Die Informationswissenschaft hat den Elfenbeinturm verlassen

von Marlies Ockenfeld

Das 10. Internationale Symposium für Informationswissenschaft (ISI 2007), veranstaltet vom Hochschulverband Informationswissenschaft (HI), und die 13. Jahrestagung der IuK-Initiative Wissenschaft fanden im Frühjahr 2007 zum ersten Mal gemeinsam statt, und zwar vom Mittwoch 30. Mai bis Freitag 1. Juni an der Fachhochschule Köln. Die beiden Organisationsteams aus Köln und Bonn hatten die beiden Tagungen thematisch gut aufeinander abgestimmt und ein interessantes, vielfältiges Programm mit viel Freiraum für Austausch und Diskussion zusammengestellt. Der HI hatte seinem Symposium das Motto Open Innovation. Neue Perspektiven im Kontext von Information und Wissen gegeben, die IuK-Initiative stellte sich auf ihrer 13. Jahrestagung der Frage Form folgt Funktion? Anforderungen, Wirklichkeit und Entwicklungssperspektive der Informationsversorgung in den Wissenschaften.

Prof. Dr. Marc Rittberger eröffnete als Vorsitzender des HI die Tagung und betonte, dass die Informationswissenschaft von der Fachwissenschaft Feedback zur eigenen Arbeit und dadurch neue Impulse erwarte. Der Vorsitzende der IuK Initiative Wissenschaft, Maximilian Stempfhuber wies darauf hin, dass sich die IuK-Initiative Wissenschaft inzwischen als e.V. konstituiert habe, Mitglieder können Fachgesellschaften und Einzelpersonen werden. Das Vereinsziel ist insbesondere die Fachgrenzen überschreitende Entwicklung der Informationsversorgung in der Wissenschaft durch Förderung von Informations- und Kommunikationstechniken für die Wissenschaft.

Der Rektor der Fachhochschule Köln, Prof. Dr. Joachim Metzner, begrüßte die Teilnehmer im Eugen-Schmalenbach-Hörsaal, benannt nach dem Begründer der modernen Betriebswirtschaftslehre, der in Köln gelehrt hatte. An der Fachhochschule Köln studieren etwa 20-tausend junge Leute in 50 Bachelor und 30 Masterstudiengängen. Im Institut für Informationswissenschaft der Fakultät für Informations- und Kommunikationswissenschaften betreuen 21 Professorinnen und Professoren, 32 Lehrbeauftragte sowie fünf wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter knapp 700 Studierende. Das Institut bietet bislang vier Studiengänge an: Die drei Studiengänge "Online-Redakteur", "Informationswirtschaft" und "Bibliothekswesen" mit dem Abschluss Bachelor sowie den Masterstudiengang "Bibliotheks- und Informationswissenschaft" (Master of Library and Information Science - MALIS), dem zurzeit am stärksten nachgefragten Masterstudiengang der Hochschule. Metzner lobte das Tagungsprogramm, das aus seiner Sicht wegen dreier Charakteristika außergewöhnlich sei, erstens der Offenheit für Neues, Ungewohntes, Gegensätzliches, zweitens, dass alle Beiträge auf die Praxis hin ausgelegt sind und drittens, dass es einen ungewöhnlich hohen Anteil an Beiträgen von Studierenden gebe. "Wer 'Open Innovation' sagt", meinte er abschließend, "ist dabei, den Elfenbeinturm zu verlassen und die Tür hinter sich zuzuschlagen."

Den Eröffnungsvortrag "Form folgt Funktion? Informationsversorgung in der Wissenschaft" hielt Prof. Dr. Ulf Rehmann auf Einladung der IuK-Initiative Wissenschaft. Der Mathematiker ist seit fast dreißig Jahren Bibliotheksbeauftragter an der Universität Bielefeld. Am Beispiel der Mathematik erläuterte er den neuen Traum einer jederzeit und überall verfügbaren Bibliothek von Alexandria. Seiner Schätzung nach umfasst die gesamte Fachliteratur der Mathematik seit 1445 insgesamt etwa 60 Millionen Seiten. Diese Menge ließe sich retrievalfähig auf einer Platte von einem Terabyte speichern, eine Kapazität, die in einigen Jahren auf einem Notebook verfügbar sein dürfte und damit jedem Mathematiker rund um die Uhr zur Verfügung stehen könnte. Die Digital Mathematics Library (DML) enthält bereits Links zu 2249 digitalisierten Büchern (> 515.650 Seiten) und zu 223 digitalisierten Zeitschriften und Tagungsbänden (> 4.051.328 Seiten). Anhand von Zeitreihen erläuterte er die bekannte Preisentwicklung wichtiger Fachzeitschriften, was unter anderem dazu geführt hat, dass der Fachbereich Mathematik/Informatik der Universität Münster beschlossen hat, mit Wirkung Januar 2008 sämtliche Elsevier-Zeitschriften abzubestellen.

Er appellierte an die Kooperationsbereitschaft zwischen Bibliotheken und Wissenschaftlern, um gemeinsam mit neuen Methoden und Techniken die Informationsversorgung der Wissenschaft sicherzustellen. Die den Vortrag begleitende Präsentation ist unter www.math.uni-bielefeld.de/~rehmann/KOELN_2007/ verfügbar.

Erwartungsgemäß spielten die aktuellen Themen Open Access, unkomplizierter Zugang zur Information, standardisierte Zugriffsmöglichkeiten und Techniken zur einfachen Weiterverarbeitung von Daten und Informationen in den Sitzungen beider Konferenzen eine zentrale Rolle. Neue Arbeitsformen in der Wissenschaft und die durch neue Webtechnologien veränderte wissenschaftliche, fachliche und allgemeine Kommunikation führen dazu, dass herkömmliche Methoden der Informationserschließung und -verbreitung und ihre eingeführten Institutionen zunehmend in Frage gestellt werden. Es wird spannend sein, zu beobachten, ob das Zusammenwirken von Informationswissenschaft und Fachwissenschaft in den kommenden Jahren zu Lösungen und Kooperationen führt, die den herkömmlichen Marktteilnehmern den wirtschaftlichen Boden entziehen.

Da der umfangreiche Tagungsband (518 Seiten, 49 Beiträge), herausgegeben von Achim Oßwald als Hauptorganisator der Tagung, Christian Wolff als Vorsitzender des Programmkomitees der ISI 2007 und Maximilian Stempfhuber als Vorsitzender des Programmkomitees der IuK 2007, seit Beginn der Tagungen gedruckt vorliegt1 und außerdem die Abstracts bereits auf der Tagungswebsite (www.iuk2007.de) online verfügbar sind, sei hier nur auf einige wenige Beiträge hingewiesen. Die Volltexte werden in absehbarer Zeit ebenfalls online verfügbar gemacht.

Mit der ISI selbst befasste sich anlässlich der jubiläumsverdächtigen 10. Veranstaltung Christian Schlögl, indem er die Ergebnisse einer scientometrischen Analyse der bisher erschienenen Tagungsbände vorstellte. Sein Fazit: International ist die ISI primär nur für den deutschsprachigen Raum, ein Drittel der Autoren kommt aus Deutschland und 81 Prozent der Beiträge sind in Deutsch verfasst. Doch ist die zitierte Literatur durchaus international, immerhin 57 Prozent der zitierten Literatur verweist auf englische Quellen. Es handelt sich auch zweifelsfrei um ein wissenschaftliches Symposium, denn 57 Prozent der Autoren kamen von Universitäten. Allerdings werden die Bände kaum zitiert, was aber auch beispielsweise für die Tagungsbände der ASIST gilt. Der Anteil von Beiträgen aus Fachhochschulen war in der Vergangenheit mit nur sechs Prozent sehr gering. Außerdem gibt es eine Reihe von Stammautoren, die aus einem eher kleinen Kreis kommen. Vor allem hier sieht Schlögl Handlungsbedarf, künftig weitere Hochschulinstitute einzubinden.

Drei Mitarbeiter der Fachhochschule Potsdam bzw. vom Informationszentrum für Informationswissenschaft und -praxis suchten während der Tagung den Austausch über das Projekt "Wissenschaftsportal b2i - Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaften" (http://b2i.fh-potsdam.de). Sie interessierte, welche ersten Erfahrungen und Verbesserungs­wünsche bezüglich der Recherche im Portal die auf der Tagung anwesenden Informationswissenschaftler, immerhin eine der zentralen Zielgruppen des Portals, haben.

Viele Fragen drehten sich direkt um den aktuellen Projektstand bzw. die Projektfortführung ohne den Projektpartner SUB Göttingen. Die Niedersächsische Staats- und Universitäts­bibliothek in Göttingen gibt das Sondersammelgebiet "Buch-, Bibliotheks- und Informationswesen" zum Ende des Jahres 2007 ab. Die Virtuellen Fachbibliotheken sind naturgemäß an die Sondersammelgebietsbibliotheken gebunden und damit gilt es für die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein neues "Zuhause" sowohl für das Sondersammelgebiet als auch das Projekt "Wissenschaftsportal b2i" zu finden. Sowohl die Poster-Präsentation als auch das Projekt selbst bekamen recht positives Echo, wobei von den meisten Interessenten auf Module hingewiesen wurde, die dem Projekt fehlen oder die wünschenswert wären.

Markus Kattenbeck stellte die Ergebnisse eines an der Universität Regensburg durchgeführten Vergleichs zwischen der deutschen Wikipedia und dem Großen Brockhaus vor. Dabei wurden die Qualitätskriterien Thematische Abdeckung. Umfang und Vollständigkeit der Artikel, Themenverteilung, Informationelle Absicherung durch Quellenangaben sowie Korrektheit von Interpunktion und Orthographie betrachtet. Es zeigte sich, dass die Wikipedia inzwischen erheblich an Qualität gewonnen hat, wenngleich die redaktionelle Sorgfalt des Großen Brockhaus weiterhin unerreicht bleibt.

Christine Krätzsch von der Universitätsbibliothek Mannheim berichtete über erste noch wenig ergiebige Erfahrungen mit dem DFG-Projekt "Weblogs als Steuerungsinstrument in Hochschulbibliotheken". Die Idee ist, den Benutzern die Möglichkeit zu eröffnen, im Online-Katalog der Bibliothek zu Werken, die ihnen besonders gefallen oder missfallen haben, kleine Besprechungen zu hinterlassen. So soll ein Dialog zwischen der Universitätsbibliothek und ihren Benutzern angestoßen werden und die Fachreferenten sollen erfahren, was die Benutzer interessiert. Eingebettet ist das Projekt in ein umfassendes Marketingkonzept, mit dem die Bibliothek eine stärkere Benutzerbindung und einen effizienten Personaleinsatz erreichen möchte. Bisher hinterlassen die Benutzer jedoch kaum Spuren im Katalog.

Informationskompetenz als Schlüsselqualifikation und ihre Vermittlung an Otto Normalstudent standen auch in Köln auf der Agenda. Was in den 1970er Jahren als Benutzerschulung zaghaft an den Universitäten Fuß fasste und in den 1980ern in einigen Pflichtpraktika - etwa im Fortgeschrittenenstudiengang Chemie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main - als Literaturrecherche in Datenbanken (CAS) verankert wurde, hat den Durchbruch noch immer nicht geschafft. Christian Wolff von der Universität Regensburg erläuterte anhand eines Posters die erfolgversprechende curriculare Zusammenarbeit von Universitätsbibliothek, Informationswissenschaft und Medieninformatik mit dem Ziel der Verankerung von Informationskompetenz als Nebenfach im Rahmen der Studiengänge der philosophischen Fakultät in Regensburg.


Der Gesellschaftsabend fand im Kölner Schokoladenmuseum statt und bot reichlich Gelegenheit zum Gedankenaustausch und zum Feiern

Sabrina Lehnerer von der Universität Regensburg erhält für ihre Magisterarbeit "Wissensorganisation in der Online-Enzyklopädie Wikipedia" den Gerhard-Lustig-Preis 2007 vom Laudator und diesjährige Sponsor des Preises, Prof. Dr. Matthias Groß (Institut für Informationswissenschaft der FH Köln und Geschäftsführer der insigma IT Engineering GmbH)

Der Vorstand des HI: (von links) Achim Oßwald, Christian Schlögl, Hanna Knäusl, Marc Rittberger, Josef Herget, Rainer Hammwöhner, Christa Womser-Hacker, Christian Wolff (nicht im Bild Rainer Kuhlen)

Besonderen Wert legten die Veranstalter auf die Einbeziehung des akademischen Nachwuchses. So fand für die etwa hundert studentischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern erstmals ein umfangreiches studentisches Programm innerhalb der Gesamtveranstaltung statt, das vom HI-Vorstandsmitglied Hanna Knäusel organisiert wurde. Neben vier Sitzungen im Rahmen der Tagung gab es einen studentischen Abend zum Kennenlernen und zum Austausch über die Erfahrungen an den verschiedenen Studienstandorten und -schwerpunkten sowie in der Mittagspause am Donnerstag Posterpräsentationen.

Die dreizehn Aussteller, die auf der Galerie rings um den Treppenaufgang des Hauptgebäudes ihre Stände aufgebaut hatten, konnten sich während der vortragsfreien Zeiten über rege Nachfrage und fachkundige Besucher freuen. Dies hatten die Veranstalter nicht zuletzt dadurch erreicht, dass sie in unmittelbarer Nähe die Kaffeestationen für die Pausen aufgebaut hatten. Die Posterpräsentation - Präsenszeit war genau in der Mittagspause von 12:30 bis 14:30 Uhr - fand in dem Raum statt, in der zum Mittag die Gulasch- und Kartoffelsuppe ausgegeben wurde, so dass auch hier sichergestellt war, dass die Präsentationen, bei denen u.a. informationswissenschaftliche Doktoranden ihre Ergebnisse zur Diskussion stellten, erfreulich große Beachtung fanden und die Mittagspause von angeregten Fachgesprächen begleitet wurde.

Gerhard-Lustig-Preis 2007 verliehen

Beim Gesellschaftsabend im Kölner Schokoladenmuseum wurde am Donnerstagabend der mit 1000 Euro dotierte Gerhard-Lustig-Preis für die beste informationswissenschaftliche Abschlussarbeit der Jahre 2005 bis 2007 aus dem deutschsprachigen Raum verliehen. Nominiert werden die Abschlussarbeiten jeweils von den Professoren, die die Arbeit betreut hatten und die dann auch gemeinsam die Jury bilden. Diesmal hatten sieben Hochschulen aus Österreich, der Schweiz und Deutschland Absolventinnen und Absolventen ihrer informationswissenschaftlichen Studiengänge für den Gerhard-Lustig-Preis nominiert, die auf der Tagung in zwei Sitzungen präsentiert worden waren:

Bei der Auswahl der Preisträger berücksichtigte die Jury den Innovationsgehalt der Arbeit und den kritischen Umgang mit Methoden und Quellen, besonders aber auch die Qualität der Präsentation vor dem Tagungspublikum. Die Jury entschied:

Bei der Preisverleihung hoben der Vorsitzende der Jury, Prof. Dr. Rainer Hammwöhner, sowie der Laudator und diesjährige Sponsor des Preises, Prof. Dr. Matthias Groß (Institut für Informationswissenschaft der FH Köln und Geschäftsführer der insigma IT Engineering GmbH), das qualitativ hohe Niveau der eingereichten Arbeiten hervor. Bereits die Nominierung durch die Hochschule sei eine ausgesprochene Ehre.

Vorstandswahl des HI

Während des Symposiums veranstaltet der HI stets seine Mitgliederversammlung, bei der die Vorstandswahl erfolgt. Gewählt wurden Prof. Dr. Marc Rittberger (Hochschule Darmstadt) als Vorsitzender, Prof. Dr. Christian Wolff (Uni Regensburg) als 1. stellvertretender Vorsitzender und Schatzmeister sowie Prof. Dr. Christa Womser-Hacker (Uni Hildesheim) als 2. Stellvertreterin und Schriftführerin. Als weitere Vorstandsmitglieder wurden gewählt Prof. Dr. Josef Herget, (HTW Chur), Prof. Dr. Rainer Kuhlen (Uni Konstanz), Prof. Dr. Achim Oßwald (FH Köln), Prof. Dr. Rainer Hammwöhner (Uni Regensburg), Prof. Dr. Christian Schlög (Uni Graz) und Hanna Knäusl, Studentin der Uni Regensburg.

Das 11. Internationale Symposium für Informationswissenschaft soll 2009 in Konstanz stattfinden.


Zur Autorin

Marlies Ockenfeld

Viktoriaplatz 8
64293 Darmstadt


Anmerkung

1. Achim Oßwald, Maximilian Stempfhuber, Christian Wolff (Hrsg.): Open Innovation. Neue Perspektiven im Kontext von Information und Wissen. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2007 (Schriften zur Informationswissenschaft : 46). 518 S. ISBN 978-3-86764-020-6, EUR 54,-