Zur Archivsituation in der deutschen Großforschung

Hintergründe, Theorie, Praxis

von Maria Ludden und Rafael Ball


Abstract

1. Die Großforschung im Kontext der deutschen Forschungslandschaft
2. Anfänge historischer und archivarischer Tätigkeit
    in den Großforschungseinrichtungen

  2.1 Bewußtseinswandel und historisches Projekt

  2.2 Zur Archivsituation im Forschungszentrum Jülich

3. Nutzen und Nutzung von Archiven in Großforschungseinrichtungen

  3.1 Interne Rückfragen

  3.2 Legitimation durch Information

  3.3 Besonderheiten eines GFE-Archivs

4. Perspektiven weiterer Auswertung im Forschungszentrum Jülich


 

1. Die Großforschung im Kontext der deutschen Forschungslandschaft

Wenn man über Forschung und Wissenschaft in Deutschland spricht, gilt es ein differenziertes und vielschichtiges Bild zu beschreiben.

Wir unterscheiden drei Hauptgruppen von Wissenschafts- und Forschungsbereichen in Deutschland. Die Industrieforschung, die akademische Forschung, sowie die außeruniversitäre Forschung staatlicher Einrichtungen und von privaten Organisationen ohne Erwerbszweck.

Außeruniversitäre Forschung umfaßt zum einen die Forschungseinrichtungen auf Bundes-,Landes- und kommunaler Ebene. Hinzu kommen die privaten, wissenschaftlichen Organisationen ohne Erwerbszweck. Konkret sind hier zu nennen die Großforschungseinrichtungen und die Einrichtungen der "Blauen Liste" bzw. der Leibnitz-Gesellschaft , sowie auf privater Ebene die Institute der Max-Planck-Gesellschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft. Bei den Großforschungseinrichtungen handelt es sich um eine von Bund und Ländern gemeinsam geförderte Gruppe selbständiger Forschungseinrichtungen und Einrichtungen mit Servicefunktion.

Im Wissenschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland nehmen die mittlerweile 16 Großforschungseinrichtungen, von denen drei nach der Wiedervereinigung in den neuen Ländern gegründet wurden, ihre unverkennbare Position ein. Wenngleich sich der Begriff "Großforschung" endgültig erst in den sechziger Jahren durchsetzte, so trugen doch bereits die um 1956/57 entstandenen ersten Atomforschungsanlagen in Karlsruhe, Geesthacht und Jülich wesentliche Merkmale dieses für Deutschland neuartigen Typs institutioneller Forschung. Am Anfang seiner Entwicklung stand die internationale Genfer Atomkonferenz von 1955, die einer friedlichen Nutzung der Kernenergie den Weg ebnete und für die Bundesrepublik Deutschland das Ende der bis dahin geltenden alliierten Forschungsrestriktionen auf diesem Gebiet bedeutete. In der Folge kam es zu einer Gründungsphase außeruniversitärer, um die Kernenergie zentrierter Forschungsstätten, für die bis heute die Kombination aus staatlicher Finanzierung und privatrechtlicher Verfaßtheit charakteristisch ist. Auf diese Weise soll die Einbindung der Zentren in die staatliche Forschungssteuerung gewährleistet und ihnen zugleich ein administrativer und ökonomischer Handlungsfreiraum eingeräumt werden.

Ihrer Zielsetzung nach verfolgen die Großforschungseinrichtungen auf Grund eines planvollen Zusammenwirkens von Wissenschaft, Staat und Industrie interdisziplinäre Aufgaben von erheblicher Tragweite, die autonom weder im tradierten Hochschulrahmen, noch etwa durch die Max-Planck-Institute oder durch die freie Wirtschaft zu bewältigen wären. Den Initiatoren der deutschen Großforschungspolitik stand mit dem amerikanischen Manhattan-Projekt, das in den Bau der ersten Atombombe mündete, ein strukturelles Vorbild für die Konzentration personeller, materieller und finanzieller Mittel zur Erreichung eines extradimensionierten Ziels zur Verfügung. Anders als das amerikanische Modell verfolgte die Großforschungsoffensive der noch jungen Bundesrepublik allerdings ausschließlich friedliche Zwecke, indem sie mit der Gründung von Atomanlagen - "Reaktorstationen", wie es damals hieß - den Rückstand auf einem Forschungssektor aufzuholen versuchte, dem eine geradezu existentielle Bedeutung für das Bestehen im ökonomischen Wettstreit der führenden Industrienationen beigemessen wurde. Als die "Atomeuphorie" dann nachließ und man aufgrund eigener praktischer Erfahrungen, doch vor allem einer zunehmend kernenergiekritisch gestimmten Öffentlichkeit an die Legitimations- und Machbarkeitsgrenzen der Nukleartechnik gestoßen war, setzte gegen Ende der sechziger Jahre ein allmählicher Wandel ein.

