"Wir sammeln auch elektronische Publikationen für die Ewigkeit"

Foto: Henning Kraft

B.I.T. Online: Frau Dr. Niggemann, im Bibliothekswesen arbeiten traditionell deutlich mehr Frauen als Männer. Trotzdem wurde das zentrale Archiv in Deutschland Die Deutsche Bibliothek bis zu Ihrer Amtsübernahme ausschließlich von Männern geleitet. Wie fühlen Sie sich an der Spitze?

Dr. Niggemann: Gut. Insgesamt wäre es aber besser, wenn es gar kein Thema mehr wäre, ob eine Frau oder ein Mann eine Leitungsfunktion inne hat.

B.I.T. Online: Sie sind jetzt fast zwei Jahre Generaldirektorin Der Deutschen Bibliothek. Das heißt, Sie haben insgesamt rund 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an drei Standorten in Frankfurt am Main, in der Deutschen Bücherei in Leipzig und im Deutschen Musikarchiv in Berlin zu führen. Gleichzeitig revolutionieren die elektronischen Medien das gesamte Bibliothekswesen und verlangen visionäre Weichenstellungen. Wie werden Sie mit dieser Aufgabe fertig?

Dr. Niggemann: Natürlich revolutionieren die neuen Medien den Bibliotheksbereich. Andererseits bleiben die traditionellen Medien bzw. sie steigen vielmehr an, während der Mitarbeiterbestand der Bibliotheken unverändert ist und die Budgets sinken beziehungsweise aufgrund der Dollarstärke und enormer Preissteigerungen bei den Fachpublikationen stärker belastet sind.

Wir konnten bislang mit der Revolution" deshalb nicht so umgehen, wie wir uns das gewünscht hätten. Solange die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrer bisherigen Arbeit schon voll ausgelastet sind, solange können neue Infrastrukturen immer nur im Rahmen von Projekten realisiert werden. Die Projekte wiederum konkurrieren miteinander, so z. B. die Migration der Zeitschriftendatenbank (ZDB) und die Langzeitarchivierung elektronischer Medien.

B.I.T. Online: Mit der Änderung des Pflichtabgabegesetzes, das ja auch die Archivierung elektronischer Publikationen festschreibt, sind Sie in der Verpflichtung, eine Struktur zur langfristigen Archivierung aufzubauen. Bekanntermaßen ist das ein großes technisches Problem, weil ja nicht nur die Trägermedien neu sind, sondern sich die gesamte Technologie rasend schnell weiter entwickelt. Wie gehen Sie an das Problem heran?

Dr. Niggemann: Alles, was auf physischen Datenträgern veröffentlicht wird, wird auch jetzt schon archiviert. Die Sammlung von Netzpublikationen ist im Gesetz über Die Deutsche Bibliothek noch nicht verankert. Wir sind intensiv dabei, gemeinsam mit Verlegern ein Konzept für die Langzeitarchivierung zu entwickeln, in dem auch Netzpublikationen berücksichtigt werden. Sobald das Konzept steht und das darf nicht mehr lange dauern können die derzeit ruhenden Initiativen zur Gesetzesnovellierung wieder aufgenommen werden. Darüber hinaus arbeiten wir mit an zahlreichen nationalen und internationalen Projekten, die sich mit den Fragestellungen in diesem Zusammenhang beschäftigen.

B.I.T. Online: An welchen Projekten arbeiten Sie konkret?

Dr. Niggemann: Gerade abgeschlossen wurde NEDLIB, ein EU-Projekt, das sich mit der Schaffung von Standards, Metadaten und Archivierungsfragen beschäftigte. An NEDLIB beteiligten sich 9 Bibliotheken aus 8 europäischen Ländern.

Seit Anfang 2000 testen wir im Probebetrieb mit dem wissenschaftlichen Springer-Verlag, Heidelberg die Archivierung elektronischer Publikationen. Für eine elektronische Depotbibliothek muss gewährleistet sein, dass abgelieferte elektronische Publikationen vollständig und authentisch erhalten bleiben und dauerhaft darauf zugegriffen werden kann. Mit dem Jahr 2001 endet der Probebetrieb und beginnt die Routinephase. Gleichzeitig werden weitere Verlage mit einbezogen.

Gerade jetzt übernehmen wir für Dissertationen online" nach dem Auslaufen des DFG-Forschungsprojektes die Geschäftsstellenfunktion.

B.I.T. Online: Wie wird es mit der Langzeitarchivierung weitergehen?

