgehen ist sehr aufwändig und brachte nur mäßigen Erfolg. Wenige Betreiber sagten ausdrücklich „Nein“, viel öfters kam einfach keine Antwort zurück. Deshalb schlägt diese Triade vor, dass eine Verordnung entworfen wird, die den Bibliotheken das Recht gibt, frei zugängliche Web-Inhalte ohne weitere Bewilligungen sammeln, archivieren und zur Verfügung stellen zu dürfen. Allerdings werden die übergeordneten Rechte und Pflichten des Legal Deposit Aktes eingehalten, so dass die Urheberrechte möglichst gut geschützt bleiben.

UKWAC hat bisher mit sehr großem Aufwand (nur) ca. 3000 Website gesammelt. Eine Verordnung würde nun ermöglichen, dass sämtliche UK Domains „geharvestet“ und archiviert werden könnten. Man geht davon aus, dass 80 % des sichtbaren, frei zugänglichen Webs auf diese Weise gesammelt werden könnten. Die Kosten werden auf (nur!) £ 215 pro Terabyte geschätzt.

Diese Empfehlung wurde zur weiteren Bearbeitung an das Department für Kultur, Medien und Sport (DCMS) gereicht. Man geht davon aus, dass eine Verordnung frühestens Ende 2009 vom britischen Parlament verabschiedet wird.

An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Exkurs ins UKWAC (http://www.webarchive.org.uk/). Federführend ist die British Library, aber der Service ist wenig bekannt und erhielt nie viel Aufmerksamkeit. Die Sammlungen an Websites sind folgenden Schwerpunkten zugeordnet: Frauenfragen, Vogelgrippe, Landschaft, Wahlen 2005, Terroranschläge London Juli 2005, Tsunami 2004 sowie diverse Blogs. Man merkt an den Inhalten, dass die Hauptaktivitäten in den Jahren 2004/05 stattfanden. Das würde sich aber schlagartig ändern, sobald die Rechtslage geklärt ist.

Elektronische Zeitschriften

Eine weitere Triade befasst sich mit den elektronischen Zeitschriften. Aufgrund ihrer hohen Bedeutung für die Forschung und Technik konzentrierte man sich hier vorerst auf die wissenschaftlichen Titel. Schon bald erkannte man, dass großflächiges Harvesting hier weniger nützlich sein würde als geregelte Abgabe durch die Verleger. Entsprechend war es wichtig, die Verleger von Anfang an eng in die Planung einzubeziehen.

Diese neue Form der Zusammenarbeit zwischen Verlagen und Bibliotheken wird derzeit in einem Pilotversuch ausprobiert. Eine kleine Gruppe von Verlagen liefert auf freiwilliger Basis Zeitschrifteninhalte als XML-Volltexte an die British Library ab. Gleichzeitig evaluiert man die Möglichkeit, andere Dateiformate in den Test einzubeziehen. Im Gegensatz zur Harvesting-Methode, die für frei zugängliche Web-Inhalte vorgeschlagen wird, wird hier ein zusätzlicher Aufwand auf Verlagsseite gefordert (aktives Übermitteln an die Bibliotheken, Bereitstellen von Metadaten, evtl. Umformatieren).

Die Resultate dieses freiwilligen Pilotversuchs werden jährlich evaluiert und man geht davon aus, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis genügend Erfahrungen und Erkenntnisse vorliegen, dass eine gezielte Empfehlung an LDAP gemacht werden kann. Ich vermute, dass weitere Verordnungen in diesem Bereich notwendig sein werden – nicht zuletzt, weil die Abgabe von wissenschaftlichen Zeitschriften mit Aufwand und Kosten für den Verleger verbunden sein wird.