Nun traten neben die seit 1956 entstandenen kerntechnischen Einrichtungen erstmals solche mit nichtnuklearer Ausrichtung, wie etwa die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD). Insbesondere wurde jetzt, begünstigt durch veränderte politische Rahmenbedingungen seit der Regierungsübernahme durch die sozialliberale Koalition, eine strukturelle Reform der Zentren eingeleitet, die sowohl dem Bedarf nach programmatischer Diversifizierung wie gewachsenen staatlichen Planungsansprüchen, später auch neuartigen finanzpolitischen Zwängen, gehorchte. Die zunehmende Dominanz des Hauptfinanziers Bund schärfte in der Folge die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen durch die Großforschungseinrichtungen und führte im Jahre 1970 aus einer losen Verbindung als "Arbeitsausschuß" zur Gründung der "Arbeitsgemeinschaft deutscher Großforschungseinrichtungen" (AGF). 1996 erfolgte die Umgründung in "Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren" (HGF).

Der organisatorische Zusammenschluß brachte die Identitätsbildung der Großforschungseinrichtungen zum Ausdruck und forcierte sie zugleich. Nicht zuletzt dank des Wirkens von Karl Heinz Beckurts, dem langjährigen Vorstandsvorsitzenden der Kernforschungsanlage Jülich (KFA) und Direktoriumsvorsitzenden der AGF von 1974-1976, erfuhr dieser Konsolidierungsprozeß mit dem Aufstieg der AGF in den Kreis der etablierten bundesdeutschen Wissenschaftsorganisationen seine nachhaltige Bestätigung.

2. Anfänge historischer und archivarischer Tätigkeit in den Großforschungseinrichtungen

2.1 Bewußtseinswandel und historisches Projekt

Als die Großforschungseinrichtungen gleichsam in das Establishment des Wissenschaftssystems aufgerückt waren und - nach bundesrepublikanischen Maßstäben - sukzessive in ein historisches Stadium ihrer Existenz eintraten, war ein aufkommendes Interesse an bilanzierender Rückschau und Standortbestimmung die logische Folge. Konkret veranlaßt durch das bevorstehende 30jährige Gründungsjubiläum der ältesten Einrichtungen wie der KFA oder des GKSS Forschungszentrums Geesthacht, wurde 1986 im Einvernehmen zwischen dem Bundesforschungsministerium (BMFT) und den Zentren das Projekt "Geschichte der Großforschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland" begründet, dessen wissenschaftliche Leitung der Göttinger Historiker Professor Rudolf Vierhaus übernahm. Seither sind in bisher 11 Einzelmonographien geschichtliche Darstellungen der Zentren sowie Studien zur Thematik der Großforschung erschienen.

Für "Jülich" widmete sich der Düsseldorfer Historiker Bernd-A. Rusinek im Rahmen seiner Habilitationsschrift der Aufgabe einer bis in das Jahr 1980 reichenden Studie, die 1996 veröffentlicht wurde und weithin Anerkennung fand.

Das überzeugende Ergebnis verdient umso mehr Respekt, als der Verfasser für sein Quellenstudium nur bedingt auf einen erschlossenen Aktenbestand zurückgreifen konnte. Mit Hilfe eines langjährigen Mitarbeiters der KFA, der über genügend interne Kenntnisse verfügte, schlug er sich gleichsam selbst eine Schneise in das bis dahin weitgehend ungeordnete Vorstandsarchiv und legte die für seine Zwecke besonders aussagefähigen Aktenserien frei, vornehmlich die "Tageskopien" sowie die Sitzungsunterlagen der internen Organe und Gremien.

