INFORMATION MACHT BILDUNG

Bemerkungen zum Motto des Zweiten Gemeinsamen Kongresses von BDB und DGI in Leipzig, März 2004, sowie zwei Ausflüge in die Literatur

von Georg Ruppelt

Mit Wohlgefallen wurde zunächst in der Programmkommission und schließlich dann auch von anderen Berufskollegen der Vorschlag des BDB-Sprechers für das mehrdeutige Kongress-Motto INFORMATION MACHT BILDUNG aufgenommen. ("Man hätte wenig Freude, wenn man sich niemals schmeichelte." - La Rochefoucauld.) Versuchen wir nun im Folgenden, diese Mehrdeutigkeit einmal etwas auszuleuchten.

Information macht Bildung

Will man die wesentlichen Aufgaben von Bibliotheken und Informationseinrichtungen auf kürzeste Weise zusammenfassen, so könnte man formulieren: Bibliotheken haben die Aufgabe, Informationen zu sammeln und bereitzustellen und ihren Lesern/Kunden/Endnutzern bei der Suche nach Informationen zu helfen. Dies waren bereits ihre Aufgaben im vordigitalen Zeitalter; sie haben freilich im Zeitalter der Multimedialität eine ungeheuere Ausweitung erfahren. Das Aufgabenspektrum lässt sich etwa wie folgt zusammenfassen:

  1. Bibliotheken sind Service-Einrichtungen der Allgemeinheit und für die Allgemeinheit. Sie garantieren den dauerhaften freien Zugang zu Informationen, die der Einzelne sich nicht selbst beschaffen oder gar vorhalten kann. Bibliotheken begleiten den informationssuchenden Bürger während seines gesamten - im Idealfall lebenslangen - individuellen "Bildungsromans".
  2. Unser Bildungssystem ist auf dem Zusammenwirken von Schulen, Institutionen der Erwachsenenbildung, Hochschulen und privatwirtschaftlichen Einrichtungen aufgebaut. Die dort vermittelte Bildung benötigt Informationen, um daraus reflektiertes Wissen entstehen zu lassen; sie benötigt also Bibliotheken.
  3. Forschung und Wissenschaft können ohne Zugriff auf das "Gedächtnis der Menschheit" nicht auskommen, von der mittelalterlichen Handschrift bis zum digitalen Dokument im Internet - bewahrt, erschlossen und zugänglich gemacht in Bibliotheken. Die Aufgaben von Bibliotheken haben im Zeitalter des weltweit elektronischen Publizierens nicht abgenommen, sondern ihr Umfang ist exorbitant gestiegen.
  4. Um in unserer hochentwickelten zivilisierten Gesellschaft seinen Platz zu finden, muss man lesen können. Nur wer die Kulturtechnik des verstehenden Lesens beherrscht, kann die Vergangenheit begreifen, die Gegenwart meistern und die Zukunft planen. Die Lesefähigkeit ist eine Schlüsselqualifikation für die Ermittlung und Nutzung jeglicher Information, sei es für Freizeit, Allgemeinbildung oder berufliche Qualifizierung des Einzelnen. Mit der Verknüpfung von gedruckten, audiovisuellen und elektronischen Medien vermitteln die Bibliotheken Medienkompetenz: Information literacy.
  5. Die Aufgaben von Bibliotheken und Informationsdienstleistern werden bei dem weiteren Ansteigen der Informationsflut immer umfangreicher, immer schwieriger und immer wichtiger. Der Gefahr einer Irritation des Informationssuchenden durch eine immense Flut nutzbringender und nutzloser Informationen kann nur durch die Arbeit von Bibliotheken und Informationsprofis begegnet werden. Bibliotheken sind die Antwort auf die Frage einer demokratischen Gesellschaft nach der Gefahr der Informationsflut, die alle stringenten und logischen Strukturen zielgerichteter Informationen zu ersticken droht.

Jemand, der in der Lage ist, Informationen zu kanalisieren, sie zielgerichtet an Individuen und an Gruppen zu bringen oder auch diese Information zu verhindern, hat Macht; und mit diesem Hinweis wollen wir uns dem schönen Kongress-Motto aus einer anderen Sichtweise nähern.

INFORMATION - MACHT - BILDUNG

"Wissen ist Macht", sagt der Volksmund und sagt damit - wie so häufig - etwas Richtiges. Es hat zu allen Epochen der Menschheitsgeschichte Personen gegeben, welche die eigene Macht stärken und erhöhen wollten, indem sie anderen den Zugang zur Macht, was auch Zugang zu Wissen und zu Informationen bedeuten kann, verwehrten. Auch unsere Gegenwart kennt dafür leider genug Beispiele. In unserer zweiten Schreibweise des Tagungsmottos steht der Begriff Macht vom Ort her gesehen zwischen Information und Bildung. Dies kann als Bindeglied oder auch als Trennung interpretiert werden.

Machthaber, noch dazu, wenn sie unbeschränkte Macht ausüben, haben die Möglichkeit, Informationen nach gusto zu selektieren oder zu verändern, gemäß ihrer Beurteilung, ob die entsprechende Information für die Ausübung ihrer Macht "gut" oder "schlecht" ist. Sie haben die Möglichkeit Informationen zurückzuhalten, und sie haben die Möglichkeit falsche Informationen weiterzugeben.

Die Gründe für Manipulationen an Informationen und am Informationsfluss können sehr verschiedene sein. Schon immer hat es einzelne Personen oder Gruppen gegeben, die davon überzeugt waren, dass ihre Weltsicht einer allgemein gültigen Wahrheit entspricht. Wenn diese Einzelnen oder Gruppierungen in ihrem Einflussbereich auch noch über die tatsächliche Machtanwendung verfügen können, versuchen sie nicht selten, auch andere an "ihrer" Wahrheit teilhaben zu lassen. Dies kann durch Überzeugungsarbeit, aber auch durch physische oder psychische Gewaltausübung geschehen, es geschieht fast immer durch Manipulationen an Informationen und am Informationsfluss.

In diesem Zusammenhang sei einmal die Ausübung von Macht durch einzelne Besessene betrachtet, die sich auf der Grundlage irgendwelcher Ideologien Macht über viele andere erkämpft oder erschlichen haben und diese sichern wollen. Menschenschinder wie Hitler, Stalin, Pol Pot, Kim Il Sung und wie sie alle heißen, haben Millionen Menschen Tod und unendliches Leid zugefügt. Sie haben auch Millionen Menschen ausgeschlossen von Informationen, vom ganz persönlichen geistigen Fortschritt, von der Freude an der eigenen Bildung, von der Schönheit des durch Informationen und Bildung ermöglichten Wissens, von der auf diese Weise erlangten Befriedigung der Erkenntnis.

Mag man den Hinweis auf die geistigen und seelischen Auswirkungen von Unfreiheit auch als marginal empfinden im Vergleich zu dem Leid und Elend, das die Welt auch ohne diktatorische oder ideologische Machtausübung erfährt, ein Verbrechen am Individuum bleibt es allemal, denn jedem dieser Millionen Individuen wurde, lassen wir einmal die transzendentalen Sichtweisen der Religionen außer Betracht, mit seinem kurzen Leben nur dieser eine einzige Versuch geschenkt.

Menschen von Bildung fern zu halten, kann aber auch ökonomische Gründe haben, die freilich wiederum direkt mit Machtausübung zusammenhängen. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte und Gegenwart genug. Eine der aufrüttelndsten Szenen eines Romans der Weltliteratur zu diesem Thema findet sich in Aldous Huxleys "Brave New World", der vor 72 Jahren erschienen ist. Huxley, der 1932 vom Klonen noch nichts wissen konnte, beschreibt darin detailliert eine durch biotechnologische Manipulationen stabilisierte Klassengesellschaft. Die Nachkommenschaft wird in vitro erzeugt, wobei die oberste, die Alpha-Klasse, prä- und postnatal eine exzellente Betreuung erhält. Die unteren Klassen treten hingegen als Mehrfachlinge in die Welt, wo sie niedrigste Arbeit zu verrichten haben und durch schrankenlosen Sex mit Angehörigen der eigenen Klasse und primitive Vergnügungen bei Laune gehalten werden.

Es schadet sicherlich nicht, wenn man zu einem Bibliothekskongress, noch dazu in Nachbarschaft zur Leipziger Buchmesse auch einmal ein Stück Weltliteratur zu Gehör bringt.

