74. Deutscher Archivtag 2003 in Chemnitz

von Christian Keitel

Den Herbst läuten die Archivarinnen und Archivare gerne mit einem Besuch auf dem alljährlich wiederkehrenden Deutschen Archivtag ein. Dieses mal traf sich die Zunft vom 30. September bis 3. Oktober in Chemnitz, um über "Archive im gesellschaftlichen Reformprozess" zu diskutieren, Kontakte aufzufrischen und die parallel stattfindende Fachmesse Archivistica zu besuchen. Trotz des eindeutigen Titels blieben die deutschen Archivare aber auch auf diesem Archivtag nicht unter sich. Eine internationale Ausrichtung bekam der 74. Deutsche Archivtag von den ausländischen Gästen, die bereits einen Vorgeschmack auf das Großereignis des kommenden Jahres mitbrachten: Da 2004 in Wien der Internationale Archivtag stattfindet, wird erstmals seit langer Zeit kein Deutscher Archivtag ausgerichtet. Professor Peter Csendes vom Wiener Stadt- und Landesarchiv vergaß es nicht, die Anwesenden aus diesem Anlass in die alte Habsburgische Metropole einzuladen.

Das fachübergreifende Gespräch konnte auf dem "Tag der Landesgeschichte" gepflegt werden, der in diesem Jahr wieder parallel zum Deutschen Archivtag veranstaltet wurde, nachdem er im vergangenen Jahr anlässlich des 150. Geburtstages des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg stattgefunden hatte. Wie eng die Disziplin der Archivare nach wie vor mit jener der Historiker verwandt ist, manifestierte sich während der Eröffnungsveranstaltung nicht zuletzt in der Person von Dr. Dieter Brosius. Dieser sprach als Vorsitzender des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, war aber auch bis 2001 Direktor des Niedersächsischen Hauptstaatsarchivs in Hannover gewesen.

Archive im gesellschaftlichen Reformprozess

"Die Herausforderungen sind umfassender, als wir sie bisher gesehen und auf unseren Deutschen Archivtagen in den zurückliegenden Jahren thematisiert haben." Mit diesen Worten charakterisierte Prof. Dr. Volker Wahl als Vorsitzender des VDA (Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V.) die derzeitige Situation der Archive. Die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen treffen die Archive oft ganz unmittelbar. Vor dem Hintergrund chronisch unterfinanzierter öffentlicher Kassen werden bereits verschiedentlich die staatlichen oder kommunalen Archive selbst in Frage gestellt. Der Unterhalt solcher Archive wird dann gerne als eine freiwillige kulturelle Leistung dargestellt, eine Definition, die von der bisherigen Charakterisierung als hoheitliche Aufgabe deutlich abweicht. Diese Einordnung wurde vor allem damit begründet, dass der Archivar es der Gesellschaft ermöglicht, Lehren aus der Geschichte ziehen zu können, indem er sachkundig darüber entscheidet, was als Quelle der Dokumentation und der Geschichtsschreibung auf Dauer aufbewahrt werden soll. Mittlerweile scheint es sich dabei um eine zunehmend vernachlässigbare Qualität, eben eine freiwillige und daher verzichtbare Leistung zu handeln.

Die Archive sind also in einen grundsätzlichen Rechtfertigungszwang geraten, der bei einzelnen Häusern bis hin zur Gefährdung ihrer Existenz geht. Zum selben Ergebnis können aber auch die Mittelkürzungen führen, deren sich die meisten Archivarinnen und Archivare zunehmend erwehren müssen. Ihnen widmete sich die Sektion II unter dem Stichwort "Neue Organisationsformen im Archivwesen". Dr. Andreas Hedwig, Leiter des Staatsarchivs Marburg, sprach die Auswirkungen der Neuen Verwaltungssteuerung am hessischen Beispiel an. Wie auch andere Bundesländer versucht Hessen, mit Hilfe von SAP R/3 seine internen Prozesse betriebswirtschaftlich abzubilden, transparent zu machen und letztlich auch entsprechend effizient zu steuern. Der Produktivstart soll am 1. Juli 2004 erfolgen, d.h. zu diesem Zeitpunkt sollen die Module Finanzbuchhaltung, Materialwirtschaft, Anlagevermögen und Controlling einsatzbereit sein. Die Staatsarchive wurden dafür zu einem Buchungskreis "Dokumentation und Information" zusammengeschlossen, sie sollen einerseits einen gemeinsamen Haushalt bewirtschaften, zugleich jedoch als sog. Profit-Center ihre Selbständigkeit erhalten. Es bedarf keiner weiteren Worte, dass solche Umstellungen von Seiten der Politik stets mit entsprechenden Einsparpotentialen verbunden werden.