Auf ähnliche Schwierigkeiten dürften die meisten der Projekthistoriker gestoßen sein, denn wie eine informelle Umfrage unter den HGF-Einrichtungen im Dezember 1998 ergab, sind zwar in der Mehrzahl der Einrichtungen archivarische Maßnahmen angelaufen und hieraus in einigen Fällen bereits konkrete Ergebnisse in Form von Findbüchern hervorgegangen, doch kann von vollständig erschlossenen Beständen oder gar einem regulären Archivbetrieb mehrheitlich noch nicht die Rede sein. Mancherorts befinden sich die Aktivitäten nach wie vor in einem Anfangsstadium mit zudem ungewisser Perspektive.

Der Vernachlässigung archivarischer Erfordernisse konnte in den Einrichtungen mit privatrechtlicher Konstruktion auch kein produktiver Druck durch das Bundes- oder die Landesarchivgesetze entgegenwirken, deren Bindungsgehalt nur

Archive in öffentlicher Trägerschaft erfaßt und die zudem erst ab Ende der achtziger Jahre verabschiedet wurden. Immerhin enthalten die meisten Landesarchivgesetze einen Passus, nach dem staatliche Archiveinrichtungen die Sicherung privater Bestände mit gesamtgesellschaftlichem Interesse übernehmen können, was in der Archivdebatte bereits zu expliziten Rückschlüssen auf privatrechtliche Gesellschaften mit ausschließlich öffentlicher Beteiligung geführt hat. Vor einiger Zeit wurde zudem durch das Bundesarchiv auf die Möglichkeit verwiesen, Archive der Wirtschaft (wohl unter Einschluß der privatrechtlich verfaßten Großforschungseinrichtungen) zu nationalem Kulturgut zu deklarieren und sie damit öffentlicher Hoheit zu unterstellen.

Einer solchen Vereinnahmung im Interesse der Allgemeinheit können die Einrichtungen am besten zuvorkommen, indem sie sich selbst der Aufgabe annehmen und die fachgerechte Sicherung und Erschließung ihres Archivguts gewährleisten - gerade auch mit Blick auf die Öffentlichkeit, wie wir sehen werden.

Für die bis in die achtziger und neunziger Jahre zu konstatierenden Defizite der Zentren im archivischen Bereich kommen vor allem zwei Ursachen in Betracht.

Man muß sich nur die Entstehungs- und Aufbaubedingungen gerade der älteren Einrichtungen vergegenwärtigen, die den ganzen persönlichen Einsatz der Beteiligten und ein beachtliches Maß an Improvisation verlangten, noch dazu im Zusammenspiel mit einer ungefestigten staatlichen Bürokratie und in einer Atmosphäre allgemeinen Aufholfiebers auf dem Nuklearsektor. Angesichts dieser

permanenten Anspannung dürften Sicherungs- und Ordnungserfordernisse für abgelegtes Schriftgut im Interesse zukünftiger Recherchierbarkeit den Entscheidungsträgern, "Akteuren" eben, als zeitraubende Nebensächlichkeit erschienen sein. Sicher erwuchsen auch aus der potentiellen inhaltlichen Brisanz der Akten - jedenfalls in den Kernforschungseinrichtungen - grundsätzliche Bedenken, solche Inhalte durch archivarische Erschließung überhaupt zugänglich zu machen oder gar aufseiten einer kritischen Öffentlichkeit konkrete Erwartungen hinsichtlich der Offenlegung von Dokumenten heraufzubeschwören.

So ist zu vermuten, daß damals die Archive (oder schlichter: die Aktenkeller) der Großforschungseinrichtungen in bester archivischer Tradition zu den "arcana imperii" zählten und daß Assoziationen zum "Geheimarchiv" wohl nahelagen.

