Zeitgeschichte  
Verbrannte und verfemte Bücher - Merkwürdigkeiten aus der Zensurgeschichte

„Seit Bücher geschrieben werden, werden Bücher verbrannt. [...] Die Geschichte des Geistes und des Glaubens ist zugleich die Geschichte des Ungeistes und des Aberglaubens. Die Geschichte der Literatur und der Kunst ist zugleich eine Geschichte des Hasses und des Neides. Die Geschichte der Freiheit ist, im gleichen Atem, die Geschichte ihrer Unterdrückung [...]. Das blutige Rot der Scheiterhaufen ist immergrün.“

Mit diesen Sätzen wies Erich Kästner auf der Hamburger PEN-Tagung 25 Jahre nach den nationalsozialistischen Bücherverbrennungen darauf hin, dass die Geschichte der Literatur auch die Geschichte ihrer Unterdrückung ist. Die Praxis, Texte zu zensieren und zu vernichten, oder diejenigen zu verfolgen, die sie geschrieben, gedruckt, verlegt oder auch nur gelesen haben, gehört zu den dunkelsten Seiten der Kulturgeschichte der Menschheit. Die erste literarisch bezeugte Bücherverbrennung im Abendland (auch aus dem alten China sind Bücherverbrennungen bezeugt) fand im 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen statt. Dort wurden Schriften des bedeutenden Sophisten Protagoras (480 bis 410 v. Chr.) verbrannt, weil er in einer seiner Schriften die Existenz von Göttern bezweifelt hatte.

Mit diesem frühen überlieferten Fall von Bücherverbrennung ist einer der Hauptgründe für Maßnahmen gegen Literatur benannt, nämlich Zensur aus religiösen Gründen. Im Wesentlichen lassen sich drei Gründe für Zensurmaßnahmen in der Geschichte anführen. Zensur wird ausgeübt

  • gegen Schriften, die (tatsächlich oder vermeintlich) den religiösen Vorstellungen von Machtträgern entgegenstehen;
  • gegen Texte, die (tatsächlich oder vermeintlich) den Vorstellungen von Staat und Politik widersprechen;
  • aus moralisch-sittlichen oder vorgeblich moralischen Gründen.

Man kann drei grundlegende Funktionen von literarischer Zensur unterscheiden:

  • Zensur als Kontrolle der Entstehung literarischer Produktionen. Dabei erstrecken sich die Sanktionen auf den Autor und auf die Auslöschung seines Geistesprodukts.
  • Zensur als Kontrolle der literarischen Distribution. Diese zielt auf die Multiplikatoren (Drucker, Verleger, Händler und Bibliothekare).
  • Zensur als Kontrolle der literarischen Aufnahme. Hier werden die Leser ins Visier genommen, um missliebigem Gedankengut entgegenzutreten und seine weitere Verbreitung zu verhindern.

Maßnahmen gegen Autoren

Um ihre Ziele zu erreichen, bedient sich die Zensur verschiedener Instrumente. Für die Funktion, die als erste genannt wurde – Zensur zielt auf die Entstehung von Texten – ist die extremste Maßnahme die Tötung des Autors. Er wird auf diese Weise an der Produktion von Texten gehindert, die der staatlichen oder religiösen Macht als gefährlich gelten. In vergangenen Jahrhunderten konnte dies im Rahmen bestehenden Rechts oder auch durch Lynchjustiz geschehen. Der Fall Salman Rushdie zeigt in unserer Gegenwart auch den Versuch, einen Autor mit terroristischen Mitteln, also Mord, zu eliminieren.

Ein gegen den Autor gerichtetes Mittel ist auch das zum Verstummen bringen durch Polizeimaßnahmen, im 20. Jahrhundert in Deutschland vielfach angewandt zur Zeit des „Dritten Reiches“ (Konzentrationslager) oder durch Einweisung in psychiatrische Anstalten, wie in der Sowjetunion. Beides sind Beispiele für Gewaltanwendung gegen die Person des Autors.

„Bibliotheksäuberungen“

Seit dem Aufkommen kommerzieller Leihbibliotheken im 18. Jahrhundert haben sich öffentlich zugängliche Bibliotheken der besonderen Aufmerksamkeit der staatlichen Macht erfreut. So kam es bei politischen Umbrüchen immer wieder zu umfassenden Säuberungen von Bibliotheken mit Hilfe von Index- und Aussonderungslisten. Dies betraf etwa im nationalsozialistischen Deutschland vor allem die Öffentlichen Bibliotheken, weniger die wissenschaftlichen. In letzteren wurde missliebige oder als gefährlich geltende Literatur meist in so genannte Giftkammern oder Giftschränke gestellt, die nur mit offizieller Erlaubnis und nachgewiesenem wissenschaftlichen Interesse dem Benutzer zugänglich waren.