Dr. Niggemann: Wenn wir elektronische Publikationen sammeln, dann haben wir genauso den Anspruch, für die Ewigkeit zu sammeln, wie bei den gedruckten Publikationen, bei denen übrigens auch noch viel zu tun ist, solange wir es mit säurehaltigem Papier zu tun haben. Bei der digitalen Archivierung gibt es grundsätzlich die drei bekannten Möglichkeiten:

Die erste, nämlich eine Art von Zoo für Software und Geräte einzurichten, werden wir garantiert nicht wählen. Die Deutsche Bibliothek ist kein Technikmuseum. Der zweite Weg den wir derzeit gehen, ist die Migration. Im Moment können wir elektronische Publikationen auf CD-ROMs überspielen, d. h. sie so migrieren, bis eine bessere Technologie ausgereift ist. Als dritter Weg wird derzeit die sogenannte Emulation diskutiert. Die Erforschung dieses Verfahrens war eines der Kernprojekte von NEDLIB. Herzstück der Emulation ist ein Supercomputer". Das Emulationsmodell beschreibt die ganze Umgebung, so dass der Rechner alles lesen und darstellen kann alle Betriebssysteme, jede Anwendungssoftware usw. Die elektronische Publikation kann im Original erhalten bleiben, da auch später die nötige Systemumgebung hergestellt werden kann.

Die Emulation ist bisher nur ein Gedankenmodell. Allerdings standen die Forschungsergebnisse schon Pate bei der Erstellung der Pflichtenhefte, die von der British Library und der Königlichen Bibliothek der Niederlande als Grundlage für die Ausschreibung einer Digitalen Bibliothek" erarbeitet worden sind. Mittlerweile haben beide Bibliotheken die Aufträge zur Entwicklung an IBM vergeben.

B.I.T. Online: Wo setzen Sie derzeit Ihre Prioritäten?

Dr. Niggemann: Zum einen bei der Standardisierung. Die Deutsche Bibliothek hat gerade die Übernahme der Aktivitäten des Deutschen Bibliotheksinstitutes (DBI) in Sachen Standardisierung zugesagt. Zum anderen bei der Mitarbeit in Gremien, die sich mit den vielfältigen Facetten des Wandels im Bibliothekswesen beschäftigen, zum Beispiel bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Diese Gremien garantieren eine kooperative Lenkung in unserem föderalen System.

B.I.T. Online: Wie gelingt es Ihnen persönlich, sich inmitten der Tagesarbeit fachlich fit zu halten? Die elektronischen Medien entwickeln sich rasend schnell und das traditionelle Bibliothekswesen bleibt ja auch nicht stehen.

Dr. Niggemann: Natürlich vor allem durch meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir sind in der glücklichen Situation, dass allen die Bedeutung Der Deutschen Bibliothek sehr bewusst ist. Sie sind stolz auf ihre Aufgabe, arbeiten sehr selbständig und hochmotiviert. Durch sie lasse ich mich in vielen Gesprächen informieren. Außerdem informiere ich mich durch Facharbeit in den schon genannten nationalen und internationalen Gremien und als Gutachterin. Gutachtertätigkeit ist ja immer eine zweiseitige Sache. Man investiert zwar Zeit, bekommt aber Wissen zurück. Diese Arbeit hilft sehr, den eigenen Horizont zu erweitern.

B.I.T. Online: Was glauben Sie werden die lokalen, regionalen und vielleicht sogar die nationalen Bibliotheken langfristig verschwinden?

Dr. Niggemann: Nein. Es wird zwar einen Konzentrationsprozess geben. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir trotz aller Unkenrufe in 10 bis 20 Jahren zwar eine sehr veränderte Bibliothekslandschaft haben werden, dass es aber Bibliotheken geben wird, die mit den gleichen Zielen arbeiten. Auch in Zukunft werden Studierende und Bürgerinnen und Bürger den Umgang mit Information lernen müssen. Das war und ist eine der Hauptaufgaben von Bibliotheken. Die Evolution der Menschen ist wesentlich langsamer als der Fortschritt der Technik.

B.I.T. Online: Halten Sie den Fortbestand der Bibliotheken für volkswirtschaftlich sinnvoll?

Dr. Niggemann: Um diese Frage zu beantworten müssen Sie erst fragen, ob es volkswirtschaftlich sinnvoll ist, wie wir Forschung betreiben. Es wird viel öffentliches" Geld in Forschung investiert. Sollen dann die Ergebnisse gleich nach der Publikation in den Papierkorb wandern? Sie müssen auch für nachfolgende Generationen erhalten bleiben. Bibliotheken sind eben keine Buchmuseen. Bibliotheken sind Informationsvermittlungsstellen für die Wissenschaft, die Wirtschaft und für jedes Mitglied unserer Gesellschaft. So sehe ich auch ihre Zukunft.