2.2 Zur Archivsituation im Forschungszentrum Jülich

[KFA Jülich]

Zumindest im Forschungszentrum Jülich ließ die Wirkungskraft solcher Bedenken und Abwehrhaltungen nach, seit man einem Historiker wie Rusinek großzügig Akteneinsicht für seine Forschungsarbeiten gewährt hatte. Aufseiten des Managements schärfte sich der Sinn für die historische Perspektive - und in der Konsequenz für die Dringlichkeit eines umfassenden, systematischen Archivierungsprojekts. Mitte 1996 wurde eine Fachkraft (Mitautorin des vorliegenden Berichts) für zunächst eineinhalb Jahre und nachfolgend für weitere zwei Jahre zur Ordnung und Erschließung des Vorstandsarchivs eingestellt. Organisatorisch ist das Projekt als "Arbeitsgruppe Historische Dokumentation" bei der Zentralbibliothek des Forschungszentrums angesiedelt.

Der Bestand "Vorstandsarchiv" erwies sich als ungewöhnlich umfangreich, da er einem sehr schriftintensiven Bereich entstammte und in einem Zeitraum von rund vierzig Jahren seit Bestehen des Forschungszentrums gleichsam organisch gewachsen war. An vorhandene Ordnungsstrukturen, also der Aktenführung im Rahmen eines Registratursystems, konnte die Archivarin nicht anknüpfen, und dementsprechend fand sie die mehreren tausend Aktenordner, weitgehend nach dem Zufallsprinzip abgelegt, in drei restlos überfüllten Kellerräumen vor.

Unter Einsatz einer Archivsoftware wurden die Akten inhaltlich erschlossen und in einem Findbuch mit spezifischer Systematik zusammengestellt. Die in säurefreie Mappen umgebetteten, nach Numerus currens signierten Akten wurden in Archivkartons gelagert und diese in den vorhandenen Aktenkellern regalweise deponiert, sodaß der Zugriff auf gesuchte Akten von nun an direkt und schnell möglich ist.

Während die Arbeit im Prinzip also der üblichen archivarischen Methodik entsprach, war doch gewissen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Vor allem erwies sich angesichts der Größe des Bestandes, seiner strukturellen Komplexität und inhaltlichen Dichte die Tiefenerschließung der Akten als der einzig gangbare Weg, um sie einerseits in ihrer Singularität kenntlich und wiederauffindbar zu machen und sie andererseits anhand nachvollziehbarer Kriterien in eine stringente Systematik, einen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Gerade die Erstellung einer tragfähigen Systematik erwies sich als Herausforderung, als ein ständiges Abwägen zwischen der Berücksichtigung von Teilprovenienzen - also den unkoordiniert geführten Beständen der jeweiligen Vorstandsmitglieder sowie ihrer Assistenten - und gemeinsamer sachthematischer Bezüge. Erschwert wurde diese Konstellation durch die Interdisziplinarität der Forschungsorganisation, die dann in den "Projektwissenschaften" ihren eigentlichen Ausdruck fand, und durch einen kontinuierlichen Strukturwandel als quasi immanentem Entwicklungsgesetz der KFA. So galt (und gilt) es, bei der Erschließung des Bestandes nach systematischen Kriterien Strukturen für eine in stetigem Wandel und Übergang begriffene Ordnung zu konstruieren - für ein Paradox also, das Rusinek treffend in Formeln wie der "permanenten Gründungsphase" oder der "schleichenden Gründung" der Anlage zum Ausdruck bringt.

Die "hochgradige Vernetzung der KFA" wird sich also bis zu einem gewissen Grad auch in der Struktur ihres Vorstandsarchivs widerspiegeln. Eine authentische Abbildung der Komplexität - mit dem Resultat verwirrender Unübersichtlichkeit - mußte andererseits vermieden werden, um durch das notwendige Maß an Systematisierung Hauptlinien der Überlieferung kenntlich zu machen, die in ihrer Gesamtheit Aufgaben und Arbeitsweise des Organs Vorstand belegen und zugleich den Rückgriff auf einzelne gesuchte Akten ermöglichen. Damit sind die beiden wesentlichen Bewertungskriterien angesprochen, die der Entscheidung über die Archivwürdigkeit des Schriftguts zugrundelagen: ihr Informationswert zur Wahrnehmung aktueller Aufgaben rechtlich-administrativer Art sowie ihre historisch-dokumentarische Aussagekraft. Was letztere betrifft, erhellt gerade das interne, vorbereitende Schriftgut die wesentlichen Umstände eines Vorgangs, die Absichten der Beteiligten und den Prozeßcharakter des Ganzen oft wirkungsvoller, als dies die bloßen Endresultate in Form von Sitzungsprotokollen oder Vertragsvereinbarungen vermögen.

Die Bewertungsrichtlinien hinsichtlich der Archivwürdigkeit der Akten waren somit eher weitgefaßt, zumal angesichts der zentralen Stellung und Bedeutung des Organs Vorstand alle relevanten Vorgänge hier zur Vorlage und zur Entscheidung kamen. Unter dieser Prämisse wurde im Zweifelsfall für die Aufbewahrung entschieden. Da zudem die Aktenproduzenten überwiegend bereits aus dem Forschungszentrum ausgeschieden waren, standen sie für Rückfragen, etwa zur Bewertung eines sehr speziellen naturwissenschaftlich-technischen Sachverhalts, nicht mehr zur Verfügung. Eine vorausschauende Bewertung bereits im Stadium der Aktenführung, als Kooperation zwischen Archivar und Schriftgutproduzenten, hatte im Forschungszentrum Jülich infolge der langjährigen archivischen Abstinenz ohnehin nicht stattfinden können.

Großzügige Bewertungsrichtlinien (auch mangels Alternative) bedeuten unvermeidbar eine gewisse Redundanz von Teilinhalten, die im Falle des Jülicher Bestandes neben dem strukturellen Wandel als permanentem Wirkungsfaktor und der Interdisziplinarität der Forschungspraxis noch durch die wechselseitige Informationspflicht der Vorstandsmitglieder begünstigt wird. Die Kassation von Mehrfachschriftgut erwies sich daher nur bei Serienakten - also Sitzungsunterlagen von Gremien und Organen - als zweifelsfrei vertretbar, während mehrfach vorkommende Einzelschriftstücke in einem gleichwohl spezifischen Aktenkontext zwangsläufig darin zu belassen waren.

Unter Berücksichtigung solcher Rahmenbedingungen konnte am Ende der ersten Projektphase ein zweibändiges Findbuch vorgelegt werden, das eine Fülle von Quellen und Informationen zur Geschichte des Forschungszentrums bietet. Dem Nutzer erschließen sie sich vorrangig über die Systematik, also der klassifizierenden Gruppierung der Akten, oder hilfsweise durch einen ausführlichen Sach- und Personenindex. Darüber hinaus steht eine Online-Version des Findbuchs mit den zusätzlichen Recherchemöglichkeiten eines Textverabeitungsprogramms zur Verfügung. Im Zuge der gegenwärtig laufenden zweiten Projektphase wird der Bestand unter Einsatz der Archivsoftware "Midosa 95" zunächst um das noch nicht erschlossene Material ergänzt; hieran schließt sich die Überarbeitung des Findbuchs und damit die Erstellung einer Endfassung an, die schätzungsweise 3700 Akteneinheiten beinhalten wird.

3. Nutzen und Nutzung von Archiven in Großforschungseinrichtungen

Wenn bisher die Bedingungen von Archivierungsmaßnahmen in einem Großforschungszentrum erörtert wurden, so stellt sich als nächstes die Frage nach Sinn und Zweck. Inwiefern also können Archive für die Einrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft von Nutzen sein?

Prinzipiell stellt das Archiv eine Erweiterung des bibliothekarisch-dokumentarischen Informationssystems der Forschungszentren dar, das jederzeit abrufbares Wissen für unterschiedliche Nutzungszwecke bereithält. Im Sinne eines umfasssenden, zeitgemäßen Servicekonzepts dient es der Bewahrung und Vermittlung potentiell benötigter Information, ob nun im Rahmen der Literaturversorgung durch die Bibliotheken oder der Aktenerschließung durch die Archive. Entsprechend der Leistungsverpflichtung heutiger Großforschungszentren definieren sich gerade auch ihre Archive und Bibliotheken als Serviceeinrichtungen zur Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse und unterliegen somit dem Kriterium der Effizienz. Unter dieser Voraussetzung sollen nun aus verschiedenen Zugangsperspektiven wesentliche archivische Funktionen näher erläutert und die Konturen eines abgestuften Nutzungssystems skizziert werden.

3.1 Interne Rückfragen

Unabhängig von seinem spezifischen Umfeld besteht die traditionelle Aufgabe jedes Archivs in der Speicherung von Informationen zur Wahrung rechtlicher und administrativer Interessen der Aktenproduzenten (insofern "Primärzweck"). Ein Rückfragebedarf dieser Art kann sich im Forschungszentrum Jülich etwa auf so komplexen Gebieten wie der öffentlichen Finanzierung und Einbindung in die staatliche Forschungspolitik, den zahlreichen Vertragsvereinbarungen mit Partnern aus Forschung und Industrie oder der Gestaltung der innerbetrieblichen Sozialpartnerschaft ergeben. Hier sieht sich das Archiv mit seinem Fundus an Informationen vor die Aufgabe gestellt, denkbaren Erfordernissen nach objektiver Vergewisserung und rechtlicher Absicherung durch verbindliche, umgehende Auskunftserteilung jederzeit begegnen zu können.

Damit wäre die in dieser oder ähnlicher Form vielzitierte, klassische Funktion des Archivs als eines "Gedächtnisses der Verwaltung" zur Wahrung administrativer Kontinuität umschrieben. Ihr entspricht im Falle der Großforschungseinrichtungen, wo neben Vorstandsakten auch direkt naturwissenschaftlich-technische Bestände erschlossen werden, nach demselben Prinzip das Archiv als "Gedächtnis der Wissenschaft" zur Vermittlung aktuell benötigter Informationen und zur Rekonstruktion von Erkenntnisprozessen.

3.2 Legitimation durch Information

Neben die bedarfsgeleitete Nutzung des Archivs zu Primärzwecken tritt schließlich die systematische Auswertung der Bestände zu "Sekundärzwecken" von heute gleichwohl essentieller Bedeutung, da sie - auf jeweils unterschiedliche Weise - zur Profilierung der Einrichtung und Erhöhung ihrer Akzeptanz beitragen.

In einem wahrhaft naheliegenden Sinne richtet sich dieser Ansatz unmittelbar an die Mitarbeiter. Gerade vor ihnen und aus ihrer Binnenperspektive gilt es die Konturen der Einrichtung zu schärfen. Dies trifft auf einige der Helmholtz-Zentren umso mehr zu, als die Pluralität ihrer Forschungsschwerpunkte einer leichten Identifikation der Mitarbeiter mit dem Gesamtunternehmen eher im Wege steht. Hier kann das Archiv, sowohl in bezug auf "das" Zentrum wie auf einzelne Institute und Abteilungen, der Aufklärung dienende historische Inhalte für Festschriften, Jubiläumsvorträge oder interne Zeitschriften beisteuern. Selbst anekdotische Informationen, deren Überlieferungswert im herkömmlichen Sinne gering zu veranschlagen ist, gewinnen im Kontext einer historisch akzentuierten Corporate Identity an Bedeutung. An diesen Aufgaben wirkt das Archiv entweder direkt durch eigene Beiträge mit, oder es stellt, wohl in der Regel für die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, nach Art eines Dossierdienstes die erforderlichen Informationen und Quellen zusammen.

Nach außen richtet sich das Streben um Profilierung des Forschungszentrums an die Öffentlichkeit als Souverän des demokratischen Gemeinwesens und somit dem eigentlichen Träger staatlich finanzierter Institutionen. Bei einem Wissenschaftsbetrieb mit seinem erheblichen Bedarf an personellen, materiellen und finanziellen Ressourcen darf die Öffentlichkeit einen Einblick in das Innere, in Aufgaben und Funktionsweise der aus ihren Mitteln unterhaltenen Einrichtung verlangen. Natürlich findet dieser Anspruch in dem berechtigten Eigeninteresse des Archiveigners auf Wahrung einer informationellen Schutzsphäre, dem ja auch die gesetzlichen Sperrfristen Rechnung tragen, ebenso seine Grenzen wie in den Datenschutzbelangen betroffener, "aktenkundiger" Personen. Doch von diesem Vorbehalt abgesehen, sollte eine Großforschungseinrichtung in einem offensiven Verständnis von Öffentlichkeitsarbeit ihren eigenen Aktenbestand stets auch als Informationsreservoir zur Präsentation gegenüber der Öffentlichkeit verstehen, sei es aus eigener oder fremder Initiative. Indem hochspezialisierte wissenschaftliche Einrichtungen ihre selbsterkannte Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit durch eine Haltung der Offenheit und Transparenz signalisieren, legen sie gleichsam einen Legitimationsvorrat für Krisenzeiten an. Man mag es gutheißen oder bedauern, jedenfalls ist in Zeiten begrenzter öffentlicher Ressourcen und einer Relativierung des bisherigen, normativen Wissenschaftsverständnisses auch von den Forschungszentren Eigeninitiative gefordert, um mit seriös und ansprechend vermittelten Informationen ihren Beitrag zum Funktionieren des Gesamtsystems herauszustellen.

