Informationswissenschaftliche Zeitschriften in szientometrischer Analyse/Grazia Colonia


- Köln: Fachhochschule Köln, Fachbereich Informationswissenschaft, 2002. 126 Seiten.
ISSN Print 1434-1107. (Kölner Arbeitspapiere zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft Band 33)

Die vorliegende sziento-/informetrische Studie ist das Resultat eines Projekts mit dem klingenden (etymologisch zumindest für den österreichischen Part zu hinterfragenden) Namen "Grazia Colonia". Unter der Projektleitung von Christian Schlögl vom Institut für Informationswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz und Wolfgang G. Stock vom Fachbereich Informationswissenschaft an der Fachhochschule Köln führten Studierende dieser beiden Einrichtungen im Frühjahr 2002 eine Untersuchung an 40 internationalen und 10 deutschsprachigen Fachzeitschriften durch, die den Bereich der Bibliotheks-/Informationswissenschaft/-praxis abdecken. Es sollten Nutzung und Einfluss, Aktualität, potentielle auf informationswissenschaftlichen Teildisziplinen beruhende Clusterbildungen und mögliche gruppenspezifische Differenzierungen zwischen deutschsprachigen und internationalen Zeitschriften erforscht werden. Methodisch ging man in Köln und Graz getrennte Wege: Während die Kölner Gruppe mit Hilfe einer Zitationsanalyse die Jahrgänge 1997 bis 2000 auswertete, erhoben ihre Grazer KollegInnen mittels einer E-Mail-Befragung von ExpertInnen im deutschsprachigen Raum deren Lese- und Publikationsverhalten in Bezug auf die untersuchten Periodika.

Für die Zitationsanalyse wurden als informetrische Kennwerte der Impact Factor der "Journal Citation Reports" von ISI, ergänzt durch einen mittels intellektueller Auswertung erstellten "regionalen Impact Factor" für die von ISI nicht ausgewerteten deutschsprachigen Zeitschriften, weiters die Halbwertszeit der Referenzen, die Anzahl der Referenzen pro Artikel und die relative Häufigkeit der Selbstreferenzen der Zeitschriften herangezogen. Zur Darstellung der Informations- bzw. Reputationsflüsse wurde zusätzlich erhoben, welche Zeitschriften von welchen Periodika bevorzugt zitiert werden.

Die E-Mail-Befragung konzentrierte sich auf die Lesehäufigkeit, die Einsetzbarkeit von Artikeln im jeweiligen Tätigkeitsbereich, die jeweils eigene tatsächliche Publikationstätigkeit und die für eine potentielle Publikationstätigkeit als wichtig eingestuften Periodika. Angaben zur Person bezüglich Alter, Geschlecht, Ausbildung, Mitgliedschaft in facheinschlägigen Berufsverbänden, Wissenschaftler oder Praktiker, Anstellungsbereich sollten potentielle gruppenspezifische Phänomene erkennen lassen. Von ungefähr 1.800 angesprochenen Adressaten antworteten 264, wovon schließlich 257 gültige Fragebögen für die Auswertung übrigblieben.

Diese relativ kleine Samplegröße sollte man sich als Leser der Studie bei allen Analysen der Statistiken vergegenwärtigen, ganz besonders aber dort, wo die Studie gruppenspezifische Unterschiede in Einfluss und Nutzung der in Frage stehenden Periodika zwischen Wissenschaftlern und Praktikern untersucht. Wie den im Anhang A2 angeführten Rohergebnissen der Befragung zu entnehmen ist (Punkt 6, S. 116), deklarieren sich nur 22 Probanden als reine Wissenschaftler, denen 228 (wohl meist in Bibliotheken tätige) Praktiker gegenüberstehen. Bedenkt man, dass ursprünglich 180 Personen aus dem Bereich Forschung und Lehre als potentielle Probanden dieser Gruppe ins Auge gefasst waren (S. 23), wozu noch zumindest ein Teil der ebenfalls kontaktierten 450 Mitglieder der Mailingliste der Deutschen Gesellschaft für Informationswissenschaft und -praxis hinzuzuzählen wäre, so erscheint die Frage nach der Generalisierbarkeit der auf diesen wenigen Angaben fußenden statistischen Werte nicht unberechtigt. Fairerweise soll nicht verschwiegen werden, dass sich die Verfasser der Studie der mangelnden Repräsentativität der E-Mail-Befragung selbst bewusst sind, worauf sie in der "Ausblick" genannten Zusammenfassung auch ausdrücklich hinweisen (Kap. 6.3, S. 88).

Von diesem grundlegenden Problem einmal abgesehen, bietet die Studie jedoch nicht nur eine gute Einführung in Problematik und Forschungsstand der Szientometrie informationswissenschaftlicher Periodika (Kap. 1 u. 2), sondern auch eine ausführliche und sehr detaillierte Darstellung der gewählten Methoden (Kap. 3). Vor allem die weit ausholende und wohltuend allgemein verständlich gehaltene Erklärung des Impact Factors und des in Anlehnung an diesen erarbeiteten "regionalen Impact Factors" sowie der Halbwertszeit der Referenzen deuten offenbar auf eine Leser-Zielgruppe auch außerhalb der engeren Fachwelt hin.

Die Ergebnisse der Expertenbefragung (Kap. 4) zeigen bei den Angaben zur Person deutlich das Überwiegen der Praktiker/BibliothekarInnen unter den Probanden, was in Bezug auf Lesehäufigkeit und Einsetzbarkeit im eigenen Tätigkeitsbereich die Platzierung der deutschen Bibliothekszeitschriften auf den vorderen Rängen und das Auftauchen der ersten englischsprachigen Zeitschrift erst auf Platz 11 erklärt. Dementsprechend erfolgen Publikationen zu 59 Prozent in (deutschen) Verbandszeitschriften und nur zu 12 Prozent in englischsprachigen Periodika, und auch die Publikationspräferenz ergibt einen ähnlichen Befund. Dass bei der Gruppe der Wissenschaftler englischsprachige Zeitschriften einen höheren Stellenwert einnehmen, sollte nicht verwundern, wohl aber, dass auch bei ihnen das erste englischsprachige Periodikum erst auf Platz 8 zu finden ist. Weitere Tabellen enthalten Rankings nach Anstellungsbereich, Ausbildungsart und -niveau, Mitgliedschaft in Berufsverbänden.

Die Resultate der Zitationsanalysen (Kap. 5) nehmen genau doppelt soviel Platz ein wie Kapitel 4 und zeigen damit, wo das Schwergewicht der Studie liegt: in der mathematisch-statistischen Untersuchung der Referenzen und der Darstellung der Informations-/Reputationsflüsse zwischen den Zeitschriften in Form von "Soziogrammen" oder "Landkarten" genannten Grafiken.

Zuerst nach den vier untersuchten Jahrgängen (1997 bis 2000) getrennt, dann in einer zusammenfassenden Tabelle, werden für die vier untersuchten Jahrgänge der 50 Zeitschriften Artikelzahl, Anzahl der Referenzen, Referenzen/Artikel, Selbstzitate und Prozentsatz der Selbstzitate angegeben. In der anschließenden Diskussion des Impact Factors wird gezeigt, dass der Durchschnittswert aller informationswissenschaftlichen Periodika zusammen während der vier untersuchten Jahre nur geringfügig um 0,4 schwankt. Diese Zeitschriften üben also (Anm. d. Rezensenten: sofern man gewillt ist, den Impact Factor als alleinigen Maßstab anzuerkennen, wovor sogar die Studie selbst warnt! vgl. Kap. 2, S. 21) insgesamt einen sehr geringen Einfluss aus, wenngleich einzelne Titel durchaus bessere Werte erreichen, so etwa das "Journal of Documentation" mit 1,52.

Im deutschsprachigen Bereich liegen selbst die Spitzenreiter nur im Umfeld des internationalen 0,4-Durchschnittswerts. Sollte, so fragen die Verfasser der Studie, Eugene Garfield, der Vater des Impact Factors, mit seiner Vermutung Recht haben, dass deutschsprachige wissenschaftliche Zeitschriften bezüglich ihres Impact Factors nicht mit internationalen Periodika mithalten können? Faktum ist jedenfalls, dass trotz passabler Impact Faktoren der meisten nur zwei deutsche Zeitschriften ("ZfBB", "NfD") durch ISI ausgewertet werden - ein Umstand, so wird angeregt, der vielleicht durch die zuständigen Marketing-Ressorts geändert werden könnte. Der Vergleich der Verteilung der Werte des (regionalen) Impakt Faktors im Bereich der deutschsprachigen und der in den Journal Citation Reports angeführten internationalen Zeitschriften mit Hilfe statistischer Methoden bringt dann Gewissheit: Der Impact Facor deutscher informationswissenschaftlicher Zeitschriften ist signifikant geringer als der internationaler durch ISI ausgewerteter Periodika.

In den folgenden drei Unterkapiteln werden Halbwertszeit der Referenzen, die Zitierfreudigkeit der Autoren sowie die Art der referenzierten Dokumente behandelt. Die durchschnittliche Halbwertszeit aller informationswissenschaftlichen Zeitschriften im Zeitraum von 1997 bis 2000 beträgt rund 4,5 Jahre; die Halbwertszeit der Referenzen der deutschsprachigen Periodika des Fachbereichs liegt allerdings mit 2,8 Jahren wesentlich unter dem internationalen Schnitt von 5,1 Jahren. Die durchschnittliche Zahl an Referenzen pro Artikel beträgt 15,93. Wiederum gibt es große Unterschiede beim Vergleich der beiden Zeitschriftengruppen: Während deutschsprachige Periodika knapp 9 Referenzen pro Artikel nennen, sind es im internationalen Bereich mehr als doppelt so viele. Die intellektuelle Auszählung der nicht von den "Journals Citation Reports" erfassten deutschsprachigen Zeitschriften brachte als Nebeneffekt eine bei ISI nicht gegebene Untergliederung des referenzierten Materials nach Zeitschriftenartikeln, Monographien, Webseiten und Sonstigem. Dabei zeigte sich von 1997 bis 2000 auf Kosten des Monographien-Anteils ein kontinuierlicher Anstieg des Webseiten-Anteils von 12 auf 26 Prozent.

In sehr ausführlicher Weise werden in einem eigenen Unterkapitel Informationsflüsse und Reputationsvergabe in den untersuchten Zeitschriften behandelt. Ausgehend vom Phänomen der Selbstzitation, also der Referenzen auf die eigene Zeitschrift, dessen Rate im Durchschnitt rund 6 Prozent beträgt, bei Verbandszeitschriften aber auch 23 Prozent erreichen kann, erforscht die Studie das Ausmaß der Offenheit der diversen Periodika für Informationsimport bzw. -export. Als Leser der Studie versteht man, dass die große Zahl an Referenzen die Einführung von Schwellenwerten unumgänglich macht, wenngleich damit natürlich auch eine Vergröberung des Rasters verbunden ist. Unter dieser Einschränkung sind die "Landkarten" zu sehen, die nicht uninteressante Clusterbildungen zeigen, "Inseln", "Länder", ja "Kontinente" von Zeitschriften, entsprechend den Informationsaustauschbeziehungen. "Außenhandelsbilanzen" zeigen das Verhältnis von Informationsimport und -export der einzelnen Zeitschriften, und je nach dem Überwiegen des einen oder andern werden "Mittelpunkte" mit hohem Importanteil und "Autoritäten" mit hohem Exportanteil erkannt. An dieser Stelle darf ein wenig "Lokalpatriotismus" des Rezensenten aufblitzen und darauf hingewiesen werden, dass "B.I.T.online" eine der wenigen deutschsprachigen Zeitschriften ist, die den eher zur Abschottung neigenden "Informations-Binnenmarkt" öffnet, indem sie für Importe aus den "Digital Libraries" sorgt.

Der letzte Teil der Studie ist der Verknüpfung der einzelnen szientometrischen Parameter mit einander und mit den Ergebnissen der Expertenbefragung gewidmet. Mittels statistischer Verfahren (für Insider: Korrelationsberechnungen nach Pearson) werden zunächst in Subkapitel 5.8 Impact Factor, Halbwertszeit der Referenzen, Zitierfreudigkeit und Selbstreferenzen untereinander in Beziehung gesetzt, und zwar einmal für alle 50 untersuchten Periodika und dann getrennt nach deutschsprachigen und internationalen Titeln. Von den dadurch ermöglichten Aussagen sei hier nur als besonders bemerkenswert erwähnt, dass international die Aktualität der Referenzen (=Halbwertszeit) mit zunehmendem Impact Factor sinkt, im deutschsprachigen Bereich hingegen zunimmt, und dass wiederum im deutschsprachigen Bereich der Zusammenhang zwischen Selbstreferenzrate und hohem Impact Factor viel stärker ausgeprägt ist - ein Hinweis auf informationswissenschaftliche Inzucht?

In Kapitel 6 wird ebenfalls mit Hilfe von Korrelationen nach Pearson einmal für alle 50 Zeitschriften und einmal für die Teilmenge der 10 deutschsprachigen eine Beziehung zwischen den szientometrischen Parametern und den Angaben über Lesehäufigkeit, Anwendungsbezug, Publikationshäufigkeit und -präferenz hergestellt. Dabei stellt sich heraus, dass Lesehäufigkeit und Anwendbarkeit bei deutschsprachigen Periodika der Höhe des regionalen Impact Factor proportional sind, während bei internationalen Zeitschriften eine leicht negative Beziehung besteht! Weiters scheinen deutsche Autoren bevorzugt in Zeitschriften mit hoher Selbstreferenzrate zu publizieren, sich also auf ihrer "Insel" gleichsam einzurichten.

Durch getrennte Auswertung der oben angeführten Korrelationen nach Praktikern und Wissenschaftlern unter den Probanden versucht die Studie schließlich die von Brian D. Scanlan schon 1987 aufgestellte Vermutung zu überprüfen, praktisch orientierte Zeitschriften seien beim Impact Factor benachteiligt, da Praktiker kaum publizierten und daher auch nicht zitierten. Die dafür notwendigen umfangreichen statistischen Operationen beruhen auf Impact Factor Tabellen (S.84 f.), die allerdings den Schönheitsfehler haben, dass die darin enthaltenen Werte in einigen Fällen nicht mit der offenbar als Quelle dienenden Tabelle auf S. 54 übereinstimmen (z.B. "Bibliothek in Forschung und Praxis" S. 54 IF 0,42 - S. 84 IF 0,39; die Auswirkung auf die Ergebnisse ist jedoch marginal). In Summe zeigt sich, dass für den von der vorliegenden Studie erfassten Personenkreis (Hervorhebung durch den Rezensenten) Scanlans Vermutung nicht zutrifft, da im deutschsprachigen Raum die Informationswissenschaft eine zu kleine Subdisziplin darstellt und daher die Menge der praxisbezogenen Publikationen überwiegt. Die schon eingangs erwähnte Skepsis bezüglich der Repräsentativität der Ergebnisse ist gerade an dieser Stelle noch einmal zu betonen, beträgt doch die Teilmenge der sich als WissenschaftlerInnen deklarierenden Probanden nur 22 Personen; und dass von den Verfassern der Studie selbst auf die weitaus höhere Publikationsrate pro Person im wissenschaftlichen Bereich hingewiesen wird (3 gegenüber 0,7 bei Praktikern/Bibliothekaren, Kap. 6.2, S. 87) scheint doch ein recht deutlicher Hinweis, dass hier ein Schwachpunkt vorliegen könnte.

Alles in allem stellt die Studie - wenngleich nur eine Momentaufnahme eines bestimmten Ausschnitts der Zeitschriftenszene - eine Fülle von Einzeldaten und Relationen zur Verfügung, die für die "Community" durchaus interessant sein können. Darüber hinaus enthält sie so manche interessante Anregung zu weiterer/eigener Forschungsarbeit und sollte daher auch so gesehen werden, wie sie ihre Autoren im "Ausblick" selbst einschätzen: als Auslöser weiterer szientometrischer Forschungsarbeiten, die zu Theorien oder Hypothesen führen, die die beobachteten Sachverhalte systematisieren (Kap. 6.3, S. 88).


Anschrift des Rezensenten:
Helmut Hartmann
Universitätsbibliothek der Karl-Franzens-Universität
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E-Mail: helmut.hartmann@uni-graz.at