Die Klassiker ganz neu entdecken!

Das aktuelle Interview mit Steven Hall von Angelika Beyreuther-Raimondi

Am 11. Oktober konnte Angelika Beyreuther-Raimondi für B.I.T.online auf der Frankfurter Buchmesse mit Steven Hall, Senior Vice-President und General Manager von ProQuest Information and Learning, nach dem feierlichen Empfang anlässlich des Erscheinens der Digitalen Bibliothek Deutscher Klassiker ein Gespräch führen.


Steven Hall

B.I.T.online: Sie haben mit Ihrem Verlag ProQuest Information and Learning auf der Frankfurter Buchmesse einen großen Stand und heute hier gemeinsam mit dem Deutschen Klassiker Verlag das Projekt der Digitalen Bibliothek Deutscher Klassiker vorgestellt. Können Sie uns zunächst erklären, wie Ihr Verlag aus der Firma Bell + Howell hervorgegangen ist, bzw., wie kam es zur Umbenennung der Firma Bell + Howell in ProQuest?

Steven Hall: Bell + Howell bestand aus vier Teilbereichen, zwei auf dem Informationssektor und zwei ganz anderen Bereichen, dem Imaging (Verfilmung von Texten) und einer anderen Firma, die Kuvertierungsmaschinen herstellt (Mail and Messaging Technologies). Bell + Howell hat sich entschlossen, die zwei Teilbereiche Imaging und Mail and Messaging Technologies zu verkaufen und nur die beiden Informationsfirmen zu behalten. Der Name Bell + Howell ist viel besser für Kuvertierungsmaschinen und Scanner bekannt. So hat dieser Bereich den Namen Bell + Howell behalten und wir sind ProQuest geworden. ProQuest ist der Name eines Online Dienstes von ProQuest Information and Learning und wir haben ihn als Firmennamen übernommen.

B.I.T.online: Wie hängt der Verlag Chadwyck-Healey aus Cambridge damit zusammen?

Steven Hall: ProQuest Information and Learning hat den bis vor zwei Jahren unabhängigen britischen Verlag Chadwyck-Healey gekauft. ProQuest Information and Learning hat sich damals auf vier strategische Geschäftsbereiche orientiert: Chadwyck-Healey ist verantwortlich für die elektronischen Publikationen im geisteswissenschaftlichen Bereich, ProQuest für die Datenbanken in den Sozialwissenschaften, in der Technik und der Medizin. UMI stellt Mikrofilmversionen her und gibt alle amerikanischen Publikationen heraus. Dabei hat UMI folgende drei Verlagsschwerpunkte: Mikroformen, die amerikanischen Dissertationen und Master-Thesen - fast ausnahmslos - und große Online-Datenbanken, denen UMI-eigene Mikroformensammlungen zugrunde liegen. Dann gibt es noch einen neuen Teilbereich für E-Learning, XanEdu. In Cambridge werden die Chadwyck-Healey Datenbanken hergestellt. Außerdem erfolgt von dort aus der Verkauf aller Produkte von ProQuest, UMI, Chadwyck-Healey und XanEdu in alle Länder außerhalb der USA und Kanadas.

B.I.T.online: Und wie ist es zu erklären, dass Chadwyck-Healey von Großbritannien aus so viele deutsche Klassiker verlegt?

Steven Hall: Wir begannen 1990/91 mit der Digitalisierung der Geisteswissenschaften, das erste Projekt war die Datenbank der gesamten englischen Dichtung von 600 bis 1900. Das war etwas ganz neues für uns und auch etwas ganz neues im Verlagswesen überhaupt. Keiner stellte bis dahin solche Datenbanken her. 1991 digitalisierten wir die lateinische Literatur: die Patrologia Latina Datenbank enstand. Da wir mit diesen Datenbanken der englischen und lateinischen Literatur Erfolg hatten, dachte ich mir - ich bin ja schließlich Germanist -, dass wir auch im Bereich deutsche Literatur erfolgreich sein können. Natürlich ist der Markt dafür viel kleiner, es gibt in Deutschland, Österreich und der Schweiz vielleicht hundert Bibliotheken, dazu kommt ein weiterer kleinerer Markt in den USA und Großbritannien. Wir begannen zunächst mit dem größten deutschen Dichter, mit Goethe. Ein Jahr lang verhandelten wir mit dem Hermann Böhlau Verlag, der Goethes Werke in der Weimarer Ausgabe herausgebracht hat, bis wir die Rechte lizensiert hatten. Selbst unsere deutschen Kunden konnten in der Zeit vor unserer digitalen Veröffentlichung von Goethes Werken nicht verstehen, warum wir das machen.

B.I.T.online: Was war der Grund für dieses Zögern?

Steven Hall: Es war sehr interessant. Als wir die Patrologia Latina herausbrachten, verstanden die Forscher gleich, wie sie die Datenbank benutzen mussten. Wenn man solche Texte benutzt, sucht man öfter eine Phrase, wie "gerechter Krieg", "casus belli", man will also finden, wann so ein Begriff benutzt und wie er dann weiter entwickelt worden ist. Mit Goethes Werken war das nicht so.

B.I.T.online: Aber die elektronische Veröffentlichung von Goethes Werken war doch für Ihren Verlag ein Riesenerfolg? Wie kam es denn zum Durchbruch?

Steven Hall: 1995 stellten wir die Datenbank zum ersten Mal auf der Frankfurter Buchmesse vor. Ich verglich das mit dem Weg nach Damaskus, denn es gab so viele Bekehrungen. Die Bibliothekare "spielten" an unserem Stand mit der Datenbank, sie suchten nach einzelnen Phrasen. Es war eine wirkliche Bekehrung. Plötzlich konnten sie den Wert dieser Datenbank verstehen. Goethes Werke waren dann wirklich ein großer Erfolg für uns.

Eine Forscherin vom Marbacher Literturarchiv sagte etwas sehr Nettes über die Datenbank: Es sei erstaunlich, was man alles damit tun könne, aber das allererstaunlichste sei, dass die Arbeit mit der Datenbank einen dazu bringe, Goethe wieder neu zu lesen. Wir gingen natürlich nicht davon aus, dass ein Forscher Goethes gesamten Faust am Bildschirm lesen würde, aber sie können beim Suchen in der Datenbank durchaus neues entdecken, dann wieder zum Text zurückgehen und ihn mit einem frischen, neuen Auge lesen. Das war eine großartige Empfehlung für die Datenbank.

B.I.T.online: Und wie kam der Plan zustande, sich jetzt an die gesamten deutschen Klassiker heranzuwagen?

Steven Hall: Nachdem wir Erfolg mit Goethes Werken hatten, haben wir die Nationalausgabe von Schillers Werken und dann die zwei kleineren Projekte von Kafkas und Brechts Werken herausgegeben. Danach verhandelten wir etwa drei Jahre mit Suhrkamp über die Lizenz für die Digitale Bibliothek Deutscher Klassiker. Das ist ein Monument des deutschen Verlagswesens, des Studiums der deutschen Sprache und Literatur. Suhrkamp wollte sicher sein, dass wir die elektronische Veröffentlichung sehr gut machen. Deshalb haben wir zunächst gemeinsam das kleine Projekt von Brechts Werken gemacht, danach sind wir zum Deutschen Klassiker Verlag gekommen.

B.I.T.online: Ihre Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp und dem Deutschen

Klassiker Verlag hat also gut geklappt?

Steven Hall: Ja, wir haben sehr sehr gut und vertrauensvoll miteinander gearbeitet.

B.I.T.online: Nun gibt es ja auch andere Anbieter für deutsche Literatur auf CD-ROM. Was zeichnet Ihre Datenbanken denn besonders aus?

Steven Hall: Ich kenne die Konkurrenz nicht sehr gut. Ich bin aber der Ansicht, dass es in diesem Gebiet des elektronischen Publizierens Platz für mehrere Verlage gibt. Für uns sind die Quellen sehr wichtig. Deshalb wählten wir - auf wissenschaftlichen Rat - die Weimarer Ausgabe von Goethes und die Nationalausgabe von Schillers Werken. Im Unterschied zu unseren elektronischen Publikationen in der deutschen Literatur haben wir in der englischen fast keine textkritischen Ausgaben veröffentlicht. Fast alle unsere Datenbanken in der deutschen Literatur haben die besten kritischen Ausgaben als Quellen, wir digitalisieren also nicht nur die Texte sondern auch den Arbeitsapparat. Das macht die Digitalisierung etwa viermal so teuer, normalerweise gibt es etwa zweimal soviel Apparat wie Text. Die Strukturen sind viel viel komplizierter, aber wir brauchen natürlich diese Links zwischen Text und Apparat. Wir benutzen SGML (Standard Generalised Mark-up Language) und entwickeln sehr ausgefeilte Strukturierungspläne für die Daten. In diesem Gebiet sind wir vielleicht weltweit die Experten in den Geisteswissenschaften.

B.I.T.online: Das Projekt der Digitalisierung Deutscher Klassiker wird insgesamt etwa vier Jahre dauern. Was sind darüberhinaus Ihre weiteren Projekte und Pläne in deutscher Sprache?

Steven Hall: Wir würden gerne eine Website mit der gesamten deutschen Primärliteratur machen. Dabei ergibt sich ein Problem. In der englischen Literatur fügten wir nicht nur die Primärtexte sondern auch die Sekundärliteratur zusammen, d.h. die bibliographischen, die biographischen Datenbanken, die Nachschlagewerke über die Literatur und auch Zeitschriften, Zeitschriftenartikel, Zeitschriftenvolltext. Als wir diese Online-Dienste entwickelten, erstellten wir die Volltextdatenbanken auf CD-ROM hauptsächlich für Forscher, die sich gut auskennen im Gebiet der deutschen Literatur, die wissen, wie sie suchen und was sie finden wollen. Wenn wir diese Datenbanken der Primärliteratur online jedoch ohne Kontext anbieten, dann können Studenten diese Datenbanken kaum benützen, denn ein Student im Erstsemester kann sich ja in der Literatur noch nicht so gut auskennen. Deshalb wollen wir die Primärtexte und die Sekundärliteratur zusammenbringen.

In der englischen Literatur existieren bereits viele Versionen von "Literature online": Wir haben Versionen für die Studenten der großen Universitäten im angelsächsischen Raum und andere, die mehr für den deutschen und den japanischen Markt bestimmt sind und wir haben eine Version mit anderen Struktur und anderem Inhalt für 14- bis 18jährige Schüler.Genau das würden wir sehr gerne auch in der deutschen Literatur machen, vielleicht Ende nächsten Jahres oder Anfang 2003?

Die Frage ist, ob wir Wege der partnerschaftlichen Kooperation mit den Herausgebern von Sekundärquellen, Nachschlagewerken und entsprechenden Datenbanken finden können, die es uns ermöglichen, sie in solch einem Online-Dienst dann zur Verfügung zu stellen. In der englischen Literatur lizensierten wir viele Nachschlagewerke, stellen aber auch eigene her.

Außerdem fangen wir jetzt für die Online-Dienste mit der Verfilmung von berühmten britischen und amerikanischen Dichtern an, die ihr eigene Dichtung und die anderer Dichter lesen. Für Schüler und Universitätsstudenten sind nicht nur Texte sondern auch Bilder und Ton wichtig. Das ist natürlich wieder etwas ganz Neues, es ist auch ziemlich teuer. Aber es ist doch etwas ganz anderes, ein Gedicht zu hören als es selbst zu lesen. Man bekommt ein anderes Verständnis. Das sind einige unserer Ideen für die Zukunft.

B.I.T.online: Mr. Hall, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch.