Bücherregale als Teil des Tragwerks
von Rainer Fisch
Am 22. März 1914 wurde das Gebäude der Staatbibliothek zu Berlin, Unter den Linden, nach 11jähriger Bauzeit durch Kaiser Wilhelm II. feierlich eröffnet. Während die Außenansichten sowie die dem Besucherverkehr zugänglichen Repräsentationsräume noch ganz einer wilhelminischen Architektursprache verhaftet waren, wählte man bei der Einrichtung der Magazinbereiche eine hochmoderne selbsttragende Stahlskelett-Konstruktion. Von außen nicht ablesbar, hatte man hinter den durch Risaliten und Wandpilastern reich gegliederten Straßenfassaden ein stählernes Regalsystem - das so genannte Lipmansystem - installiert. Jetzt wird im Zuge der Grundinstandsetzung und Erweiterung der Staatsbibliothek seine Standsicherheit überprüft, Kriegsschäden und fehlerhafte Reparaturen beseitigt sowie die komplette Konstruktion restauriert.
Historischer Rückblick
![]() Schnitt durch die Büchergeschosse.
Eine Zeichnung der Preußischen Bau- und Finanzdirektion von 1928. |
![]() Das in Nutzung befindliche Lipmansystem.
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![]() Abhängung des 6. Büchergeschosses von
den Hauptträgern der Basisgeschossdecke. |
Beim Neubau der Universitätsbibliothek in Straßburg im Jahre 1889 wurde zum ersten Mal ein stählernes Regalsystem verwendet, das eine neue Periode des Bibliothekbaus einleitete. Benannt nach seinem Konstrukteur, dem Straßburger Kunstschlosser Robert Lipman, veränderte diese Erfindung das Gesicht der Büchermagazine grundlegend. Nahezu alle deutschen Bibliotheken und Archive, die zwischen 1890 und 1915 errichtet wurden, stattete man mit diesem Regalsystem aus: zum Beispiel die Universitätsbibliotheken in Jena, Tübingen, Gießen, Göttingen, Erlangen, Freiburg und Münster, die Technischen Hochschulen in Berlin, Breslau, Danzig, Stuttgart, Karlsruhe, München und Darmstadt sowie das Kammergericht, das Preußische Geheime Staatsarchiv und das Auswärtige Amt in Berlin.
Während die Universitätsbibliothek in Straßburg lediglich stählerne in den Raum gestellte Regale aufwies, ging man beim Neubau der Universitätsbibliothek in Marburg 1897 zum ersten Mal in Deutschland dazu über, die Stützen der Regale auch als statischen Bestandteil der Gebäude-Konstruktion zu nutzen. Die Bücherlasten wurden nicht mehr wie bis dahin üblich über die einzelnen Geschossdecken abgetragen, sondern direkt mit Hilfe der durchlaufenden Stützen des Regalsystems weitergeleitet. Das Büchergestell wurde so zum integralen Element der Gebäude-Konstruktion.
Bevor man beim Neubau der "Königlichen Bibliothek zu Berlin" dieser neuen Technik den Vorzug gab, testete man alle bekannten Magazinsysteme. Ausschlaggebend für die Verwendung des Lipmansystems war nicht zuletzt sein geringes Eigengewicht, welches den schwierigen Baugrund entlastete. Entscheidend hierbei war, dass die Geschossdecken nicht mehr massiv ausgebildet werden mussten. Sie konnten wie die Regalböden einfach in das Stahlskelett eingehangen werden. Die damals übliche Deckenstärke von 2430 cm reduzierte man auf diese Weise auf 57 cm, was sowohl eine Materialersparnis als auch geringere ständige Lasten hervorrief.
Neben diesen beiden Faktoren werden in einer Druckschrift der Lieferanten des Lipmansystems, der Wolf Netter & Jacobi-Werke aus Berlin, als weitere Vorteile gegenüber herkömmlichen Holzregalen die "unbegrenzte Lebensdauer (Stahl ist unverwüstlich)", die "Verwendung nicht brennbarer Baustoffe (Stahl ist feuerhemmend)", die "Verwendung hygienischer Baustoffe (Stahl ist leicht zu säubern)" sowie der "Zutritt von Luft und Licht (dumpfe Luft schadet Büchern)" benannt (1).
Ein modular aufgebautes und flexibles System
Der Umstand der guten Belichtung ist vielleicht der einzige Aspekt, der heute anders gesehen wird. Geradezu revolutionär ist jedoch die gute Raumausnutzung, die durch das neue System erreicht wurde. Die Geschosshöhe orientiert sich an der ohne Hilfsmittel erreichbaren Griffhöhe eines Menschen. Durch die Verwendung von Zahnleisten können die Regalböden beliebig den Bücherhöhen angepasst werden. Die Aufstellung von Büchern verschiedenster Höhe ist so innerhalb eines Regalsegments problemlos möglich.
Der Einsatz unterschiedlich tiefer Gefachböden reagiert auf Folio- sowie Oktavbände und gewährleistet einen flexiblen Gebrauch. Durch die Ausführung der Seitenbleche und Regalböden in Stahlblech wird die Aufstellungsfläche der Bücher nicht unnötig reduziert. Da es sich um ein modulares System handelt, sind Einzelteile jederzeit auswechselbar. Dies ermöglicht sowohl eine unkomplizierte Wartung als auch eine mühelose Anpassung an geänderte Nutzungsforderungen. Umbauten oder Erweiterungen eines bestehenden Systems sind so jederzeit möglich. Sonderbauteile wie Treppen und Galerien können ergänzt werden.
Das Lipmansystem besteht aus schlanken Stahlstützen, die über zwei bzw. drei Geschosse reichen und als Stiele bezeichnet werden. Sie setzen sich aus zwei miteinander vernieteten U-Profilen mit dazwischen eingespannten Zahnleisten zusammen. An ihren Knotenpunkten sind diese Stiele stumpf gestoßen. Der Abstand der Stiele zueinander beträgt 1,0 m. Dadurch ergibt sich ein einheitliches Maß für die Regalböden. Zwischenwände und Seitenteile sind nicht vorhanden.
In die Zahnleisten der Stiele können die Regalböden aus Stahlblech leicht eingehangen werden. Auch das Verstellen eines voll beladenen Regalbodens ist durch leichtes Anheben ohne Probleme möglich. Durch das Eigengewicht klinkt der Boden, nachdem man ihn los gelassen hat, an der gewünschten Stelle wieder in die Zahnleiste des Pfostens ein. Der unterste Regalboden, das so genannte Bodenblech, bildet den Abschluss gegenüber den anderen Geschossen. Es ist durch Seitenbleche verstärkt. Zwischen die beiden U-Profile der Stiele ist horizontal ein T-Träger eingespannt. In ihm liegen als verlorene Schalung Blechkassetten, auf die eine ca. 5 cm starke Beton- bzw. Holzestrichfüllung sowie ein Bodenbelag aufgebracht ist. Dieser Bereich zwischen den Bodenblechen bildet den Laufgang für die Magazin-Mitarbeiter.
Bei der Staatsbibliothek zu Berlin wählte man einen Regalreihenabstand von 1,85 m. Dadurch entstand ein gerastertes Tragwerk mit einem Rastermaß von 1,0 x 1,85 m. Die Büchergeschosshöhe von 2,20 m übertrug man beim Neubau der Staatsbibliothek als Grundraster auch auf alle anderen Etagen. So betragen die Raumhöhen der repräsentativen Bereiche ein Vielfaches dieses Maßes. Insgesamt zählt man auf diese Weise 13 so genannte Büchergeschosse (BG). Die selbsttragende Stahlregalkonstruktion beginnt erst mit dem siebten BG. Sie ist auf die massive Basisgeschossdecke mit Stahlvollwandträgern bzw. Fachwerkträgern im Abstand von 1,85 m aufgesattelt, was dem Regalreihenabstand entspricht.
Die von Außenwand zu Außenwand durchgehenden Hauptträger nehmen die gesamte, durch die Stiele abgeleitete Last des 7.13. Büchergeschosses inklusive der Dachkonstruktion auf. Außerdem ist das 6. BG einschließlich seines Geschossbodens an diesen Trägern abgehangen. Das 6. BG zeichnet sich als einziges Büchergeschoss deutlich in Form eines klassischen Mezzaningeschosses in den Straßenfassaden ab. Die Fensteranordnung der Hoffassaden hingegen folgt der Geschossaufteilung der Büchergeschosse.
Arbeiten zum Erhalt der Konstruktion
Im Jahr 2011, zum 350. Geburtstag der ehemals "Churfürstlichen Bibliothek zu Cölln an der Spree", soll die Grundinstandsetzung und Erweiterung der Staatsbibliothek zu Berlin abgeschlossen sein. Neben der Errichtung des neuen zentralen Lesesaals und der Sanierung des historischen Gebäudes wird auch das Lipmanregalsystem in neuem Glanz erstrahlen. Dafür wird seine Standsicherheit überprüft, Kriegsschäden und fehlerhafte Reparaturen beseitigt sowie die komplette Konstruktion restauriert. Mechanisch beschädigte Stiele werden ausgetauscht, die Schraubverbindungen kontrolliert und wenn notwendig instand gesetzt. Zusätzliche Verstärkungslaschen im Bereich der geschädigten Seitenbleche sollen die Sicherung des Lasteintrags in die Hauptträgerebene gewährleisten. Die über mehrere Geschosse durchlaufenden Stiele, die im Bereich der Decke über dem 9. und 11. BG lediglich auf Druck gestoßen sind, werden saniert. Das Umrüsten der Knotenpunkte über dem 11. BG als Zugstöße soll ein plötzliches Versagen der gesamten Konstruktion verhindern. Durch die neue Zugkopplung ist es möglich, Lastanteile in die Dachdecke einzutragen und dort auf benachbarte Stiele zu verteilen.
Für diese Lastumleitung ist es notwendig, die Dachdecke einschließlich der Schrägdachbereiche mit Hilfe von Spritzbeton zu verstärken. Auch die bauteiltrennenden Brandbekämpfungswände werden mit Spritzbeton aufgerüstet und die durch mehrere Bauteile ragenden waagerechten Konstruktionsteile aus brandschutztechnischen Gründen getrennt. In der Ebene über der Basisgeschossdecke werden zusätzliche Stahlrohre zur Versteifung der Konstruktion zwischen die Stiele geschraubt. Da die Beton-, teilweise auch die Holzestrichauflagen auf den Blechen zwischen den Buchregalen unter dem Linoleumbelag zerbröselt sind, ist ein Austausch der gesamten Laufgänge unumgänglich. Auch die seitlichen Anschlüsse des Lipmansystems an die Außenwände müssen aus statischen Gründen erneuert werden. Die Schaffung von Magazinarbeitsplätzen sowie die Herstellung von Deckendurchbrüchen für die Erneuerung der Haustechnik erfordert ein weiteres Eingreifen in die bestehende Konstruktion.
Bei der denkmalgerechten Sanierung folgt man dem ursprünglichen Prinzip eines modularen Systems. Dort, wo die Möglichkeit besteht, werden ausgebaute Originalteile wiederverwendet. Fehlende Elemente wie Stiele, Boden- und Seitenbleche sowie Regalböden werden nach historischem Vorbild nachgebaut und gegebenenfalls ergänzt. Die neuen Bauteile zur Verstärkung des Tragwerks werden durch Schraubverbindungen mit der historischen Konstruktion verbunden.
Einhundert Jahre nach seiner Errichtung erfüllt des Lipmansystem noch immer auf hervorragende Weise die Anforderungen, die an ein modernes Büchermagazin gestellt werden. Seine Nachhaltigkeit, ein in den heutigen Architekturdiskursen häufig verwendeter Begriff, hat diese Konstruktion damit bewiesen.
Literatur
(1) Archivanlagen und Bibliotheksbauten. System Lipman. Prospekt der Wolf Netter & Jacobi-Werke. Berlin: um 1930. S. 8
(2) Fuhlrott,Rolf: Lipmangestell. In: Lexikon des gesamten Buchwesen. LGB² Bd.4, S.559-560. - Stuttgart: Hiersamenn 1995
Zum Autor
Dipl.-Ing. Rainer Fisch ist Architekt und arbeitet beim Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. Dort ist er bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz für die denkmalpflegerischen Belange der Baumaßnahmen der Staatsbibliothek zu Berlin zuständig.
Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung
Samoastraße 12
D-13353 Berlin
E-Mail: rainer.fisch@gmx.de