Religiöse Zensur

Im Rahmen der großen Christenverfolgungen unter Kaiser Diocletian (um 300) wurden nicht nur christliche Kirchen und Versammlungsorte zerstört, sondern auch gottesdienstliche Bücher konfisziert und verbrannt. Freilich wurden wie zu allen Zeiten auch damals Bücher versteckt und fleißig abgeschrieben. Offenbar hat man in jener Zeit für diese Zwecke die leichter handhabbare Codexform für Bücher gewählt, also die Form, die wir heute gemeinhin als Buch bezeichnen. Die in der Antike und im östlichen Teil der Welt noch viele Jahrhunderte übliche Form der Papyrusrollen eignete sich dazu anscheinend weniger. Die berühmten Bibliotheken von Alexandria, das Museion und das Serapeion, besaßen wohl 740.000 dieser Buchrollen.

Nach der Eroberung von Alexandria im Jahre 640 n. Chr. soll Kalif Omar die Verbrennung der Reste der Serapeionsbibliothek veranlasst haben. Er habe dies mit der Begründung getan, dass der Inhalt dieser Bücher entweder mit dem Koran übereinstimme oder ihm entgegengesetzt sei; wenn er aber mit ihm übereinstimme, so soll er geäußert haben, seien sie wertlos, da der Koran selbst genüge, und wenn sie ihm entgegengesetzt seien, so seien sie verderblich und müssten erst recht vernichtet werden.

Das Christentum übernahm, kaum dass es Anfang des vierten Jahrhunderts als Religion anerkannt worden war, die früher gegen es selbst verwandten Mittel nunmehr gegen heidnische Literatur, gegen Häretiker und im Laufe der Jahrhunderte auch immer wieder gegen den Talmud. Aber auch das heilige Buch der Christenheit selbst, die Bibel, fiel gelegentlich unter das Verdikt.

In Deutschland existieren heute noch zwei Handschriften der Bibelübersetzung von John Wycliff aus dem 14. Jahrhundert. Es handelt sich dabei um die erste vollständige Übersetzung der Bibel aus der Vulgata ins Mittelenglische. Das Werk erhielt Bedeutung durch die Forderung Wycliffs und seiner Anhänger, die Autorität der Bibel höher zu setzen als die Autorität der Kirche. Jeder sollte das Recht haben, die Bibel zu lesen. Dies war neu und ist erst gut 100 Jahre später von den Reformatoren wieder aufgegriffen worden. Die Antwort der Kirche auf die Wycliff-Bibel und ihre Propagandisten war eindeutig: 1409 wird vom Erzbischof von Canterbury der Besitz der übersetzten Bibel oder ihrer Teile, ja aller theologischen Schriften in englischer Sprache, verboten. Unterdessen war aber eine stattliche Zahl von Bibeln im Umlauf. Ein weitaus schlimmeres Schicksal ereilte William Tyndale 1536. Er hatte Teile des Neuen Testamentes in englischer Sprache drucken lassen, musste auf den Kontinent fliehen, wurde gefasst und in Belgien auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Dass Martin Luther und die Reformatoren im 16. und den darauf folgenden Jahrhunderten von Zensurmaßnahmen der römisch-katholischen Kirche reichlich bedacht wurden, ist bekannt. In einem Passus des Wormser Ediktes von 1521 heißt es, dass Luthers Schriften niemand kaufe, verkaufe, lese, abschreibe, drucke oder abschreiben oder drucken lasse. Jeder wurde ermahnt, „alle Schriften und Bücher Luthers mit dem Feuer zu verbrennen und auf diese Weise gänzlich abzutun, zu vernichten, zu vertilgen“. Aber auch die Werke des friedlichen, jedem Extremismus abholden und allseits geschätzten Erasmus von Rotterdam fielen den Zensurmaßnahmen zum Opfer. Die Zahl der Erasmus-Verbote ist groß, in der Erstauflage des Index wurden sämtliche Werke des Erasmus mit schärferen Worten verdammt als die Werke Luthers oder Calvins.

Lessing

Schriftsteller an der Produktion von Texten zu hindern, gelang auch durch Schreibverbote. Ein berühmtes Beispiel bietet Gotthold Ephraim Lessing. Herzog Carl von Braunschweig entzog dem Bibliothekar der Wolfenbütteler Bibliothek 1778 die sechs Jahre zuvor erteilte Zensurfreiheit und verbot ihm kurz darauf überhaupt, die Religion betreffende Texte ohne vorherige Genehmigung drucken zu lassen. Anlass war der so genannte Fragmentenstreit, in dem sich Lessing kritisch mit der protestantischen Orthodoxie in Hamburg auseinandergesetzt hatte. Dieses Verbot ist damit – wenn man so will – letztendlich verantwortlich für eines der wichtigsten Werke der deutschen Literatur, nämlich „Nathan den Weisen“. Lessing schrieb am 6. September 1778 in einem Brief an seine Freundin Elise Reimarus: „Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.“ Wie ungleich größer aber war doch die Wirkung des „Nathan“ im Vergleich zu Lessings polemischen Schriften!

Ein sehr erfolgreiches Mittel der Zensur, missliebige Autoren am Publizieren zu hindern, war und ist das Berufsverbot – eine Maßnahme, die weitaus effektiver sein kann als die Einzelzensur. Eines der wirkungs- und schmachvollsten Beispiele bietet die Reichsschrifttumskammer im nationalsozialistischen Deutschland. Nur wer Mitglied der Reichsschrifttumskammer war, hatte Zugang zum literarischen Markt und durfte publizieren. Autoren, Verleger und Buchhändler wurden auf ihre „erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung“ geprüft. Autoren oder Buchdistributoren, die aus politischen oder rassistischen Gründen abgelehnt wurden, konnten so auf Dauer am Publizieren gehindert werden.

Palm

Ein tragisches Beispiel für eine Maßnahme gegen einen Distributor von Texten bietet der Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm. Palm musste für seine Agitation gegen Napoleon mit dem Leben bezahlen. In einer anonymen Broschüre mit dem Titel „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“, die bei Palm 1806 in erster Auflage und einen Monat später schon in einer zweiten Auflage erschien, wurde gegen die französische Fremdherrschaft zu Felde gezogen. Der Autor (vermutlich Philipp Christian Gottlieb Yelin) war von den Franzosen nicht zu ermitteln, aber Anzeichen wiesen auf Nürnberg als Druckort und Palm als Verleger hin. Palm wurde verhaftet und am 26. August 1806 in Braunau am Inn erschossen.

Freilich konnte auch in ganz „normalen Zeiten“ der Vertrieb durch eine restriktive Auslegung des Gewerberechtes behindert werden. Der Konzessionszwang, der im deutschen Buchhandel bis 1872 galt, erlaubte es nur demjenigen Bücher zu drucken und verbreiten zu lassen, der die polizeiliche Zulassung erlangt und behalten hatte. – Ein Mittel, Bücher aus dem Ausland nicht an die Leser des eigenen Landes gelangen zu lassen, ist die Beschlagnahmung durch Zollbehörden.

Heine

Wenn von Zensur im Allgemeinen geredet wird, ist häufig damit die „Vorzensur“ gemeint. Amtlich bestellten Zensoren müssen Manuskripte oder Druckfahnen vorgelegt werden. Erst wenn diese sie freigeben, gegebenenfalls mit Änderungs- oder Eliminierungsauflagen, können die Texte zum Druck gelangen. Besonders Zeitungen wurden im 19. Jahrhundert von diesem Verfahren behindert. Berüchtigt waren die sogenannten „Karlsbader Beschlüsse“ mit ihren Bestimmungen über die Freiheit der Presse von 1819, die bis 1848 für alle deutschen Bundesstaaten galten. Neben der Nachzensur wurde hier die Vorzensur für alle Regierungen bindend vorgeschrieben, und zwar für alle Bücher mit weniger als 20 Bogen Umfang und für Zeitschriften. Zunächst gingen die oft in letzter Minute vorgenommenen Zensurstriche tatsächlich als Striche mit in den Druck.

Berühmt ist Heinrich Heines listige vorgetäuschte Zensurmaßnahme. Auf einer Seite des zweiten Teiles seiner „Reisebilder“ finden sich außer der Kapitelnennung nur vier deutsche Wörter. Oben heißt es nach einer Reihe von Zensurstrichen „die deutschen Censoren“, dann folgen wieder Zensurstriche, danach folgt das Wort „Dummköpfe“ und schließlich wieder Zensurstriche.

Schubart

Welch tiefe Angst geistig und zeitlich voneinander weit entfernt liegende Machthaber vor dem gedruckten Wort offenbarten, belegen die beiden folgenden vorgestellten Fälle aus dem 18. und 20. Jahrhundert.

Ein weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gewordener Zensurfall mit bösen Folgen für den Autor betraf die „Deutsche Chronik“, eine literarisch-politische Zeitschrift Christian Friedrich Daniel Schubarts. Dieser Fall von Zugriff auf einen Autor im Jahre 1777 ist als einer der ungeheuerlichsten im Deutschland des 18. Jahrhunderts bezeichnet worden. Weil Herzog Karl Eugen von Württemberg den außer Landes weilenden Schubart nicht belangen konnte, ließ er ihn unter einem Vorwand auf herzoglich-württembergischen Boden locken und verhaften. Schubart wurde ohne Gerichtsverfahren auf den Hohenasperg verbracht, wo er zehn Jahre lang die Tortur der Einzelhaft zu erleiden hatte. Schubart widersetzte sich insgeheim; er schrieb in der Haft u. a. „Die Fürstengruft“, zahlreiche Gedichte gegen die Fürstenherrschaft. In seiner ebenfalls in der Haft entstandenen Autobiographie berichtet er: „Ich hatte kein Buch, kein Papier, keine Schreibtafel, keine Feder, keinen Bleistift, keinen polirten Nagel – und habe doch diese meine Lebensbeschreibung verfertigt. Denn mir zu Seite lag ein Mitgefangener, der mehr Freiheiten hatte, als ich: ihm diktirte ich dies mein Leben durch eine dicke Wand in die Feder. Da mir das Schreiben aufs strengste verboten war; so verbarg ich dies mein Leben mehrere Jahre unter dem Boden, wo es beinahe vermoderte.“

Schiller

Schiller ist dem Schicksal seines Landsmannes wohl nur knapp entgangen. Zu seinen Lebzeiten, aber auch im 19. und 20. Jahrhundert wurden nahezu alle Stücke Schillers durch Zensureingriffe regelmäßig verhunzt. Angeblich Revolutionäres wurde vor allem in den „Räubern“ beseitigt. Während der Regierungszeit des Kaisers Franz (1792-1835) musste die Frage des Räubers Schweizer an seinen Kollegen Roller „Franz heißt die Canaille?“ gestrichen werden. In keiner Wiener Aufführung war die Frage zu hören. Der Zensor meinte, dies könne als Anspielung auf seine Majestät, den Kaiser, genommen werden.

In den ersten Jahren nach 1933 wurde Schillers „Wilhelm Tell“ als National- und Führerdrama in Deutschland hoch geschätzt. Hitler hatte für das achte Kapitel von „Mein Kampf“ die Überschrift „Der Starke ist am mächtigsten allein“ aus dem „Tell“ gewählt. 1934 wurde der Film „Wilhelm Tell“ („frei nach Schiller“) uraufgeführt. Am 20. April 1938 wurde der „Tell“ im Wiener Burgtheater als „Festvorstellung zum Geburtstag des Führers“ mit großem Pomp und Aufgebot gegeben.

Damit war es gegen Ende des Jahres 1941 vorbei. Am 3. Juni 1941 verließ eine streng vertrauliche und von Reichsleiter Martin Bormann unterzeichnete Anweisung das Führerhauptquartier:

„Der Führer wünscht, dass Schillers Schauspiel ‘Wilhelm Tell’ nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird. Ich bitte Sie, hiervon vertraulich Herrn Reichsminister Rust und Herrn Reichsminister Dr. Goebbels zu verständigen.“ Was aber waren die Gründe, die den Diktator veranlassten, gegen ein fast 140 Jahre altes Schauspiel so rigoros einzuschreiten? Einige Indizien sprechen dafür, dass es wohl vornehmlich zwei Beweggründe für das Verbot gab, nämlich Angst vor einem Mordanschlag und der Hass des Diktators auf die Schweiz.

Die Frage des Tyrannenmordes ist in Schillers Schauspiel zugunsten der moralisch berechtigten Tötung eines Tyrannen entschieden worden, so dass Hitler, der zu Recht um seine persönliche Sicherheit sehr besorgt war, sich durch Tell-Nachahmer bedroht fühlen konnte. Ein Hinweis darauf findet sich in einer Äußerung Hitlers, die im Zusammenhang längerer Ausführungen über die deutsche Kaisergeschichte fällt. In einem Tischgespräch am Abend des 4. Februar 1942 klagte der Diktator:

„Wir haben nur ein Unglück: daß wir bisher nicht den Dramatiker gefunden haben, der in die deutsche Kaisergeschichte hineingeht. Ausgerechnet Schiller mußte diesen Schweizer Heckenschützen verherrlichen. Die Engländer haben ihren Shakespeare, dabei haben sie in ihrer Geschichte doch nur Wüteriche oder Nullen.“

Hinzu kommt der tragische Fall eines damals aktuellen „Schweizer Heckenschützen“. Der schweizerische Theologiestudent Maurice Bavaud hatte 1938 mehrfach versucht, Hitler zu töten. Er wurde entdeckt, verhaftet und 1939 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 18. Mai 1941 vollstreckt. Die Hinrichtung Bavauds und die Verbotsanordnung Bormanns vom 3. Juni 1941 stehen in enger zeitliche Nachbarschaft. Einen Tag zuvor, also am 2. Juni 1941, hatte sich Hitler bei einer Unterredung am Brenner gegenüber Mussolini in Hasstiraden gegen die Schweiz ergangen: „Die Schweiz bezeichnete der Führer als das widerwärtigste und erbärmlichste Volk und Staatengebilde. Die Schweizer seien die Todfeinde des neuen Deutschland …“.

Im „Wilhelm Tell“ Friedrich Schillers wurden in den Augen Hitlers Unternehmungen verherrlicht, die den eigenen Zielen, nämlich u. a. „Heimholung“ aller ehemaligen Reichsgebiete ins Reich, genau entgegengesetzt waren. Bis auf einen Staat mit deutschsprachigem Bevölkerungsanteil in der Mitte Kontinentaleuropas war dieses Vorhaben im Sommer 1941 schon durchgeführt. In der Schweiz, die sich an allen Landesgrenzen mit dem kriegerischen Potential der Achsenmächte konfrontiert sah, war Wilhelm Tell schon vor dem Krieg zu einer Symbolfigur für den Behauptungswillen gegenüber dem Reich geworden. Im Jahr 1941, in dem der „Tell“ in Deutschland verboten wurde, feierte die Schweiz den 650. Jahrestag der Gründung der Eidgenossenschaft, von dem man in Deutschland von offizieller Seite keine Notiz nahm.

Insgeheim wurde in Deutschland aber die Invasion vorbereitet. Durch Klaus Urners Buch von 1991 mit dem alles sagenden Titel „Die Schweiz muss noch geschluckt werden! Hitlers Aktionspläne gegen die Schweiz“ weiß man jetzt, was 1940/41 geplant wurde. Noch zwei Jahre später kommt der Hass Hitlers auf die Schweiz überdeutlich zum Ausdruck. Unter dem 8. Mai 1943 notierte Goebbels in sein Tagebuch: „Der Führer verteidigt in diesem Zusammenhang die Politik Karls des Großen. Auch seine Methoden sind richtig gewesen. Es ist gänzlich falsch, ihn als Sachsenschlächter anzugreifen. Wer gibt dem Führer die Garantie, daß er später nicht etwa einmal als Schweizerschlächter angeprangert wird! Auch Österreich mußte ja zum Reich gebracht werden.“

Das Verbot des „Wilhelm Tell“ durch Adolf Hitler ist ein extremes Beispiel für mögliche Wirkungen von Literatur in die praktische Politik.

Papierzuteilung und Indices

Ein effektives Mittel, die Produktion von Verlagen zu steuern, bietet in Planwirtschaften die Papierbewirtschaftung. Unter dem Hinweis der Papierknappheit wurden im nationalsozialistischen Deutschland seit 1936 die Verlage gezwungen, sich Papierkontingente bewilligen zu lassen. In der DDR wurde bereits 1951 das Amt für Literatur und Verlagswesen gegründet. Dieses konnte Verlagslizenzen genehmigen oder verweigern. Es bewertete alle eingereichten Manuskripte und teilte die Papierkontingente zu.

Eines der bekanntesten Mittel, die Verbreitung und Rezeption literarischer Texte zu verhindern oder wenigstens einzudämmen, ist die Indizierung, also die Erstellung von Listen verbotener Bücher. Der berühmteste Index ist der der römisch-katholischen Kirche, der 1559 zum ersten Mal erschien und dessen Wirkung erst 1967 außer Kraft gesetzt wurde. Angedroht wurde bei Lektüre der darin aufgeführten Titel die Exkommunikation, der Leser aber sollte beim Lesen eines dieser Bücher eine Todsünde begangen haben. Listen verbotener Bücher gibt es aber auch in Ländern, in denen Zensur – wie es im deutschen Grundgesetz heißt – nicht stattfindet. Diese Listen dienen vor allem dem Zwecke des Jugendschutzes. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, 1954 in der Bundesrepublik Deutschland gegründet, indizierte vor allem Schriften obszönen oder pornographischen Inhaltes – oder was man in diesen Jahren dafür hielt.

Ad usum delphini

Die Herausgabe gereinigter Fassungen ist eine wesentlich moderatere Zensur-Maßnahme gegen Texte. Es sei z. B. an Jugendbücher mit dem Eindruck „ad usum delphini“ erinnert, was ursprünglich nichts anderes bedeutete, als dass diese Ausgaben für den französischen Thronfolger, den Dauphin, gedacht waren. Ludwig XIV. ließ von dem Theologen Bossuet und dem Philosophen und Lehrer des Dauphin, Huet, eine Ausgabe der antiken Klassiker unter Weglassung der anstößigen Stellen besorgen. In diesen Zusammenhang gehört auch das Einschwärzen von Textpassagen – ein Verfahren, das auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus noch üblich war, etwa wenn in einem Straf- oder Zivilprozess das Gericht auf Unterlassung bestimmter Aussagen in einem Buch entschied, der Text aber bereits gedruckt worden war.

Fanny Hill und Josefine Mutzenbacher

In der heutigen Zeit ist es kaum vorstellbar, in welchem Ausmaße bis vor wenigen Jahrzehnten Literatur erotischen Inhaltes als unzüchtig galt und „zum Schutze der Jugend“ verboten wurde. Es sei hier nur an zwei berühmte Fälle erinnert.

John Clelands Roman „Die Memoiren der Fanny Hill“ wurde 1964 in der Bundesrepublik beschlagnahmt und erst 1969 nach langem Prozessieren freigegeben. Der Roman ist zwar hocherotisch, enthält aber nicht ein obszönes Wort und scheint von der Botschaft her gesehen durchaus moralisch: Ein harmloses Mädchen vom Lande gerät in ein Bordell und erlebt einiges, wird aber schließlich vor der Laufbahn als Dirne gerettet, weil ihr Geliebter wieder auftaucht und sie heiratet. Zur Freigabe des Werkes in New York 1963 bemerkte der Richter: „Während die Geschichte von Fanny Hill zweifellos nie Rotkäppchen als beliebte Gute-Nacht-Geschichte ersetzen wird, ist es durchaus möglich, daß Fanny wahrscheinlich viele Dinge sehen würde, die sie erröten lassen würde, würde sie aus ihrer georgianischen Umgeung in der Mitte des 18. Jahrhunderts in unsere heutige Gesellschaft versetzt.“

1990 wurde in Deutschland ein Prozess um die Herausgabe des Buches „Josefine Mutzenbacher geführt. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt.“ beendet. Das Buch, das dem vor allem durch „Bambi“ bekannt gewordenen Schriftsteller Felix Salten zugeschrieben wird, war 1969 weit verbreitet und frei verkäuflich. Das bei Rowohlt als Taschenbuch erschienene Werk wurde 1982 von der Bundesprüfstelle indiziert. Die Einsprüche des Rowohlt-Verlages wurden abgewiesen. In seinem Plädoyer vor dem Bundesverfassungsgericht erklärte der damalige Rowohlt-Verleger Michael Naumann: „Eine empirische Untersuchung, eine Fallstudie auch nur eines ‘sozial-ethisch desorientierten Jugendlichen’, der sich aufgrund der Lektüre von Josefine Mutzenbacher deviant verhalten hat, existiert nicht, obwohl das Buch schon seit 80 Jahren gedruckt vorliegt und gewiß eine Auflage von über 3 Millionen erreicht hat.“ Erst 1990 wurde das Buch wieder freigegeben.

Micky Maus und „Hoch auf dem gelben Wagen“

Autoritäre Staaten sind allergisch gegen manche Texte aus dem „Club der toten Dichter und Denker“, und sie sind sich darin sehr ähnlich, seien sie links- oder rechtsgestrickt. So ließ etwa die Sowjetunion 1928 sämtliche Werke Kants verbieten. Im Spanien Francos wurden 1939 die Werke „entarteter“ Schriftsteller entfernt, so auch die des deutschen Philosophen Kant. Doch es gibt auch Zensurmaßnahmen gegen weniger Schwergewichtiges, wie etwa Walt Disneys Micky Maus; hier zwei Beispiele, die Anne Lyon Haight (Verbotene Bücher, 1956) mitteilt:

Belgrad 1937: Eine der Micky-Maus-Geschichten schildert, wie Verschwörer einen jungen König stürzen und einen Schwindler auf den Thron setzen wollen. Zufällig führte in dieser Zeit gerade ein Regentschaftsrat unter Führung des Prinzen Paul die Regierungsgeschicke in Serbien für den noch minderjährigen König Peter. Micky Maus wurde verboten. Rom 1938: Das Amt für Jugendliteratur teilt dem Verleger mit, dass die Micky Maus „unvereinbar mit der italienischen Einstellung zum Rassenproblem und mit dem imperialen und faschistischen Pathos der Ära Mussolini“ sei.

Auch Volkslieder können unter gewissen Aspekten der Staatsmacht als gefährlich erscheinen. Das 19. Jahrhundert kennt eine Reihe von Beispielen. Aber auch wenn sie von den falschen Leuten gesungen werden, ansonsten aber harmlos sind, kann es zu Verboten führen, wie ein Beispiel aus der DDR zeigt. Wolfgang Kienast berichtete 1991: „Es gab auf dem einschlägigen Sektor ausgesprochene Kuriosa. Herr Dutombé, Abteilungsleiter der TV-Reihen ‘Polizeiruf 110/Der Staatsanwalt hat das Wort’ strich ein bereits angenommenes Drehbuch aus dem Produktionsplan, weil ich mich weigerte, das Lied ‘Hoch auf dem gelben Wagen’ auszuwechseln. Begründung: Dieses Lied hat ein Bundespräsident in anderen Kanälen populär gemacht!“ (Ausstellungsbuch. Zensur in der DDR. Literaturhaus Berlin.)

Gutenberg und Internet

Eingangs wurde bemerkt, dass die Geschichte von Zensur auch die Geschichte ihrer Überwindung sei. Schon im Zeitalter der Handschriften war es schwierig, alle Abschriften eines verbotenen Textes aufzuspüren, um ihn zu vernichten. Fast aussichtslos waren diese Maßnahmen dann nach der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts. Denn nun war es im Prinzip möglich, unbegrenzt Texte zu vervielfältigen, und wenn auch die Zensurmaßnahmen bestimmte Texte für eine Weile unterdrücken konnten, so überlebten sie meist in einzelnen Exemplaren und kamen nach Jahren oder Jahrzehnten wieder zum Vorschein.

In unserer Zeit erleben wir ein ähnliches Phänomen, allerdings in einem unvergleichlich größeren Ausmaß. Das Internet macht eine effektive, geschweige denn absolut erfolgreiche Zensur unmöglich. Freilich ist auch anzumerken, dass jede Benutzung des Internets – anders als die Buchlektüre – Spuren hinterlässt und dass im Extremfall die Gefahr besteht, dass der Nutzer für die Wahrnehmung oder auch nur das Lesen von Internetangeboten verfolgt und haftbar gemacht werden kann.

Der Zensur zum Trotz

Das über Jahrhunderte hinweg probateste Mittel, Autoren, Verleger und Drucker von verbotener Literatur vor der staatlichen oder kirchlichen Macht zu schützen, war es, eine Schrift anonym oder unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen. Beliebt waren auch fingierte Druckorte oder Verlagsnamen. Auch der Druck im Ausland und das Einschmuggeln verbotener Literatur in die Verbotsländer hat lange Tradition. Der Aufschwung des Druckwesens in Holland im 17. Jahrhundert beispielsweise gründete zum großen Teil auf der Zensurpraxis in anderen Staaten. Der Ideenreichtum, wie im Laufe der Jahrhunderte geschmuggelt worden ist, würde Bände füllen. Hier sei auf einige Beispiele aus dem 20. Jahrhundert hingewiesen.

Tarnschriften

In der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt und Leipzig, in der Staatsbibliothek zu Berlin und in verschiedenen Instituten in Deutschland, den Niederlanden, USA, England und Frankreich werden so genannte Tarnschriften gesammelt, die während der nationalsozialistischen Zeit in das Deutsche Reich geschleust wurden. Eine kleine, aber durchaus repräsentative Sammlung, besitzt die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover, die dazu mehrere Ausstellungen gezeigt und einiges publiziert hat.

