Editorial

Literatur suchen und finden - oder auch lesen?

Seit Jahrzehnten streiten - oder vielleicht besser diskutieren - Bibliothekare darüber, was die Aufgabe von Bibliotheken und ihre Rolle in der Gesellschaft sei. Wie ein roter Faden zieht sich diese Standortfrage durch ihre Tagungen, Veranstaltungen und Publikationen, mal heftiger, mal weniger, je nachdem, ob die finanzielle Ausstattung ihrer Bibliotheken dazu als ausreichend angesehen wird oder gar, wenn Konkurrenz von außen ihnen ihre genuinen Aufgaben streitig macht: z.B., wenn Informationsbroker oder das Internet die Informationsvermittlung schneller oder bequemer anbieten oder die Zugänglichkeit vor allem zu elektronischen Publikationen an ihnen vorbei oder gar ohne sie möglich wird.

Auch auf dem letzten Bibliothekartag in Bielefeld traten diese unterschiedlichen Ansichten der Standortbestimmung wieder einmal offen zutage und fanden auch in der nachfolgenden Presse ihren dezidierten Niederschlag. So sehen die Vertreter der Bibliotheksverbände eine Bibliothekskrise heraufziehen infolge der ungenügenden finanziellen Ausstattung der Bibliotheken bei gleichzeitig immer stärker werdender Kommerzialisierung des Informationsmarktes und damit Erschwerung bei der Vermittlung von Informationen und Zugang zu allen Publikationsformen und trotz ständiger Umstrukturierung und Anpassung der Bibliotheken an die technische Entwicklung.

Die Gegner sehen hier einen traditionellen Denkansatz, der so wohl nicht gegeben und den Verbänden eher untergeschoben worden ist. Denn im Zeitalter stärkerer Kommerzialisierung von Information müssen die Bibliotheken in der Lage bleiben, die notwendigen Informationen für ihr Klientel zu beschaffen, ob gedruckt oder elektronisch. Parallel dazu sind Bemühungen fortzusetzen und zusätzlich zu finanzieren, um die stärkere Entwicklung elektronischer Dienstleistungen voranzutreiben und die hierzu notwendigen Infrastrukturen zu schaffen in aktiver Zusammenarbeit mit der Informationsindustrie.

Die Publikationskette vom Autor über Verlag, Buchhandel, Bibliothek hin zum Leser ist längst in Gefahr, in manchen Bereichen wohl auch schon unterbrochen, und dass Bibliotheken Lotsen oder gar Führer durch den Informationsdschungel sein könnten, bleibt dann ein frommer Wunsch, wenn die Bibliotheken ihre Unterhaltsträger nicht zu den erforderlichen Investitionen bewegen können. Suchen und finden von Literatur ist nicht mehr ein Monopol der Bibliotheken, auch wenn sie dazu Vorlesungen, Übungen und Benutzerschulungen anbieten (siehe dazu die Beiträge von Weigand, Rösch, auch von Dierolf und Mönnich in diesem Heft) - längst erfolgen solche Angebote auch außerhalb der Bibliotheken von Studenten, Volkshochschulen oder als Lehrveranstaltungen!

Aber erschöpft sich die Aufgabe der Bibliotheken in der Vermittlung und Speicherung von Literatur? Oftmals oder meist wird der Benutzer (Schüler, Student oder sonstiger Bürger) mit dem Suchergebnis allein gelassen, nicht nur bei der Auswahl aus der Fülle der vermittelten Informationen - sondern erst recht beim Lesen! Der Erwerb von Wissen hängt aber nicht allein vom Zugang zu den Informationsquellen ab, sondern neben der Intelligenz auch von der Technik des Lesens.

Kaum Jemandem allerdings wird heute beigebracht, wie er sinnvoll und effektiv mit Literatur umgeht, obwohl längst ein Wandel vom intensiven zum extensiven Lesen, dem Blättern, Überfliegen, Diagonallesen oder Nachschlagen, stattgefunden hat, meist intuitiv, ohne Methode. Benutzten Studenten früherer Jahrhunderte zum Erlernen des intensiven Lesens die klassische Kunst der memoria technica, so sind heute ähnliche Techniken für das extensive Lesen erforderlich. Professoren aber klagen zunehmend, dass es den Studenten an den einfachsten Grundlagen über wissenschaftliches Lesen mangelt, an Methodik ist gar nicht zu denken! Immer mehr Studienberater müssen sich da einschalten, um diese Mangelerscheinung durch methodische Unterweisung zu mildern, z.B. mit der SQ3R-Methode, wie sie an den Berliner Hochschulen vermittelt wird. Aber wäre das nicht auch eine Aufgabe von Bibliotheken bevor sie von externen Einrichtungen übernommen wird, wie z.B. von den oben erwähnten Volkshochschulen?

Jetzt, da gerade ein Bibliothekar zum Vorsitzenden der Stiftung Lesen gewählt wurde (siehe die Nachricht in der Rubrik Kurz Notiert) und damit sowohl die Bibliotheken als auch das Lesen erstmals in der Deutschen Literaturkonferenz des Deutschen Kulturrates durch einen Bibliothekar repräsentiert werden, wäre es da nicht an der Zeit, nicht nur das Suchen, Finden und Bereitstellen von Literatur, sondern auch das Lesen als eine genuine Aufgabe der Bibliotheken zu betrachten und stärker in die Suche nach einer Standortbestimmung mit einzubeziehen?

Es wird in Zukunft sicher keine vorrangige Aufgabe dieser Zeitschrift sein, die Technik oder gar Kultur des Lesen zu propagieren. Aber zu der in der Literatur geführten Diskussion um die Standortbestimmung von Bibliotheken wollte sie doch einen Mosaikstein beitragen, vielleicht als Anregung für unsere LeserInnen, ihre Meinung ebenfalls kundzutun. In dieser Hoffnung verbleibt

Ihr Dr. Rolf Fuhlrott
Chefredakteur