Ein Engländer in Berlin
Kurz vor Erscheinen dieses Interviews teilte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit, daß der Generaldirektor Jefcoate zum 31. März 2003 ausscheiden werde. Als Grund wurden Meinungsverschiedenheiten über die Ausrichtung der Bibliothek angegeben.
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Als Graham Jefcoate zum Generaldirektor der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz berufen wurde, ging ein überraschtes Raunen durch die deutsche Bibliothekslandschaft. Was macht ein Engländer an der Spitze der Traditionshäuser, die durch ihre jahrzehntelange Teilung eine ganz besondere Bedeutung für Deutschland haben und deren Wiederzusammenführung eine sensible nationale Aufgabe ist? Mit dem Generaldirektor und seiner Ständigen Vertreterin Barbara Schneider-Kempf sprach Vera Münch in Berlin.
Um es gleich vorwegzunehmen: Graham Jefcoate macht in Berlin das, was alle anderen Bibliotheksdirektorinnen und -direktoren auf der ganzen Welt tun: Er setzt sich mit den Herausforderungen des Medienwandels auseinander, der von der gesamten Bibliothekswelt die Entwicklung und den Einsatz neuer Kombinationsverfahren für die parallele Bewahrung und Bereitstellung analoger und digitaler Informationsträger verlangt. Der Weg zur weltweit verteilten, hybriden Bibliothek der Zukunft ist auch in der Berliner Führungsetage ein Schwerpunktthema. Jefcoate sagt dazu: "Ich bin überzeugt, dass die großen Universalbibliotheken, die es seit Jahrhunderten vielfach in den Metropolen der Welt gibt, auch in Zukunft eine unentbehrliche Rolle spielen werden. Sie sind mehr als Archive, und sie sind mehr als rückwärtsgerichtete Informationsspeicher." Seinen Glauben an die Zukunft der Universalbibliotheken begründet er gesellschaftspolitisch; beinahe philosophisch: "Mit ihren disziplin- und formatübergreifenden Beständen bieten sie Zugang zu einem Wissen, das weit über alle räumlichen, zeitlichen und sprachlichen Grenzen hinausreicht" (...) und damit "bieten sie jedem Menschen die Möglichkeit, sich in der Komplexität und Kompliziertheit des menschlichen Daseins neu oder wieder zurechtzufinden." Bibliotheken seien Orte der physischen und geistigen Begegnung, und sie eröffneten unerwartete Ausblicke und Hoffnungen für die gemeinsame Zukunft der Menschen. Den Führungsverantwortlichen der Bibliotheken müsse es gelingen, im Zuge der Digitalisierung die "richtige Balance zwischen Erwerb und Zugang" zu finden, das heißt, zwischen der physischen Bereitstellung in Form eigener Bestände und dem Vermitteln aus anderen Quellen eines weltumspannenden Netzes. "Von dem Wissenspotential, das uns analog und digital zur Verfügung steht, haben wir wenig mehr als '0,0-Etwas-Prozent' erschöpft", so Jefcoate. "Wir müssen diese Spannung, dieses Potential besser vermitteln - an die Wissenschaft, an die Bibliotheksnutzer. Wir sind in der Vergangenheit zu passiv gewesen - vielleicht zu passiv."
IFLA 03 in Berlin Die 69. IFLA Generalkonferenz und Ratsversammlung findet vom 1. bis 9. August 2003 in Berlin statt. Bundespräsident Johannes Rau hat die Schirmherrschaft über diese wichtigste Jahreskonferenz der internationalen Bibliotheksvereinigung "International Federation of Library Associations and Institutions" übernommen. Das Thema der Konferenz ist die "Bibliothek als Portal: Medien - Information - Kultur" mit den Unterthemen "Medienmanagement im Wandel", "Stärkung der Informationsinhalte" und "Einstehen für Kultur und menschliche Werte". Die SBB PK beteiligt sich mit einzelnen Programmpunkten, zum Beispiel Führungen, Workshops und einem großen Bibliotheksfest. "Wir freuen uns, dass wir die Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt in Berlin willkommen heißen dürfen. Wir wollen ihnen ihren Arbeitsaufenthalt durch ein umfassendes Rahmenprogramm so angenehm wie möglich machen." |
Bauen und zusammenführen
Den Aufbau einer durchgängigen, digital-analog vernetzten Sammlung sowie der dazu passenden, zeitgemäßen Web-Dienstleistungen hat die SBB PK noch weitgehend vor sich. Neben den Anforderungen, die sich daraus ergeben, stehen auf dem Arbeitsplan von Jefcoate und seiner ständigen Vertreterin Barbara Schneider-Kempf natürlich noch eine Vielzahl weiterer Führungsaufgaben einer Staatsbibliothek: Sie repräsentieren, kümmern sich um nationale und internationale Kontakte auf fachlicher Ebene und widmen sich im Besonderen natürlich den speziellen Problemen der SBB PK. Allen voran sind dies das große, mit einer Bauzeit bis 2014 veranschlagte Bauprojekt mitten im Herzen des historischen Stammhauses Unter den Linden sowie die weitere interne Zusammenführung und eine gemeinsame Zielsetzung für die beiden Häuser. Sie waren als Folge des Zweiten Weltkrieges über Jahrzehnte als zwei getrennten Staatsbibliotheken mit Sitz in Ostberlin, Unter den Linden, und in Westberlin, Potsdamer Straße, geführt worden. Mit der Wiedervereinigung wurden auch sie wieder vereint. Beide Standorte bleiben jedoch erhalten, und auch das 30 Jahre alte Haus Potsdamer Straße hat Renovierungsbedarf.