Hier ein Ausschnitt aus Huxleys Roman, der in einer Brutanstalt spielt. Der Direktor der Anstalt führt eine Anzahl Studenten durch die Anlage. In einem Saal sind lange Reihen vielfarbiger Rosen in Schalen aufgestellt; zwischen ihnen liegen aufgeschlagene Kinderbücher mit bunten Bildern:

Macht über Wissen, Macht über Informationen können aber nicht nur Einzelne oder Gruppierungen ausüben, denen die gesetzgebende oder die ausübende oder die richterliche Gewalt oder alle drei zusammen zur Verfügung stehen, Macht über den Informationsfluss haben auch Menschen, die an Schnittstellen zwischen dem Entstehen der Information und ihrer Weitergabe arbeiten. Über die hohe Verantwortung von Presse- und Medienvertretern wird in diesem Zusammenhang viel diskutiert. Demgegenüber tritt die Tatsache zurück, dass sich auch Bibliothekare an einer Schnittstelle der Macht befinden, deren Wirkungsmächtigkeit nicht zu unterschätzen ist. Von ihren Fähigkeiten, von ihren Kenntnissen und von der Ausstattung ihrer Bibliothek kann es unter anderem abhängen, ob der Informationssuchende die von ihm gewünschte Information tatsächlich erhält, und zwar komplett und rasch.

Die Möglichkeit, Menschen schnell und sicher an Informationen heranzuführen oder sie davon auszuschließen, haben Bibliothekare früher noch in weit höherem Maße gehabt. Wir erinnern uns an Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose", in dem es dem Bibliothekar Jorge gelingt, den Zugang zu Aristoteles' drittem Buch aus ideologischen Gründen zu verhindern. Aus der Geschichte einer alten deutschen Bibliothek ist bekannt, wie gestrenge Oberbibliothekare auf verdeckte Weise zunächst die "Wissenschaftlichkeit" eines Besuchers prüften, ehe sie ihm den Zugang zu bestimmten alten Drucken ermöglichten. Diese Einstellung eines "Königs auf dem Hafersack" ist heute vereinzelt noch bei Bibliotheksverantwortlichen zu beobachten, die die Konkurrenzmuster einer Universitätslaufbahn in dienstleistungsfixierten Bibliotheken zur Anwendung bringen.

Wir können dieses Ver- oder Behinderungsverhalten auch beobachten, wenn die Benutzung älterer Bestände trotz vorsichtiger und den Regeln der Buchschonung entsprechender Behandlung dadurch unterbunden wird, dass gegenüber dem relativ wehrlosen Benutzer völlig überzogene konservierungstechnische Argumente ins Feld geführt werden.

Doch dergleichen hat in unseren Zeiten als Ausnahme, wenn auch als sehr unangenehme, zu gelten. Der heutige Bibliothekar und Informationsdienstleister sieht es als seine größte Pflicht und sein schönstes Vergnügen an, jedem Bürger den Zugang zu Informationen jeder Art und zu jeder Zeit zu ermöglichen. Damit kommt ihm eine wichtige vermittelnde Rolle bei der Ausübung des Grundrechtes auf Informationsfreiheit zu. Dieses aber ist eines der fundamentalen Menschenrechte. Es gehört zum Kerngehalt dieses Rechtes, dass jedem Bürger, unabhängig von seinen Vermögensverhältnissen oder seiner Herkunft, die Möglichkeit geboten wird, sich in selbstbestimmter Auswahl vom Inhalt aller veröffentlichten Publikationen, gleichgültig in welcher physikalischen Form sie auf den Markt kommen, Kenntnis zu verschaffen. Uneingeschränkte Informationsfreiheit ist die Voraussetzung für die Freiheit der Meinungsbildung, was wiederum die Voraussetzung ist für das Grund- und Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung.

Vor diesem Hintergrund sollten wir Bibliothekarinnen und Bibliothekare, Informationsdienstleisterinnen und Informationsdienstleister uns gelegentlich daran erinnern, welch wunderbaren Beruf wir haben, nicht weil wir in der Lage sind Macht auszuüben, sondern weil wir durch unsere Arbeit zur nachhaltigen Sicherung moderner freiheitlicher Gesellschaften beitragen dürfen.

Im Jahr 2004, in dem wir des 225. Geburtstages eines Großen unter unseren Vorgängern gedenken, scheint es angemessen, dass man diesen Kämpfer für Meinungs- und Informationsfreiheit mit einer Erinnerung an seine, bibliothekspolitisch gesehen heute nicht mehr ganz korrekten "Parabel" ehrt.

Gotthold Ephraim Lessing, geboren 1729 in Kamenz, von 1746 bis 1748 Student in Leipzig: