Der Leibniz-Briefwechsel der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek
in Hannover gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe


Leibniz im UNESCO-Weltdokumentenerbe
15.000 Briefe von und an Leibniz
Der Leibniz-Nachlass
Der Universalgelehrte
Das Memory of the World-Programm der UNESCO

von Georg Ruppelt

Leibniz im UNESCO-Weltdokumentenerbe

Groß war der Jubel, als in Hannover die Pressemitteilung der Deutschen UNESCO-Kommission vom 15. Juni 2007 bekannt wurde, in der es hieß: "Das Internationale Beraterkomitee (International Advisory Committee) für das UNESCO-Programm ,Memory of the World' hat auf seiner 8. Sitzung vom 11. bis 15. Juni 2007 in Pretoria, Südafrika, über Neueinträge in das UNESCO-Register des Weltdokumentenerbes entschieden. Aus Deutschland wurde der Briefwechsel des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz neu in das Weltregister der UNESCO aufgenommen."

Die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek wie ihre zahlreichen Kooperationspartner waren von der Nachricht ebenso begeistert wie die hannoversche und niedersächsische Öffentlichkeit. Die Regionalzeitungen berichteten auf der ersten Seite, die überregionalen wie die internationalen Medien meist in den Kultur- oder Wissenschaftsteilen. Endlich, so lautete auch der Tenor zahlreicher Glückwunsch-Adressen aus aller Welt, die in der Bibliothek eingingen, werde der für viele Wissenschaften so grundlegende Universalgelehrte auch in der internationalen Öffentlichkeit in seiner Bedeutung bewusst wahrgenommen.

Nun wird im Herbst 2007 der Generaldirektor der UNESCO abschließend über die Neueinträge in das Memory of the World Register (MoW) entscheiden. In Hannover wird die Übergabe der Urkunde voraussichtlich im Plenarsaal des Niedersächsischen Landtages im Rahmen einer Festveranstaltung erfolgen.

Die Vorbereitungen für die Beantragung auf Aufnahme hatten im Sommer 2003 begonnen. Der Direktor der Niedersächsischen Landesbibliothek (seit Januar 2005 heißt sie Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek), dessen Anliegen es seit seinem Dienstantritt 2002 war, Leibniz wieder in das Bewusstsein auch einer breiteren Öffentlichkeit zu heben, bat schließlich die Deutsche UNESCO-Kommission in Bonn mit einer ausführlichen Begründung, sie möge den Leibniz-Briefwechsel zur Aufnahme in das Weltdokumentenerbe vorschlagen. Voller Freude wurde dann im März 2006 auch von der Presse die Nachricht aus der Deutschen UNESCO-Kommission aufgenommen, derzufolge die Kommission eben diesen Antrag gestellt hatte.

15.000 Briefe von und an Leibniz

Der Briefwechsel des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) stellt ein einzigartiges Zeugnis der europäischen Gelehrtenrepublik im Übergang vom Barock zur frühen Aufklärung dar. Er umfasst mit rund 15.000 Briefen an 1.100 Korrespondenten alle wichtigen Bereiche der Wissenschaften. Die Bedeutung der Korrespondenz liegt in ihrem weltumspannenden Themenspektrum. Sie spiegelt das Hineinwachsen Russlands nach Europa in der Zeit Zar Peters I. ebenso wie den Kulturaustausch mit China wider. Der Briefwechsel stellt ein Gründungsdokument der europäischen Moderne dar und markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung von Technik und Denken der Zeit. Zugleich steht er für die Suche nach der Verbindung westlicher Wissenschaft mit fernöstlicher Denkweise. Leibniz etablierte ein weltweites Korrespondentennetz, das Hannover zu einem Mittelpunkt der wissenschaftlichen Gemeinschaft machte.

Der Leibniz-Nachlass

Der Nachlass Leibniz', der sich in der nach ihm benannten Bibliothek in Hannover befindet, dürfte einer der umfangreichsten und wohl vielseitigsten Nachlässe überhaupt sein. Er ist in seltener Geschlossenheit überliefert, da er unmittelbar nach Leibniz' Tod vom englischen König Georg I. beschlagnahmt wurde, um zu verhindern, dass eventuelle politische Interna (u. a. im Zusammenhang mit der englischen Thronfolge des Welfenhauses) in die Öffentlichkeit gelangen könnten. Der Nachlass umfasst rund 50.000 Stücke in etwa 200.000 Blättern, darunter die genannten Briefe. Zum Nachlass gehört auch seine Vier-Spezies-Rechenmaschine. Sie wurde Ende des 17. Jahrhunderts nach Leibniz' Plänen gebaut und ist die erste funktionstüchtige Rechenmaschine, die alle vier Grundrechenarten ausführen kann. Es ist das einzige erhaltene Exemplar von insgesamt vier Modellen. Der Nachlass dieses letzten Universalwissenschaftlers ist von einzigartiger Bedeutung für die Geistes-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte Europas und der Welt.

Ein großer Teil des Nachlasses ist bisher unveröffentlicht. An der Veröffentlichung wird unter der Ägide der Göttinger und der Berlin-Brandenburgischen Akademien der Wissenschaften in Hannover, Münster, Berlin und Potsdam gearbeitet. Die größte Editionsstelle, das so genannte "Leibniz-Archiv", ist eine Abteilung der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek.

Eine Besonderheit des Leibniz-Nachlasses ist darin zu sehen, dass Leibniz schreibend gedacht hat; der Entstehungsprozess seiner Gedanken wird im Nachlass dokumentiert. Leibniz hat - weder in der Philosophie noch in einem der anderen Wissenschaftsgebiete - ein Hauptwerk im eigentlichen Sinne veröffentlicht; seine Bemerkung gegenüber einem Briefpartner "Wer mich nur aus meinen veröffentlichten Schriften kennt, kennt mich nicht" bestätigt, dass der Nachlass selbst sein Hauptwerk darstellt.

Der Universalgelehrte

Leibniz' Denken bildet gewissermaßen die Drehscheibe, mit der das Denken des Mittelalters und der Antike in die europäische Neuzeit vermittelt wird; sein Einfluss auf Wissenschaft und Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist kaum zu überschätzen. Mit der Entwicklung der Differential- und Integralrechnung (unabhängig von und gleichzeitig mit Newton) leistete Leibniz einen entscheidenden Beitrag zur Grundlegung unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation. In seinen historischen Arbeiten entwickelte Leibniz die Methoden, Kriterien und Paradigmen quellenkritischer Geschichtsforschung. Als Philosoph zielte Leibniz auf die gedankliche Verbindung des neuen naturwissenschaftlichen Denkens mit den moralischen Fragen der Menschheit. Das Individuum steht im Mittelpunkt seiner Philosophie, und die Natur soll wissenschaftlich erforscht und technisch genutzt, aber doch in ihrem Eigenwert respektiert werden. Der für Leibniz so typische Geist der Harmonie und der Integration widerstreitender Perspektiven kommt nicht nur in seiner Philosophie, sondern auch in seinen Bemühungen um die Vereinigung der christlichen Konfessionen zum Ausdruck. Über die Grenzen der einzelnen Fächer hinaus ist Leibniz eine zentrale Gestalt der "scientific community"; er propagierte und lebte den Wissenstransfer.

Das Memory of the World-Programm der UNESCO

Die Eintragung in das Weltdokumentenerbe ist freilich nicht nur eine Anerkennung der Bedeutung des Leibnizschen Briefwechsels und der Arbeit der Bibliothek. Es ist auch eine Verpflichtung im Sinne des UNESCO-Programmes. Diese hat 1992 das Programm zum Erhalt des dokumentarischen Erbes der Menschheit ins Leben gerufen. Mit dem Weltdokumentenerbe soll ein universelles digitales Netzwerk mit ausgewählten herausragenden Dokumenten geschaffen werden: wertvolle Buchbestände, Handschriften, Partituren, Unikate, Bild-, Ton- und Filmdokumente. Das Programm verfolgt drei Hauptziele: Erhalt des Weltdokumentenerbes mit den geeigneten Techniken; dies kann durch direkte praktische Hilfe, Information, Beratung und Förderung der Aus- und Fortbildung geschehen.

Allgemeiner Zugang zum dokumentarischen Erbe; dies beinhaltet die Förderung von digitalisierten Kopien und Katalogen im Internet sowie von Veröffentlichungen und deren Verbreitung. Öffentlicher Zugang in physischer, digitaler oder anderer Form soll stark gefördert werden. Weltweit soll das Bewusstsein für die Bedeutung und Bedrohung des dokumentarischen Erbes gestärkt werden. Schutz und Zugang sollen sich gegenseitig ergänzen: Zugang verstärkt das Bewusstsein für die Dringlichkeit des Erhalts und Schutzes des dokumentarischen Erbes.

Über die Aufnahme von Dokumenten in das Weltregister entscheidet ein internationales Beraterkomitee (International Advisory Commitee; IAC), dessen 14 Mitglieder vom UNESCO-Generaldirektor ad personam berufen werden. Das IAC trifft sich alle zwei Jahre. Zwischen den Sitzungen überwacht das IAC-Büro die Umsetzung des Programms und übernimmt die Vorprüfung der Anträge für das MoW-Register. Alle zwei Jahre können zwei Anträge pro Mitgliedsstaat eingereicht werden.

Deutschland ist nunmehr mit zehn Einträgen vertreten (vgl. www.unesco.de/mow-deutschland): 1999 wurden die historischen Bestände des Phonogrammarchivs bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin anerkannt. 2001 kamen hinzu: Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks um 1450 (gemeinsam aufgenommen mit der koreanischen Buchdruckerfindung von 1377), der literarische Nachlass Goethes, Beethovens 9. Sinfonie, die die Musikgeschichte nachhaltig beeinflusst hat, und Fritz Langs Stummfilmklassiker "Metropolis" von 1925/26 als filmische Umsetzung eines architektonischen Zukunftsbildes der Stadt. 2003 wurden die Reichenauer Handschriften aus ottonischer Zeit in das Register aufgenommen, 2005 dann die Hausmärchen der Brüder Grimm und als gemeinsamer amerikanisch-deutscher Beitrag die Waldseemüllerkarte von 1507 der Library of Congress, Washington. Als Gemeinschaftsnominierung mit Ungarn, Belgien, Frankreich, Italien und Österreich wurde die berühmte Renaissance-Bibliothek des Mathias Corvinus (Bibliotheca Corviniana) 2005 in das Register aufgenommen. Im Juni 2007 nun befürwortete das internationale Beraterkomitee die Aufnahme des Leibniz-Briefwechsels.

Mit der Aufnahme des Leibnizschen Briefwechsels wird gleichsam eine Forderung von Leibniz selbst weltweit anerkannt; nämlich die Forderung, Sammlungen wie Archive und Bibliotheken als Schatzkammern des Geistes einzurichten. Seine eigenen Worte über den Nutzen einer Bibliothek können gleichsam auch die Absicht des Weltdokumentenerbes der UNESCO fokussieren: "Der Nutzen einer auserlesenen Bibliothek kann nicht in Zweifel gezogen werden. Man findet darin gleichsam einen Auszug dessen, so Gott und der menschliche Verstand gewirket."


Zum Autor

Dr. Georg Ruppelt ist Direktor der Leibniz Bibliothek

Niedersächsische Landesbibliothek
Waterloostraße 8
D-30169 Hannover
E-Mail: georg.ruppelt@gwlb.de