B.I.T.online - Zeitschrift für Bibliothek, Information und Technologie

Führt uns die Digitalisierung zurück ins Mittelalter?

Interview mit Dr. Georg Nolte-Fischer, Darmstadt zum aktuellen Rechtsstreit mit Ulmer

Bibliotheken dürfen digitale Kopien ihrer Bücher an elektronischen Leseplätzen zur Verfügung stellen – gleichzeitig aber keine Möglichkeit bieten, davon digitale oder papierene Kopien herzustellen. So entschied das OLG Frankfurt mit Urteil vom 24. November 2009 in einem Rechtsstreit zwischen dem Ulmer-Verlag und der Bibliothek der Technischen Universität Darmstadt. B.I.T.online fragte den leitenden Direktor der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Dr. Hans-Georg Nolte-Fischer nach den Auswirkungen des Urteils und zur weiteren Entwicklung des elektronischen Bibliotheksangebotes.

    B.I.T.online: Passt dieses Urteil in die heutige Zeit? Wird dadurch das wissenschaftliche Arbeiten nicht massiv behindert.

Dr. Nolte-Fischer: Wissenschaftliches Arbeiten mit Texten setzt zwingend die Möglichkeit voraus, Textpassagen zu kopieren, um sie zuverlässig memorieren und zitieren zu können. Vom Mittelalter bis in die Neuzeit wurde abgeschrieben, in den letzten Jahrzehnten kopiert und heutzutage wird ausgedruckt oder auf elektronischen Datenträgern abgespeichert. Bibliotheken waren in diesem Sinne schon immer Kopierstuben und werden es bleiben, der (wissenschaftliche) Leser in einer Bibliothek hat nie nur gelesen, immer auch geschrieben und abgeschrieben. Das Urteil versetzt die Nutzer in das Mittelalter zurück: Kopieren verboten, Abschreiben erlaubt. Sinn ergibt das keinen: für den Leser nicht, der am effektiven Arbeiten gehindert wird; für den Autor nicht, dessen Werk weniger zuverlässig bearbeitet und zitiert werden kann und auch für den Verlag nicht, dessen Werk einfach weniger Leser finden wird. Das Urteil höhlt so, gewollt oder ungewollt, de facto das neu geschaffene Recht der Bibliotheken, in ihrem Besitz befindliche Druckwerke in moderner elektronischer Form anzubieten, entscheidend aus, macht es in meinen Augen schlicht wertlos, weshalb wir unser Angebot in Folge des Urteils auch in Gänze eingestellt haben.

Eingeschränkt auf Leseplätze in den Räumen der Bibliothek war eine Nutzung vergleichbar mit der, die die mittlerweile üblichen campusweiten Onlineangebote der Bibliotheken (ejournals, ebooks) erfahren, ohnehin nicht zu erwarten und hat sich in Darmstadt nie auch nur entfernt eingestellt. Der moderne Bibliotheksnutzer erwartet die Verfügbarkeit der Medien an seinem Computerarbeitsplatz im Büro oder zu Hause und entscheidet sich entsprechend bei seiner Medienauswahl. So übersteigt in Darmstadt die Nutzung der elektronischen Bibliotheksbestände schon längst bei weitem die der gedruckten, allerdings – das sei am Rande erwähnt – ohne die Nutzung der gedruckten Medien zu schmälern. Im Gegenteil: die Bibliothek verzeichnete in den letzten 10 Jahren einen Anstieg der konventionellen Ausleihe um mehr als das Doppelte. Der vom Gesetzgeber gewollte Anachronismus, zur Nutzung eines elektronischen Mediums seinen Arbeitsplatz verlassen zu müssen, wird durch das Urteil des Oberlandesgerichts aber noch einmal überboten, gewissermaßen auf die Spitze getrieben: Zur Herstellung einer Kopie muss man dann doch auf das gedruckte Exemplar im Bestand der Bibliothek zurückgreifen, wenn es denn just in time verfügbar und nicht gerade ausgeliehen ist, nicht von einem Anderen im Lesesaal genutzt wird oder gar erst aus dem Magazin beschafft werden muss, dann kann man das auch gleich tun und auf den Umweg „digitales Leseexemplar“ verzichten. Ein solcher Dienst ist den nicht unbeträchtlichen Aufwand (Herstellung eines Digitalisats, Betrieb einer Nutzungsplattform und Abführung von Tantiemen an die Verlage) nicht wert.