Jefcoate ist ein echter Engländer; durch und durch. Freundlich, ruhig, besonnen und dabei für neue Ideen zunächst einmal rückhaltlos offen. Dass er von seinem Vorgänger Antonius Jammers eine schwere Aufgabe übernommen hat, darin sind sich alle Branchenkenner einig. Auch Jefcoate. Trotzdem strahlt er große Zuversicht aus. "Mein Optimismus basiert auf der Stärke des Hauses. Der menschlichen Stärke. Wir haben sehr gute Leute, die sich durch hohe Einsatzbereitschaft und Ideenreichtum auszeichnen", begründet er sachlich. Und dann gerät er, ziemlich unenglisch, öffentlich ins Schwärmen: In wenigen Sätzen beschreibt er das Potential der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Häuser als Talentpool, der optimal entwickelt werden könne. Nach dem kurzen geistigen Ausflug in eine erträumte Denkfabrik für die Bibliothek bringt Jefcoate sich selbst wieder auf den Boden der aktuellen Gegebenheiten zurück: "Es gilt, die vorhandenen Talente einzusetzen und auszubauen." Bibliothekar sei vor 25 Jahren ein ganz anderer Beruf gewesen als heute.
Graham Jefcoate Generaldirektor der Staatsbibliothek zu Berlin
Berufliche Stationen:
Gremienarbeit:
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Sofortmaßnahmen für die SBB PK
Im "Strategieprozess SBB 2011" haben sich im letzten Jahr 10 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatsbibliothek mit einer umfassenden Bestandsaufnahme der Arbeitsprozesse im Sinne einer Evaluierung beschäftigt. Weitere 10 Prozent haben sich mit Fragebögen und in Interviews daran beteiligt. "Meines Erachtens muss eine Organisation eine Definition und Bewertung ihrer Prozesse haben, um daraus die kurz-, mittel- und langfristige Zielsetzung erarbeiten zu können", begründet Jefcoate. "Wir werden in 2003 ein Strategiepapier vorlegen, das im Haus erarbeitet worden ist." Aus den Ergebnissen, so Jefcoate, hätte man bereits Sofortmaßnahmen abgeleitet. Sie sollen Anfang 2003 vorgestellt und umgesetzt werden. Hauptziel ist die zügige Entwicklung der hybriden Bibliothek und entsprechender Dienstleistungen. In diesem Bereich gäbe es noch unzureichende Unterstützung der Nutzer. Man wolle diese Probleme jetzt aktiv angehen.
Jefcoate steht seit einem guten Jahr an der Spitze der SBB PK. Schneider-Kempf kam drei Monate später nach Berlin. Die Aufgabenteilung im Führungsteam ist nach den Fach- und Interessensgebieten sowie der bisherigen beruflichen Erfahrung der beiden Bibliothekare ausgerichtet. Jefcoate kümmert sich als Spezialist für den Buchdruck und für Landessammlungen besonders um die historischen Sondersammlungen, Schneider-Kempf beschäftigt sich mehr mit den modernen Sammlungen, nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen aus der Gremienarbeit im Bibliotheksausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Dies sei "so die grobe Linie der Arbeitsteilung", erläutert Schneider-Kempf. Für sie eine neue Form der Zusammenarbeit: "Ich war Herrn Jefcoate von Anfang an sehr dankbar und habe mich gefreut, dass er ein mir eher neues Teamdenken stark in den Vordergrund stellt."
Stiftungspräsident Klaus Dieter-Lehmann begleitet das Führungsteam beratend und bei Repräsentationsaufgaben. "Herr Lehmann ist als renommierter Bibliothekar mit diesem Haus eng vertraut. Er war Vorsitzender der Bibliothekskommission, bevor er Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz wurde. Das heißt, er ist natürlich jemand, der das Haus sehr gut kennt und der eine Kontinuität hier darstellt. Er unterstützt uns maßgeblich in Repräsentationen und in der Diskussion um die strategische Ausrichtung", beschreibt der Generaldirektor die Zusammenarbeit.