Unter Tarnschriften versteht man Druckerzeugnisse, die zwischen harmlosen, unverfänglichen Umschlagdeckeln und einem fingierten Impressum Texte gegen die Nazidiktatur enthielten. Wo Goethe drauf stand, war nicht immer Goethe drin. Berühmt ist zum Beispiel die Tarnschrift von der „Kunst des Selbstrasierens“. Das ist eine nur fünf mal sieben Zentimeter große Mini-Broschüre, die Rasierapparaten zur Unterweisung in der Kunst des Rasierens beigelegt wurde. Innen aber enthielt die angebliche Gebrauchsanweisung mit Werbeeinlagen das Partei-Programm der Exil-SPD.

Nachdem die Widerstandsgruppierungen in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft vor allem in Deutschland hektographierte oder im Kleinoffset-Verfahren hergestellte Schriften verteilten, ging man später dazu über, Tarnschriften mit aufwendigeren Drucktechniken im Ausland zu produzieren. Dabei wurde der Umschlag eines gängigen Titels faksimiliert, bald wurden auch noch Titelblatt und Anfangs- und Schlussseiten originalgetreu nachgebildet. In der Mitte aber befand sich der subversive Text. Häufig wurden diese Schriften dann noch auf fotomechanischem Wege verkleinert und im Dünndruck hergestellt, um sie etwa in Tee- oder Filmtüten nach Deutschland einschmuggeln zu können.

Die Inhalte des getarnten Schrifttums entsprachen den politischen Intentionen der jeweiligen kommunistischen, sozialdemokratischen oder katholischen Gruppierung. Die Schriften wollten über geheim gehaltene Vorgänge im „Dritten Reich“ aufklären oder über Aktivitäten der verschiedensten Exilgruppen, über Veranstaltungen und Manifeste informieren. Auch literarische Texte mit politischer Intention wurden abgedruckt – kurz: alle diese Schriften dienten dem Kampf gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime.

Der Porzellanhund

Über eine verbale Technik, die Zensur zu überlisten und vom Staat unerwünschte Inhalte an die Leser zu bringen, berichtet Joachim Seyppel in dem oben erwähnten Band über Literaturzensur in der DDR. Er nennt diese Technik den Porzellanhund: „Der Porzellanhund war so beschaffen, daß man eine Sache derart in der Darstellung übertrieb, daß sie beim Zensor keine Chance hatte. Aber um diese Sache ging es einem gar nicht. Die Sache, um die es einem ging, war anderswo dargestellt, doch nicht derart übertrieben. Kam nun Lektor, Verlagsleiter oder Frau Borst vom Ministerium für Kultur, eine liebenswerte, hübsche Zensorin, und sagte, diese Sache sei ja derart übertrieben, daß sie im Manuskript gestrichen werden müsse, raufte man sich das Haar, tobte, erklärte, dann könne das ganze Buch nicht erscheinen, und drohte mit Mitteilung an die Westpresse. Das brachte die hübsche, liebenswerte, blonde Frau Borst in Rage, nun war sie es, die drohte, und am Ende einigten sich die beiden Seiten, daß diese maßlos übertriebene Darstellung gestrichen werden würde – und sonst nichts! Der eingebaute ‘Porzellanhund’ war zerschmissen worden, dazu war er ja auch da, und die Stelle um die es einem eigentlich ging, war gerettet.“

Poetische Camouflage

1991 ging ein Vorfall durch die Weltpresse, welcher der chinesischen Regierung außerordentlich peinlich war. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. April 1991 berichtete:

„PEKING, 2. April. Die Tagung des Nationalen Volkskongresses, die den Pekingern normalerweise nicht mehr als ein Gähnen abnötigt, hat in diesem Jahr eine komische Note. Auf den Gesichtern, in denen sonst nur Resignation gegenüber Politik und Propaganda zu erkennen ist, zuckt ein Lachen, wenn der Name des Ministers Li Peng erwähnt wird, und es folgt die Frage ‚Haben Sie es auch schon gelesen?’

‚Es’ ist ein Gedicht, das die Überseeausgabe der ‚Volkszeitung’ am ersten Tag des Volkskongresses druckte. In dem mit ‚Frühling’ betitelten Gedicht hat der Autor eine politische Botschaft versteckt. Liest man das Gedicht entlang der Diagonale von rechts oben nach links unten, so steht da ‚Li Peng soll zurücktreten, um den Zorn des Volkes zu beschwichtigen’. Nach uralter chinesischer Literaturmanier wird hier dem Ministerpräsidenten, der das Massaker im Juni 1989 zu verantworten hat, eine Ohrfeige versetzt, die in ihrer Publikumswirksamkeit kaum zu überschätzen ist. Nicht nur hat sich in China die Botschaft in Windeseile verbreitet, die Volkszeitung wird auch in allen chinesischen Gemeinden außerhalb Chinas verbreitet. Auf der ganzen Welt kann man das lesen, freut sich ein Pekinger Student.“

Verbotener Katalog verbotener Bücher

Verbote reizen dazu, diese zu übertreten. Dies gilt auch für die Literatur. Zensurmaßnahmen können sogar geeignet sein, ein Werk zu adeln oder seine Verbreitung zu fördern. Wie lautet doch der schöne Goethe-Vers:

„Eines wird mich verdrießen für meine lieben Gedichtchen:

Wenn sie die W. [iener]- Zensur durch ihr Verbot nicht bekränzt.“

Ein Katalog verbotener Bücher kann ein gesuchter Führer zu Literatur werden, die aus politischen, religiösen oder moralischen Gründen verfemt ist. So wurde der österreichische „Catalogus librorum prohibitorum“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem der von Sammlern und Liebhabern am meisten geschätzten Bücher. Die Anzeige eines Buches in diesem Werk war ein Qualitätsmerkmal und für viele Händler und Käufer eine Empfehlung; mit den indizierten Büchern, aber auch mit dem Katalog selbst ließ sich viel Geld verdienen.

Die Behörden, welche die Katalogverbreitung sehr begünstigt hatten, mussten schließlich einsehen, dass er den Absichten der Zensurhofkommission entgegenwirkte. So kam es zu dem kuriosen Fall, dass der Katalog der verbotenen Bücher 1777 selbst auf den Index gesetzt wurde. Lichtenbergs Wunsch, dass „das Buch, das in der Welt am ersten verboten zu werden verdiente, ein Katalogus von verbotenen Büchern“ wäre, war damit Wirklichkeit geworden.

Nachtrag
Vor 70 Jahren: Kommunistenführer in VW-Scheinwerfern?

Nicht direkt zum Thema Zensur, aber durchaus zum Bereich Übermittlung subversiver Informationen in der Zeit des „Dritten Reiches“ gehört ein merkwürdiges Dokument, das, soweit der Verfasser sieht, bisher noch nicht untersucht worden ist. Es sei hier erwähnt mit der Bitte an die Leser, sich bei dem Verfasser zu melden, falls jemand von ähnlichen Nachrichten Kenntnis hat. Wie eben schon erwähnt, besitzt die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover eine kleine repräsentative Sammlung von Tarnschriften aus der Zeit zwischen 1933 und 1945.

Ausstellungen dieser Schriften in Hannover, das dazugehörige Begleitheft, verschiedene Wiederholungen der Ausstellung u. a. in Hamburg, Oldenburg und in der Rijksuniversiteit Groningen führten dazu, dass der Bibliothek weitere Tarnschriften aus Privatbesitz geschenkt wurden.

Unter diesen Geschenken befand sich auch eine Ausgabe der Zeitschrift Arbeitertum. Amtliches Organ der Deutschen Arbeitsfront, einschl. NS.-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“. Auf der vorderen Umschlagseite dieses Heftes vom September 1938 ist der KdF-Wagen (der spätere Volkswagen) abgebildet; es ist ein Kabriolett. Darin strahlen zwei sitzende Herren und eine stehende Dame den Betrachter an. Die attraktive junge Frau am Beifahrersitz streckt den rechten Arm zum Gruß in die Höhe – zweifellos eine politisch motivierte Geste.

Dieses Heft wurde der Bibliothek von einem Arzt im Ruhestand aus Bochum zugesandt, der folgendes darüber berichtete. Das Heft habe seinem Vater gehört, der Arbeiter in einem Industriebetrieb im Ruhrgebiet gewesen sei. Kurz nachdem es 1938 im Betrieb verteilt worden sei, so der Arzt, sei es von der Betriebsleitung sofort wieder eingesammelt worden. Sein Vater aber hätte es behalten, hätte allerdings aus Vorsicht seinen Namenstempel auf dem Umschlag herausgerissen. (Daher stammt der dunkle Fleck unterhalb des rechten Scheinwerfers.)

Was mag der Grund für diese Aktion gewesen sein? Die Antwort, die der Bochumer Arzt mitteilt, ist verblüffend. Wenn man nämlich das Heft auf den Kopf stellt und die Scheinwerfer betrachtet, kann man zwei Porträts erahnen. Die Arbeiter damals aber hätten, so der Bochumer Arzt, diese beiden Köpfe sofort als Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht identifiziert. Die rasche „Rückrufaktion“ der Betriebsleitung wäre also auf diesen Bildschmuggel zurückzuführen.

Man fragt sich, was wohl mit dem Schriftleiter, dem Graphiker, dem Fotografen und anderen Personen geschehen ist, die an der Herstellung dieses Heftes beteiligt waren. Bekannt ist, dass die Verbreitung von nicht-systemkonformen Texten oder Bildern auf das Schwerste bestraft wurde, oft sogar mit dem Tode.

Zum Schluss bittet der Verfasser darum, diesen Beitrag auch als eine tiefe Verbeugung vor zahllosen mutigen Menschen zu verstehen, die in Zeiten totalitärer Herrschaft und Diktatur versuchten und versuchen, auf vielfältige kreative Weise Zeichen des Widerstandes gegen die Unterdrückung von Informationen zu setzen.


Autor

Dr. Georg Ruppelt
Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek -
Niedersächsische Landesbibliothek

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