Katalogsaal der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt

    B.I.T.online: Wie reagieren Ihre Benutzer in der Bibliothek auf diese Entscheidung.

Dr. Nolte-Fischer: Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Im Zuge des Prozesses unterließen wir eine großangelegte Werbeaktion für unser neues Angebot – dementsprechend besonders niedrig waren die Nutzerzahlen. Überdies nutzten wir bei der Digitalisierung die einfachste verfügbare Technik – reine Imagescans – , so dass die Attraktivität gegenüber anderen digitalen Medienangeboten noch zusätzlich eingeschränkt war. Das von Ulmer inkriminierte Werk von Winfried Schulze zur Neueren Geschichte wurde – abgesehen von der von Ulmer selbst veranlassten Testnutzung – nicht ein einziges Mal komplett gedownloadet. In der ganzen Zeit von Februar bis November des letzten Jahres wurde es insgesamt nicht mehr als 10 Mal jeweils in Teilen aufgerufen. Von der von Ulmer und vom Börsenverein plakativ befürchteten massenhaften, den Verlag in den Ruin treibenden Nutzung also keine Spur. Das wird wohl jenseits des Feldgeschreis medienwirksamer Begleitung juristischer Auseinandersetzungen auch niemand wirklich ernsthaft behaupten wollen. Es kann sich immer nur um ein eher randständiges Angebot der Bibliotheken handeln, das ergänzend zur Nutzung der gedruckten Exemplare eine digitale Nutzungsmöglichkeit demjenigen eröffnet, der sich nicht durch (Teil-)Kopie des Gedruckten eine solche Möglichkeit – unbestritten zulässig – selbst verschaffen will oder kann. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Mehr noch als zur Zeit schon wird zukünftig die Verbreitung und die Nutzung eines Werkes davon abhängen, ob es in digitaler Form verfügbar ist bzw. leicht verfügbar gemacht werden kann. Längst ist es im Kontext wissenschaftlichen Arbeitens selbstverständlich geworden, Texte, Bilder, Grafiken, Video und Audio, kurz alle denkbaren Darstellungsformen wissenschaftlicher Inhalte digital zu verarbeiten, zu archivieren und zu präsentieren: Powerpoint hat die Overheadfolien abgelöst, die elektronische Datei das hand- oder maschinenschriftliche Skript, die Email den Brief usw. usw. Texte und Materialien, die nicht digital verfügbar sind, sind eben schlechter verfügbar und wenn es nicht sein muss, lässt man es dann eben sein. Das kann kein Autor wollen, eigentlich auch kein Verlag. Manche bezeichnen das Vorgehen Ulmers und des Börsenvereins denn auch als Maschinenstürmerei. Ungeteilte Zustimmung findet das Vorgehen des Börsenvereins jedenfalls nicht, auch nicht bei den Verlagen.

    B.I.T.online: Betrifft dieses Urteil die Nutzung lizenzierter Inhalte, zum Beispiel elektronischer Zeitschriften?

Dr. Nolte-Fischer: Nein, weder direkt noch indirekt. Der Rechtsstreit dreht sich nur um die Ausnahme in §52b des Urheberrechtsgesetzes. Sie erlaubt Bibliotheken, Archiven und Museen, Werke aus dem eigenen Bestand auch in digitalisierter Form an speziellen Arbeitsplätzen unter bestimmten Randbedingungen in den Räumen der Bibliothek anzubieten. Bei den üblichen digitalen Verlagsprodukten, die wir natürlich als Universitätsbibliothek in großem Umfang im Zuge von Kauf oder Lizenzierung für unsere Benutzer bereithalten, ist der jeweilige Kauf- oder Lizenzvertrag ausschlaggebend, der in aller Regel eine campusweite Nutzung vorsieht und in keinem Fall das Recht auf Privatkopie zum wissenschaftlichen Gebrauch weder in analoger und noch in digitaler Form einschränkt, allenfalls auf Teile eines Werkes gesetzeskonform begrenzt.

    B.I.T.online: Das Abfotografieren der Bildschirme ist nach dem Richterspruch aber legal? Werden Sie künftig den Bibliothekskunden die Benutzung von Digitalkameras empfehlen?