Ebenso weitreichend sind die Konsequenzen, die im Rahmen der Verwaltungsreform mit der Auflösung und Zusammenlegung von ganzen Behördenzweigen einhergehen, ein Thema, das Dr. Ulrike Höroldt vom Landeshauptarchiv Magdeburg am Beispiel der Staatlichen Archivverwaltung von Sachsen-Anhalt entwickelte. Auf dem Gebiet dieses Bundeslandes bestand zu DDR-Zeiten nur ein Staatsarchiv in Magdeburg, dem nach der Wende und der Einrichtung von drei Regierungspräsidien 1993 zwei weitere Landesarchive (Oranienbaum und Merseburg) zur Seite gestellt wurden. Zum 1. Januar 2004 sollen die drei Regierungspräsidien nun in einem Landesverwaltungsamt aufgehen, Grund genug, um die bislang selbständigen Landesarchive in einem gemeinsamen Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt aufgehen zu lassen. Zwar sollten nun die Standorte nicht räumlich vereint werden, die bislang gegebene räumliche Zuständigkeit aber zugunsten einer fachlichen Aufgabenabgrenzung abgelöst werden. Gemäß den Kategorien Verwaltungs-, Justiz- und Wirtschaftsschriftgut waren umfangreiche Beständebereinigungen geplant, die aufgrund massiver Proteste teilweise zurückgenommen werden mussten. Geblieben ist nun ein Archiv mit drei Abteilungen an vier Standorten mit fünf Dienstgebäuden.

Gefragt wurde auch nach der möglichen Funktion eines Zwischenarchivs. Sollte Behördenschriftgut nach seinem unmittelbaren Gebrauch und vor der Kassation bzw. Aufbewahrung in einem Archiv sinnvollerweise in der Altregistratur der Behörde oder an einem zentralen Ort verwahrt werden? Kann diese Frage überhaupt mit den zur Verfügung stehenden Daten sachgerecht entschieden werden? Beim Vergleich der beiden Alternativen wären nach den Überlegungen von Dr. Volker Jäger vom Referat Archivwesen im Sächsischen Staatsministerium des Innern zunächst der praktische Flächenbedarf der abgebenden Behörden, danach aber die nicht nur theoretisch erreichbaren, sondern ganz praktisch auch umsetzbaren Flächeneinsparpotentiale zu ermitteln. Diese Zahlen stehen jedoch im Allgemeinen nicht zur Verfügung, können also einer Wirtschaftlichkeitsberechnung nicht zugrundegelegt werden. Ähnlich verhält es sich mit den möglichen Auswirkungen eines Zwischenarchivs auf die archivische Bewertungspraxis - profitiert diese eher von einem Zwischenarchiv, oder sind im Zweifelsfall nicht immer wieder auf umständlichem Wege Informationen bei der abgebenden Behörde einzuholen, die bei einer Verwahrung in der Altregistratur erheblich leichter zu ermitteln gewesen wären? Dr. Harald Stockert vom Stadtarchiv Mannheim sah dagegen das "Zwischenarchiv als strategische Chance", so der Titel seines Vortrags. Gerade in Zeiten der digitalen Revolution könne das Mannheimer Stadtarchiv über sein Zwischenarchiv steuernd auf die einzelnen Behörden einwirken. Besonders wichtig wurden diese Möglichkeiten bei der Einführung eines stadtweiten Dokumenten-Management-Systems. Zukünftige Zwischenarchive, so das Resumee des Referenten, würden sich eben durch diese Einflussmöglichkeiten auf digitalem Gebiet, immer weniger aber durch die in der Papierwelt noch dominante Frage der Platzersparnis auszeichnen.