Barbara Schneider-Kempf Ständige Vertreterin des Generaldirektors der Staatsbibliothek zu Berlin
Berufliche Stationen:
Gremienarbeit:
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Netzwerk über die Grenzen hinaus
Effiziente Zusammenarbeit mit Menschen und Institutionen außerhalb der SBB PK und auch weit über deutsche Landesgrenzen hinaus ist für Jefcoate nicht nur "ein Auftrag, den wir haben", sondern auch eine Selbstverständlichkeit der Zeit. Er begründet: "Der erste Impuls für die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen kommt aus der Digitalisierung, der zweite aus den Sammelgebieten und den besonderen Sammelprofilen. Auf Gebieten, in denen wir so etwas wie eine Führungsrolle für das gesamte Bibliothekswesen spielen, ergeben sich starke Impulse für die Zusammenarbeit im Inland, aber auch zunehmend mit dem Ausland." Wichtige Themen seien die Vernetzung, die Langzeitarchivierung, der Aufbau von WWW-Dienstleistungen und Datenbanken aller Art. Die SBB PK arbeite hier eng mit der Deutschen Bibliothek (DDB), der Bayrischen Staatsbibliothek (BSB) und anderen Bibliotheken zusammen.
Um die Realisierung der Entwicklungsprojekte zur Vernetzung mit Staatsbibliotheken und andren Partnern kümmert sich zunehmend Schneider-Kempf. Als konkretes Beispiel für ein mögliches, künftiges Fachnetz nennt sie das Sondersammelgebiet Ostasien, auf dem die SBB sehr stark ist. Hier sei daran gedacht, dass die drei überregionalen Bibliotheken mit ostasiatische Beständen gemeinsam eine digitalisierte Datensammlung anbieten. "Das ist aber noch ein sehr kleines, zartes Pflänzchen, das noch kräftig gegossen werden muss", will Schneider-Kempf nicht zu weit vorpreschen. Die beiden weiteren Bibliotheken in einem derartigen Projekt wären aufgrund der Bestände die Zentralbibliothek für Medizin in Köln (ZBMed) und die Technische Informationsbibliothek (TIB) Hannover.
Die Rückführung der "Berlinka", der kriegsbedingt nach Krakau verlagerten und dort nach wie vor aufbewahrten Bestände der SBB, hat für den europäisch denkenden Engländer Jefcoate nicht die erste Priorität. Er sieht die Aufgabe der Bibliotheken in der Vermittlung von Information, nicht in der Lösung delikater binationaler Fragen. "Wir pflegen die Kontakte auf wissenschaftlicher und fachlicher Ebene. Alles andere ist ein politische Thema und damit Aufgabe für die Politik." Seiner Meinung nach wird "die Lösung in einem Europa, dass sich wiederfindet liegen. Unsere Rolle ist es nicht, zu verhandeln. Unsere Rolle als Institut ist es, die Bestände zu erschließen und zugänglich zu machen - durch beste Beziehungen zu Polen und Russland. Darum bemühe ich mich." Das Klima zwischen den beteiligten Partnern sei bereits heute exzellent.
Universalbibliothek muss neu definiert werden
Das klingt ein wenig, als wäre Politik nicht das, was Jefcoate machen will. Doch der Schein trügt. Nicht zuletzt sein vehementer Einsatz für den Fortbestand der Universalbibliotheken macht dies deutlich, selbst wenn man das vom Generaldirektor einer derartigen Institution erwarten darf. Doch für ihn ist es eine Herzensangelegenheit. So oft es geht, versucht er, seine Vorstellung von universalen Informationsquellen zu vermitteln, die jedem Menschen den gleichen Zugang zum Wissen der Welt ermöglichen. Allein, wie er auf die Frage nach der Zielgruppe für die SBB PK antwortet, spricht Bände: "Ganz einfach. Unsere Zielgruppe sind alle Menschen, die Zugang zu unseren Beständen brauchen."
Das Thema Universalbibliothek begleitet Jefcoate seit langem. Er hat in drei derartigen Institutionen gearbeitet und glaubt fest daran. Allerdings müsste ihr Konzept neu überdacht werden. Das Kollegium der SBB PK sei dabei, dies für das eigene Haus zu tun. Es gäbe jedoch noch viel zu diskutieren - nicht nur in Berlin. "Die Bibliothekswelt ist verunsichert. Die British Library etwa hatte im 19. Jahrhundert eine klare Vorstellung von ihrer Aufgabe. Diese besagte, dass die Bibliothek für ihr Land jeweils die weltbeste bei den Landesbeständen sein müsste und bei den ausländischen Beständen die zweitbeste nach der jeweiligen Nationalbibliothek des Landes. "Diese Vision gilt nicht mehr im 21. Jahrhundert (...). Universalbibliotheken müssen nicht mehr alles am Ort aufbewahren. Sie müssen eine neue Balance zwischen Erwerb und Zugang finden." Dies bedeute, sie werden nicht mehr alles physisch sammeln und archivieren, hätten aber jetzt die Gelegenheit, durch Vernetzung Zugang zu einem riesigen Informationspool weltweit zu schaffen. Zum Beispiel für Europa. London, so Jefcoate, sei heute anderthalb Stunden von Berlin entfernt und der Flug koste 39 Euro. "Muss die British Library dann wirklich alle Romane von Hubert Fichte anschaffen? In London?", fragt er provozierend und erklärt, wie er diese Frage zur Zeit für sich selbst beantwortet: "Vielleicht ja. Oder vielleicht nein." Es sei eine Frage, die nur von vielen gemeinsam entschieden werden könne. "Wir müssen die Universalbibliothek neu definieren."