Zur Person
Dr. Elisabeth Niggemann ist eine pragmatische Frau. Ruhig und überlegt analysiert sie anstehende Aufgaben, bespricht sie mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und geht dann an die Arbeit. Welche Frage auch immer man ihr stellt, um etwas mehr über die Person Niggemann zu erfahren, sie verläuft im Sand. Elisabeth Niggemann antwortet selten im Singular. Sie ist Teil ihres Teams. Kompetent, uneitel und mit ganzem Herzen bei der Sache.

Ausreichend Mittel zu beschaffen, um all die anstehenden Aufgaben bewältigen zu können, ist eine ihrer größten Sorgen. Die zweite Sorge gilt dem Personal. Denn während die Netztechnologien tausend neue Fragen aufwerfen, ist von einem Rückgang der gedruckten Publikationen weit und breit nichts zu merken. Die Zahl der Neuerscheinungen steigt an, der Mitarbeiterbestand der Bibliotheken bleibt bestenfalls gleich und das Budget sinkt.

Die diplomierte Biologin mit Promotion zum Doktor der Naturwissenschaften und Staatsexamen in Anglistik für die Lehramtsberechtigung Sekundarstufe II ist 46 Jahre alt und verheiratet. Bevor sie Generaldirektorin Der Deutschen Bibliothek wurde, leitete sie fünf Jahre die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. Ihre Laufbahnprüfung für den höheren Bibliotheksdienst legte sie 1987 ab.

Vera Münch

B.I.T. Online: Was glauben Sie, wird auf EU-Ebene passieren? Wird es eine Bündelung der Dokumentation und Archivierung geben?

Dr. Niggemann: Ich glaube nicht, dass wir neue europäische Bibliotheken gründen werden, aber wir werden durch Standardisierung zusammenwachsen. Wenn Kataloge, Metadatenstruktur und Technik vergleichbar sind, wird es egal, wo der Server steht. Deshalb ist die Standardisierung ja so wichtig. In internationalen Arbeitsgruppen (CENL, CDNL) diskutieren z. B. die Nationalbibliotheken die anstehenden Fragen, erarbeiten Papiere als Empfehlungen und stimmen ihre Projekte aufeinander ab. Vor allem die EU stellt Fördermittel für gemeinsame Projekte bereit.

Am 1. Februar 2001 beginnen wir, auf der Grundlage früherer Projektergebnisse und auf der Plattform unseres gemeinsam betriebenen Gabriel-Servers The European Library" aufzubauen und dort die Kataloge, die Bestände und die Dienste von europäischen Nationalbibliotheken miteinander zu verbinden.

B.I.T. Online: Noch mal zurück zur deutschen Infrastruktur: In den nächsten Jahren gehen ja einige Bibliotheksdirektoren in Ruhestand. Erwarten Sie auf dem deutschen Bibliothekssektor größere Veränderungen, z. B. Zusammenlegungen von Bibliotheken?

Dr. Niggemann: Das wird zunehmend von den lokalen Gegebenheiten und den Prioritäten der Universitäten abhängen. Die Zuständigkeit für die Bibliotheken wird immer stärker dezentralisiert. Es kann durchaus dazu kommen, dass die eine Universität ihre Prioritäten anders setzt als die andere.

B.I.T. Online: Die Technische Informationsbibliothek Hannover (TIB) und das Fachinformationszentrum (FIZ) Karlsruhe haben im Dezember 2000 den gemeinsamen Aufbau eines Volltextservers für Naturwissenschaft und Technik gemeldet. Plant Die Deutsche Bibliothek auch irgend etwas in Richtung Volltextversorgung oder Portal?

Dr. Niggemann: Die Deutsche Bibliothek ist ja nicht fachspezifisch ausgerichtet. Sie will für alle Fächer eine verlässliche Quelle sein, die die Langzeitverfügbarkeit für alle Literaturarten garantiert. Unsere Funktion könnte es daher sein, Fachportale zu ergänzen und uns an fachübergreifenden Portalen zu beteiligen, unabhängig davon, ob sie von Bibliotheken, Fachinformationseinrichtungen, Verlagen oder Agenturen betrieben werden.

B.I.T. Online: Frau Niggemann, lesen Sie ab und zu noch ein schönes Buch?

Dr. Niggemann: Wenn Sie Trivialliteratur, z. B. englische Krimi, unter die schönen Bücher" zählen: ja!

B.I.T. Online: Wir danken Ihnen für das Gespräch.