Neben den unmittelbaren Folgen wirken sich die aktuellen Veränderungsprozesse aber auch indirekt über die zu betreuenden Unterlagen auf die Archive aus. Mit diesen Fragen beschäftigte sich die Sektion l, die unter dem Titel "Verwaltungsreform und Überlieferungsbildung im Archiv" stand. Dr. Clemens Rehm vom Generallandesarchiv Karlsruhe stellte die Frage, "inwieweit die Gesellschaft Anspruch auf archivische Abbildung wesentlicher Bereiche gesellschaftlichen Lebens hat, auch wenn die zuständigen Institutionen bzw. Aufgaben nunmehr privatisiert werden bzw. worden sind". Sollen also weiterhin gemäß Schellenberg vor allem die abgabepflichtigen Behörden und deren Aufgabenerledigung abgebildet werden, oder gibt es - eine nun seit drei Jahrzehnten anhaltende Diskussion - nicht doch einen neu anwachsenden Bedarf an einer Dokumentation bestimmter Bereiche der Gesellschaft? Und wenn einzelne Behörden wie etwa die bundeseinheitliche Arbeitsverwaltung "nur" umgebaut werden, welche Auswirkungen hat dies dann auf die bereits in den 90er Jahren entwickelten archivischen Bewertungsmodelle (Dr. Thekla Kluttig, Sächisches Hauptstaatsarchiv)?

eGovernment und seine Konsequenzen für die Archive

Wie lassen sich die mit neuen Softwareentwicklungen der Behörden einhergehenden Probleme im Bereich der elektronischen Archivierung in den Griff bekommen? Mit letzterem Thema beschäftigten sich gleich drei Referentinnen der Sektion I. Dr. Margit Ksoll-Marcon von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, München, berichtete von einer beim Bayerischen Staatsministerium des Innern angesiedelten ressortübergreifenden Arbeitsgruppe, die auf Beschluss der Bayerischen Staatsregierung Standards für Dokumentenmanagementsysteme in der bayerischen Staatsverwaltung zu erarbeiten hatte. Dafür wurden auf der Basis bereits veröffentlichter Standards wie z.B. DOMEA oder MoReq ausgewertet und danach eine einheitliche Objekthierarchie, bestehend aus Akte, Vorgang und Dokument, mit jeweils eigenem Metadatenkatalog entwickelt. Die Metadaten werden nach ihrer Funktion unterschieden in solche für das interne Handeln der Verwaltung, für den Export sowie für die Abgabe dieser Unterlagen an das Archiv. Ziel ist es, die IUK-Struktur der staatlichen und kommunalen Verwaltungen in Bayern einheitlich zu gestalten und mittels der erarbeiteten Standards den notwendigen Datenaustausch ohne größere Probleme bewältigen zu können. Neben diesen Standards sollten aber auch die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, ein Punkt, auf den besonders Dr. Barbara Hoen von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg hinwies. Und was ergibt die Bewertung solcher Systeme in der Praxis? Dr. Irmgard Becker vom Stadtarchiv Saarbrücken hat hierzu den Einsatz von SAP R/3 in der Finanzverwaltung untersucht und kommt zwar zum Ergebnis, dass die Entwicklungen sorgfältig zu beobachten, vorerst aber die von dem System gewonnenen Zahlenwerke nicht archivwürdig seien.

Das neue Paradigma der Benutzung

Neben den bereits geschilderten Problemen bieten die gesellschaftlichen, politischen und technischen Veränderungen aber auch die Chance, die Außenbeziehungen der Archive neu zu ordnen. "Benutzung" war zwar bislang bereits möglich und erwünscht, wird aber neuerdings geradezu als neues Paradigma ausgerufen. Dieser Bereich wurde auf dem Archivtag von Sektion III unter dem Titel "Neue Dienstleistungen des Archivs" diskutiert. Welche Benutzergruppen sollten überhaupt ins Visier genommen werden? Nach Dr. Irene Gerrits vom Niederländischen Nationalarchiv in Den Haag treten in der Freizeitgesellschaft neben die traditionellen Kunden wie Genealogen und Forscher Schülerinnen, Schüler und andere Besucher, die zwar ein historisches Interesse, gleichzeitig aber nicht mehr unbedingt einen wissenschaftlichen Anspruch besitzen. Diese Gruppen sollten jeweils gesondert, also zielgruppengerecht angesprochen werden. Ein ganz anderes Beispiel für eine solche besondere Ansprache führte Dr. Katharina Ernst vom Stadtarchiv Stuttgart aus. Die Behörden stellen zwar in vielen Archiven eine zahlenmäßig bedeutsame Benutzergruppe. Gleichzeitig sind in Deutschland aber nur geringe Ansätze für eine online-gestützte Beratung von Behörden durch Archive zu erkennen. Aber auch über die Betreuung der traditionellen Klientel gibt es neues zu berichten. Jörg Filthaut vom Bundesarchiv, Koblenz, stellte Überlegungen zu einer Online-Benutzernavigation für genealogische Forschungen vor, mit deren Hilfe einkommende Anfragen effizienter beantwortet werden können. Allen potentiellen Benutzergruppen zugute kommen sollen schließlich die Bemühungen um eine Retrokonversion von Findmitteln, die Petra Rauschenbach von der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin, exemplarisch diskutierte.