Beschreibung und Ausmaß des E-Universums

Schon relativ früh stellte sich heraus, dass ein klarer Überblick über das „Universum“ der elektronischen Publikationen fehlte. Was genau sollten die Bibliotheken sammeln? Wo waren die Grenzen dieses E-Universums, das für die Zukunft erhalten werden sollte? Im Bereich der gedruckten Medien arbeiten wir mit den traditionellen Dokumentarten wie Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, Karten, Musiknoten, etc. Im elektronischen Bereich sind die Grenzen zwischen diesen Kategorien oft unklar, und neue Publikationstypen sind am Aufkommen. So reichen beispielsweise die neunzehn ursprünglich von LDAP aufgelisteten Kategorien heute nicht mehr aus, um das Universum zu umschreiben. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2006 eine Studie in Auftrag gegeben, um eine neue Taxonomie für Online Publikationen zu entwickeln. Entsprechend dieser Studie sollen nun vier Kriterien zur Unterteilung und Klassifikation des E-Universums verwendet werden:

  1. Besteht der Inhalt aus einem oder mehreren zusammengesetzten Dateien, oder wird der Inhalt bzw. die Anzeige durch die Benutzerabfrage generiert?
  2. Ist die Lieferform online oder offline?
  3. Wird die Veröffentlichung an den Nutzer geliefert, oder muss er sie „abholen“?
  4. Ist der Inhalt frei zugänglich, oder wird er durch eine Barriere finanzieller oder sonstiger Art geschützt.

Aus bibliothekarischer Sicht wirkt eine solche Einteilung fremd. Eher verständlich werden diese Kriterien, wenn man sich die urheberrechtlichen Bedenken oder kommerziellen Interessen der Verleger vor Augen führt. Zudem berücksichtigt eine solche Klassifikation, dass einheitliche technologische Lösungen pro Kategorie verwendbar sein sollten.

Es gilt nun zu eruieren, welche dieser Kategorien bereits durch die oben genannten Triaden abgedeckt sind, und welche noch unbearbeitet bleiben. Man erhofft sich, dass nicht jedes Format einzeln und im Detail behandelt werden muss, sondern dass formatübergreifende Empfehlungen gemacht werden. Schließlich will man nicht jedes Mal, wenn eine neue Publikationsform im Internet aufkommt, mit den Diskussionen wieder von vorne beginnen.

Schlussbemerkung

Der Weg zum elektronischen Pflichtexemplar ist lang, viel länger als von uns Bibliothekaren anfangs vermutet. Grund für die vielen Umwege ist wohl die Tatsache, dass das Internet nicht eins zu eins die Print-Umgebung widerspiegelt. Vielmehr hat es neue Publikationsformen und Vertriebsformen hervorgebracht, und wird in Zukunft sicher noch viele weitere Dokumentarten und Mitspieler hervorbringen. Wir sitzen alle in einem schnell sich bewegenden Zug und versuchen gleichzeitig herauszufinden, wie die Lokomotive funktioniert.

Dieser Artikel bezieht sich vor allem auf die organisatorischen und rechtlichen Hürden, die überwunden werden müssen, um das im Legal Deposit Libraries Act 2003 vorgesehene elektronische Pflichtexemplar in die Tat umzusetzen. Auf die technischen Lösungen, das heißt wie und wo die gesammelten Inhalte gespeichert werden sollen, wird hier nicht eingegangen. Dies würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen und dürfte Thema eines zukünftigen Artikels darstellen.


Autorin

Dr. Alice Keller

Assistant Director, Collections & Resource Description
Bodleian Library
Broad Street
Oxford OX1 3BG
alice.keller@ouls.ox.ac.uk


Literatur

Milne, R.; Tuck, J.: Implementing e-Legal Deposit: A British Library Perspective. – In: Ariadne Issue 57. http://www.ariadne.ac.uk/issue57/milne-tuck/

Gibby, R.; Green, A.: Electronic Legal Deposit in the United Kingdom. – In: New Review of Academic Librarianship 14/1 (2008), pp. 55–70.


Anmerkungen

1. „The Worshipful Company of Stationers and Newspaper Makers”, besser bekannt unter dem abgekürzten Namen „Stationers’ Company” wurde 1403 gegründet. Es erhielt im Jahr 1557 ein Royal Charter, das der Gesellschaft ermöglichte, ein Monopol über das englische Verlagswesen auszuüben und damit das Copyright zu verwalten.

2. Legal Deposit Libraries Act 2003: siehe http://www.opsi.gov.uk/acts/acts2003/ukpga_20030028_en_1.

3. Mitglieder von UKWAC sind: British Library, National Library of Scotland, National Library of Wales, National Archives, JISC, Wellcome Trust. Siehe: http://www.webarchive.org.uk/