Tersch, Harald: Schreibkalender und Schreibkultur:
zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Massenmediums


- Graz-Feldkirch: Neugebauer, 2008. 120 S.
(Schriften der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare; 3)
ISBN 978-3-85376-283-7. € 24,80

Diese Rezeptionsgeschichte ist mit dem Schreibkalender einem frühen, in der Geschichte der Kommunikation ungenügend berücksichtigten Massenmedium gewidmet, der in der Buchwissenschaft auch Bezeichnungen wie Kalender, Volkskalender oder Almanach erfahren hat. Andere Informationsquellen wie Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und Flugblätter sind in ihrer jahrhundertlangen Entwicklung zum Teil penibel untersucht worden, und so kommt uns diese 2006 von der Universität Wien als Master Thesis angenommene und jetzt in einer überarbeiteten Fassung vorgelegte Arbeit als Erweiterung unserer Kenntnisse über die Schreibkalender sehr gelegen. Der Autor beschäftigt sich mit dem dialogischen Verhältnis von Druckmedium und Schreibkultur in der Frühen Neuzeit. Der Untersuchungszeitraum reicht von den Anfängen der Inkunabelzeit bis zur Krise des Mediums durch den aufgeklärten Reformkalender.

Der Kalenderdruck, so die Auffassung des Autors, „fand ein vielfältiges Echo in Buchgeschichte, Ethnologie und Mentalitätsgeschichte. Das Medium gilt als Schlüssel zu Fragen der Volksbildung, Alphabetisierung und Literarisierung vom 16. bis ins 19. Jahrhundert.“ (S. 14) „Der massive Einfluss, den der Kalender auf Duktus und Themenbreite der frühzeitlichen Schreibkultur ausübte, liegt in seiner Bedeutung als populärstes Handbuch und Nachschlagewerk der Frühen Neuzeit begründet.“ (S. 16)

Angesichts dieser zeitlichen Ausdehnung werden nur einzelne Facetten und Beispiele für Entwicklungen, diese vorzugsweise aus österreichischen Sammlungen, herausgegriffen. Es finden in erster Linie jene Kalendernotizen Berücksichtigung, in denen die Schreiber „über mehrere Seiten hinweg ihr Handeln und Fühlen explizit thematisieren.“ (S. 11) Eine vollständige Erfassung von Drucken mit Notizen konnte im Rahmen der Studie selbst für den vergleichsweise kleinen österreichischen Raum nicht erreicht werden.

Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. In die Thematik führen eine Einleitung (Kapitel 1) und die zusammenfassende Erfolgsgeschichte eines Massenmediums (Kapitel 2) ein. Mit den Spezifika beschäftigen sich die beiden folgenden Kapitel Almanach und Schreibkalender. In Kapitel 5 lässt uns der Autor an seiner Spurensuche teilhaben und erläutert die Überlieferungsverluste und die Texttransformationen. Abschließend stellt er die Frage nach dem Ende einer Verbindung und erwähnt die Tagebücher, Reformkalender und Einbandkulturen. Am Schluss der Veröffentlichung befinden sich ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Abbildungsnachweis.

Der Rezensent fand als wichtigste wissenschafts- und bibliothekshistorische Erkenntnis die Feststellung, dass die Geschichte des frühen Kalenderdrucks eng „mit der Geschichte der sozialen Disziplinierung des einzelnen durch Staat, Gemeinde oder Kirche“ verknüpft ist. „Die formale Nähe von Kalendereintragungen zu Tagebüchern und Protokollen stellt die Rezeption des Mediums unter das Zeichen einer Selbstkontrolle, die die religiöse oder berufliche Lebensführung einer laufenden Überwachung unterzieht.“ (S. 9–10) Für Bibliothekswissenschaftler ist auch die folgende Feststellung wichtig: „Nur wenige andere Handschriftengruppen verbergen sich derart beharrlich hinter der formalen Erschließung von Büchersammlungen, nur wenige gehen eine derart enge Symbiose mit einer Publikation ein wie Kalendereintragungen.“ (S. 7)

Die Pioniere der russischen Kommunikations- und Informationswissenschaft Michajlov, Cernyi und Giljarevskij weisen darauf hin, dass „mit dem Entstehen neuer Kommunikationsmittel die früher bestehenden nicht verschwinden, sondern in der Sphäre des zwischenmenschlichen Verkehrs erhalten bleiben“.1 Das trifft auch auf alte Informations- und Kommunikationstechnologien zu, die „sich nach funktionaler Veränderung ihre Nischen erobern werden“.2 Also werden uns auch in Zukunft in dieser oder jener Form die Schreibkalender begegnen. Dank der vorzüglichen Studie von Harald Tersch, der diese Kalender immer „als Einheit von Druck, Handschrift und Einband“ (S. 99) betrachtet, verfügen wir über eine fundierte historische Untersuchung mit wunderbaren Anregungen zu weiteren Studien. So ist z. B. zu klären, welche Rolle die Kalender in der gelehrten Kommunikation spielen3 und welche regionalen Untersuchungen über Kalender vorliegen.4


Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
12557 Berlin
dieter.schmidmaier@schmidma.com


Anmerkungen

1. A. I. Michajlov; A. I. Cernyi; R. S. Giljarevskij: Wissenschaftliche Kommunikation und Informatik. Leipzig, 1980. S. 60.

2. Wersig, Gernot: Informations- und Kommunikationstechnologien: eine Einführung in Geschichte, Grundlagen und Zusammenhänge. Konstanz, 2000. S. 7.

3. Gelehrte Kommunikation: Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert / Hrsg. Jürgen Fohrmann. Wien; Köln; Weimar, 2005. 566 S. Vgl. Rez. in: B.I.T.online 9(2006) 1, S. 98–99.

4. z. B. Bauer, Volker: Das preußische Kalenderwesen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert / Hrsg. Bernd Sösemann. Stuttgart, 2002. S. 175–192. – Almanache. Taschenbücher. Taschenkalender / Bearb. von Felicitas Marwinski. Weimar, 1967. 105 S. (Ergänzend dazu der vorzügliche Beitrag von Felicitas Marwinski: Sie schrieben und lectürten sehr … In: Marginalien 55 (1974) S. 51–71.)