Dr. Nolte-Fischer: Einige Kommentare zum Urteil analysierten, dass sich das Verbot der Bereitstellung einer Vervielfältigungsmöglichkeit nur auf die Bibliothek bezieht, nicht jedoch darauf, dass ein Benutzer selbst die Vervielfältigung mit eigenem Gerät zum eigenen oder wissenschaftlichen Gebrauch durchführt – Abschreiben wäre eine weitere, wenn auch noch mühsamere Alternative. Das Bild eines sein Handy zum Abfotografieren eines Computerbildschirm nutzenden Bibliotheksnutzer ist aber wohl eher als Realsatire zu verstehen denn als wirklich ernst gemeintes Nutzungsszenario. Die gerichtlich verordnete Zeitreise ins Mittelalter wird in den Kontext moderner Technik gestellt, in dem sie de facto ja auch steht. Empfehlen kann man so etwas sicher nicht, ohne sich lächerlich zu machen, selbst dann, wenn es rechtlich zulässig sein sollte.

    B.I.T.online: Ist der Spruch des OLG endgültig oder werden noch weitere Instanzen angerufen werden?

Dr. Nolte-Fischer: Die Entscheidung über die Fortsetzung des Prozesses, dies würde die Eröffnung des Hauptsacheverfahrens vor dem LG Frankfurt bedeuten, liegt beim Verlag Eugen Ulmer. Sollte dies erfolgen, ist wegen der prinzipiellen Natur der Angelegenheit der Rechtsweg bis zum Bundesgerichtshof und Europäischen Gerichtshof offen. Im einstweiligen Verfügungsverfahren ist die Entscheidung des OLG Frankfurt endgültig, der Instanzenweg ist ausgeschöpft. Die TU Darmstadt hat allerdings die geforderte Abschlusserklärung verweigert, was ihr rechtlich zusteht, und damit eine Anerkennung des Urteils als eine gleichsam im Hauptsacheverfahren rechtsverbindlich getroffene Entscheidung abgelehnt.

    B.I.T.online: Erwarten Sie in Zukunft Klagen anderer Verlage?

Dr. Nolte-Fischer: Nachdem das Angebot inzwischen eingestellt ist, gehen wir nicht davon aus. Wir sind auch keineswegs darauf aus, von unseren Geschäftspartnern verklagt zu werden, sondern bevorzugen kooperative Lösungen.

Eine solche konnten wir im Übrigen bei einem anderen Verlag erreichen: ein von uns digitalisiertes Buch bot dieser später selbst als E-Book an. Dies war uns bei unseren Recherchen entgangen und nachdem die Bedingungen in Bezug auf Kosten und Benutzung – Möglichkeit der Volltextsuche, nicht nur Nutzung an speziellen Terminals – deutlich besser als bei unserem Digitalisat waren, entschieden wir uns das Digitalisat aus dem Angebot zu nehmen und für unsere Benutzer das Verlagsangebot anzunehmen.

    B.I.T.online: Wie geht es weiter? Wie wird die ULB Darmstadt künftig ihre Nutzer mit digitalen Inhalten versorgen?

Dr. Nolte-Fischer: Wir geben bereits seit Jahren mehr als 50% unserer Erwerbungsmittel für elektronische Medien aus und bieten derzeit ca. 14.000 E-Books und mehr als 10.000 E-Journals campusweit an. Unsere testweisen Digitalisierungen von etwa 100 Titeln gemäß §52b stellte demgegenüber schon rein quantitativ einen verschwindend kleinen Ausschnitt dar, was in keinem Verhältnis zu der Aufmerksamkeit steht, die ihm durch die Prozessauseinandersetzung mit Ulmer und dem Börsenverein zuteil geworden ist.

Abseits von lizenzierten oder gekauften elektronischen Medien finden sich zudem immer mehr wissenschaftliche Arbeiten unter dem Vorzeichen des Open Access ohne Zugangsbeschränkungen im weltweiten Internet in den entsprechenden Open-Access-Zeitschriften und -Plattformen sowie in den von Universitäten und anderen Wissenschaftsinstitutionen betriebenen Repositorien.

Eine Versorgung unserer Studierenden und Wissenschaftler mit digitalen Medien findet also weiterhin uneingeschränkt statt, der Streit tangiert dies kaum, verhindert jedoch zumindest vorläufig eine Ergänzung am Rande, die im Interesse vor allem all derer läge, die noch nicht digital publizieren (lassen).


Dr. Hans-Georg Nolte-Fischer
Leitender Bibliotheksdirektor
Technische Universität Darmstadt
Universitäts- und Landesbibliothek
Schloss, S3|12
64283 Darmstadt

 


 

news