(Über-)Leben in der Informationsgesellschaft:
zwischen Informationsüberfluss und Wissensarmut
Festschrift für Prof. Dr. Gernot Wersig zum 60. Geburtstag

Hrsg. von Ralf-Dirk Hennings; Stefan Grudowski; Wolfgang Ratzek
- Frankfurt a.M.: Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis; 2003. 176 S. (Reihe Informationswissenschaft der DGI; 4)
ISBN 3-925474-47-1

Die Festschrift zu Ehren von Prof. Dr. Gernot Wersig, dem das Verdienst zukommt, "Informationswissenschaft mit einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Orientierung in Deutschland begründet zu haben" (S. 2), behandelt in sieben Abhandlungen ein hochaktuelles Thema.

Langjährige Begleiter, Kollegen und Mitstreiter nehmen tiefgreifende Wendepunkte der letzten 50 Jahre mit unübersehbaren Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur wie den Sputnik-Schock 1957, die deutsche Wiedervereinigung 1989/1990 und die Ereignisse um den 11. September 2001 zum Anlass, um auf Schwachstellen der Informations- und Wissensgesellschaft hinzuweisen. "Trotz Informationsüberfluss, trotz 'weltweiten' Zugangs zu den immer reichhaltiger sprudelnden Informationsquellen, trotz Informationsprofis müssen wir immer wieder feststellen, dass das (Experten-)Wissen nicht ausreicht, um umwälzende Ereignisse rechtzeitig in unser Handeln einbeziehen zu können. Bei all dem Aufwand, den wir betreiben, bleibt dann häufig nur die Feststellung: Das konnte niemand voraussehen." (S. 1)

Die Autoren fordern, die Konzepte für eine Informations- und Wissensgesellschaft zu überdenken und den neuen Bedingungen anzupassen und allen Informationssuchenden eine entsprechende Informationskompetenz zu vermitteln.

Das ist ein hoher Anspruch, dem jeder Autor auf seine Art und aus seinem Wissens- und Arbeitsgebiet heraus gerecht wird.

Wolf Rauch sucht in der Fragestellung Neue Informations-Horizonte? nach Lösungen der Informationsgesellschaft für die o.g. Krisen, nach den konkreten "positiven Utopien", nach den Hoffnungen und Sehnsüchten, die die treibende Kraft bilden, die hinter der Informationsgesellschaft stehen. Er diskutiert den ökonomischen Ansatz von "Informations-Märkten" und den sozialen Ansatz von "Informations-Foren" als Voraussetzung, neue "Informations-Horizonte" zu erschließen.

Horst Völz stellt in den Mittelpunkt seiner heiter vorgetragenen Gedanken zur Verdaulichkeit von Informationen neue Lehr- und Lernformen unter Nutzung von multimedialen CD-ROMs und geht der Frage nach: Wem gehört eigentlich Wissen, und wem gehört Bildung?

Wolfgang Ratzek nutzt in seinem Suum Cuique - Jedem das Seine! Oder: Was wollen wir wissen? die vier Kantschen Schlüsselfragen "Was können wir wissen? Wie sollen wir handeln? Was dürfen wir glauben? Was ist der Mensch?" als Ausgangspunkt für einen informationswissenschaftlichen Ansatz. In den Antworten geht er zu Recht sehr hart mit jenen Zeitgenossen um, die für den zunehmenden Unterhaltungscharakter der Wissenschaft, die sinkende Qualität der Informationen und die gezielten Fehlinformationen verantwortlich sind. "Der Zugriff auf die verschiedensten (elektronischen) Medien allein reicht bei weitem nicht aus, um informiert zu sein, um auf umwälzende Ereignisse vorbereitet zu sein." (S. 55) Ratzeks Ausführungen, meisterhaft in Argumentation und Stil, sind ein Appell an alle Politiker und Wissenschaftler.

Gerhard Vowe stellt u.d.T. Das Internet als elektronische Agora? Zum politischen Potential internetbasierter Kommunikation die Internet-Mythen "Digitale Spaltung" und "Elektronische Agora" auf den Prüfstand. Die Basis bildet eine Untersuchung mit Hilfe einer standardisierten telefonischen Umfrage in den Großstädten Erfurt und Kassel zum politischen Potential internetbasierter Kommunikation in dem Spannungsfeld zwischen "Agora" und "Divide". Sein Fazit: Computergestützte Informations- und Kommunikationstechnologien sind ein wichtiger Faktor mit einem großen Veränderungspotential auch in der politischen Kommunikation.

Stefan Grudowski plädiert bei der notwendigen Neubestimmung der Fachinformationspolitik in seinen Ideen zur Förderung der Fachinformations-Institutionen durch Fachinformationspolitik für einen neuartigen Institutionentyp, das sog. Hyperinformationszentrum, das als eine neuartige Publikationsplattform der Internetentwicklung gerecht werden kann.

Harald H. Zimmermann definiert u.d.T. Zur Gestaltung eines Internet-Portals als offenes Autor-zentriertes Kommunikationssystem ein Internet-Portal als "ein Online-Informationssystem, das den Beteiligten die Möglichkeit bietet, sich zu einem Themen- oder Gegenstandsbereich anhand eines Gruppen- oder Individualprofils zu informieren, miteinander zu kommunizieren und dabei eigene Beiträge einzubringen". (S. 128) Schwerpunkte sind die Nutzergruppen, die Urheber- und Nutzungsrechte und die Differenzierung und Typisierung von Internet-Portalen (Beiträge und Beiträger, Register und Suchhilfen, Foren, Cluster und Versionsbe- und -verarbeitung). Am Ende seiner Darlegungen zieht er eine positive Zwischenbilanz.

Ralf-Dirk Hennings beschäftigt sich in seinem die Festschrift abschließenden Beitrag mit dem Entwicklungsstand der automatischen Generierung von Wissen auf den Gebieten Machine Learning, Data Mining und Knowledge Discovery und beschreibt einsetzbare Verfahren wie die "Induktive Logik-Programmierung", die "Rough Set" Theorie und künstliche "Neuronale Netzwerke". Er nennt dies einen vielversprechenden, herausfordernden Forschungsbereich.

Die Beiträge, die in engem Bezug auf die wegweisenden Veröffentlichungen des Jubilars stehen, belegen, dass die Informationswissenschaft die Entwicklung der Informations- und Wissensgesellschaft kritisch begleiten muss und dass Fehlentwicklungen in der Politik und in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen durch die konsequente Anwendung von informationswissenschaftlichen Prinzipien eingedämmt werden können.

Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass

  1. die Informationswissenschaft konzeptionell weiterentwickelt werden muss,
  2. informationswissenschaftliche Kompetenz unmittelbar mit dem Wohl und Wehe der Informationsarbeit verbunden und dringend zu fördern ist und
  3. der Aus- und Fortbildung in der Informationswissenschaft eine große Bedeutung zukommt: "Von Informationsspezialisten erwarte ich [Wolfgang Ratzek, D.S.] dann, dass sie einen sinnstiftenden Beitrag zur "Reduzierung von Ungewissheit" (Wersig) leisten und prozessbegleitendes, wertschöpfendes Wissen beisteuern". (S. 40)

Die vorliegende Veröffentlichung ist nicht nur eine umfassende Würdigung der Lehr- und Forschungstätigkeit des Jubilars, sondern eine Weiterführung seiner Ideen in das 21. Jahrhunderts hinein.

Wegen seiner provokanten Thesen ist diesem Band ein großer Leserkreis zu wünschen, der weit über die Informationsspezialisten hinausgeht und die Vertreter der Wissenschaftspolitik in den Universitäten, den Kommunen, den Ländern und in der Bundesregierung einbezieht.


Anschrift des Rezensenten

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
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