Dass diese Entwicklungen gleichzeitig eine Reihe neuer Probleme mit sich bringen, das machte der Vortrag von Dr. Petra Listewnik vom Sächsischen Wirtschaftsarchiv e. V. in Leipzig deutlich. Wie können den Entscheidern vor dem Hintergrund der zunehmenden Kommerzialisierung Kern- und Nebenaufgaben überhaupt noch vermittelt werden, und ab welchem Punkt schlägt sich die Ausweitung der Dienstleistungsangebote in einer Änderung des Rechtscharakters des Archivs nieder? Es versteht sich von selbst, dass auf diese Fragen keine einfachen und klaren Antworten gegeben werden können.

Auswirkungen auf das archivarische Berufsfeld

Archivare sollten, so sehen es die Ausbildungsordnungen vor, auf jeden Fall mehrere ältere Sprachformen beherrschen, paläographisch bewandert, historisch versiert und, last but not least, nicht zu alt sein. Zugleich werden sie durch die geschilderten Umwälzungen vor eine Fülle neuer Probleme gestellt, für deren Lösung sie derzeit im Rahmen der Ausbildung nur teilweise vorbereitet werden. Es war daher nur konsequent, dass die letzte und vierte Sektion über "Neue Anforderungen an die Archivarinnen und Archivare" sprach, die am Beispiel der Ausbildungsgänge für den mittleren und gehobenen Archivdienst thematisiert wurden. Für das Studium zum Diplom-Archivar nannte Prof. Dr. Hartwig Walberg von dem Fachbereich Archiv, Bibliothek, Dokumentation an der Fachhochschule Potsdam als archivarische Kernkompetenzen informationstechnologische und betriebswirtschaftliche Kenntnisse, Managementfähigkeiten, Kommunikation und Präsentation, Stichworte, in denen sich die Archivare früherer Generationen vermutlich nicht mehr wiedergefunden hätten. Nötig sei auch die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie etwa Informatikern, Designern, Sozialpädagogen, Kulturarbeitern und Medienwissenschaftlern. Um die Ausbildung nicht unnötig in die Länge zu ziehen, sollen die Inhalte modular angelegt werden und so neben der Vermittlung der Kernkompetenzen auch eine gewisse Spezialisierung zulassen. Über die Ausbildung für den mittleren Archivdienst sprach Katharina Tiemann vom Westfälischen Archivamt, Münster. Bundesweit wurde der Ausbildungsberuf Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste 1998 aus der Taufe gehoben, nachdem es bereits zwei Vorläufer in der DDR und in Bayern gegeben hatte. Fünf Jahre später galt es nun Bilanz zu ziehen. Positiv gewertet wurde der fächerübergreifende Ansatz. Dieser werde den Anforderungen der Informationsgesellschaft gerecht. Problematisch gestaltet sich dagegen die Vermittlung des Lernstoffs: Der Unterricht in Fachkunde wird in den Berufsschulen in der Regel von Fachfremden vermittelt, die nicht auf praktische Archiverfahrungen zurückgreifen können. Daneben fehlt es auch an modernen Fachbüchern, die diese Inhalte adäquat darstellen. Es bleibt daher vornehmlich eine Aufgabe der Archive selbst, für eine adäquate Wissensvermittlung zu sorgen.

Das breite Veranstaltungsangebot und die Aktualität der einzelnen Themen sorgten dafür, dass die Diskussionen sich nach dem Ende der Sektionen auch in den Gängen des Tagungszentrums fortsetzten. Während sich dabei aber die Archivare und Historiker auf den eher traditionellen Diskussionsfeldern treffen konnten, musste die Brücke zu den anwesenden Politikern und Verwaltungswissenschaftlern immer wieder neu konstruiert und gegangen werden, eine Übung, die sich auch in den nächsten Jahren wiederholen wird.


Zum Autor

Dr. Christian Keitel ist Referent am

Staatsarchiv Ludwigsburg
Arsenalplatz 3
D-71638 Ludwigsburg
E-Mail: keitel@stal.lad-bw.de