Unmittelbar realisiert sich ein solches Verständnis in einer wirkungsvollen Selbst-Darstellung gegenüber der Öffentlichkeit. Die Instrumente - Zeitungsbeiträge, Festschriften, Jubiläumsvorträge, Ausstellungen - entsprechen denen konventioneller Öffentlichkeitsarbeit; charakteristisch ist hingegen, auf der inhaltlichen Ebene, die Vermittlung institutioneller Profilbildung entlang historischer Entwicklungslinien. Diese Orientierung bedingt eine langfristige Konzeption mit gezielter Auswahl und Präsentation der Inhalte, eine Aufgabe, welche das Archiv im Zweifelsfall konsequenter verfolgen kann als die vorrangig der Tagesaktualität verpflichtete Abteilung Öffentlichkeitsarbeit.

Auch wo eine Großforschungseinrichtung nicht in eigener Regie die Formung ihres Bildes in der Öffentlichkeit betreibt, sondern der Informationsanspruch aus der Öffentlichkeit an sie herangetragen wird, leistet ein gut geführtes Archiv essentielle Dienste. Zum einen befriedigt es das Informationsbedürfnis der Medien durch die Betreuung von Journalisten, die Bearbeitung journalistischer Anfragen oder durch die Erstellung von Pressedossiers, sei es als direkter Ansprechpartner oder als Servicestelle für Vorstand, Pressestellen und/oder Abteilung Öffentlichkeitsarbeit.

Zum anderen sollten auch Gesuche um die systematische Auswertung der Bestände zu wissenschaftlichen Quellenstudien, also einer traditionellen Zweckbestimmung des Archivs, so großzügig wie möglich auf der Grundlage einer elementaren Verpflichtung gegenüber der demokratischen Öffentlichkeit und ihrem Teilsystem Wissenschaft, entschieden werden. (Dagegen verstand sich der Historiker-Archivar des 19. und auch noch des 20. Jahrhunderts in erster Linie als Hüter "seines" Archivs und als einzig zur Auswertung Berufener, mit dem Resultat sowohl zahlreicher grundlegender Untersuchungen und Quelleneditionen wie von Spezialstudien als L’art pour l’art.) Bereits prinzipielle Offenheit gegenüber historisch-kritischen Forschungsanliegen kann die Glaubwürdigkeit des Archiveigners vor der Öffentlichkeit nur erhöhen.

3.3 Besonderheiten eines GFE-Archivs

Damit das Archiv einer Großforschungseinrichtung die ihm gestellte Aufgabe der Überlieferungsbildung erfüllen kann, muß es so effektiv wie möglich in die Organisationsstrukturen eingebettet sein. Diese Notwendigkeit tritt vor allem an der Schnittstelle von Schriftgutaussonderung durch die jeweiligen Aktenproduzenten und der Übernahme durch das Archiv hervor. Grundsätzlich unterliegt in der Großforschungseinrichtung die Bewertungskompetenz des Archivars erheblichen Anforderungen, da er für die Einschätzung des Überlieferungsgehalts ausgesonderter Akten ein Spektrum äußerst verschiedenartiger, potentieller Nutzungsanliegen vorausschauend berücksichtigen muß. Wo es auf die Vorwegnahme administrativer Fragestellungen oder einer umfassenden wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Perspektive ankommt, wird sich die häufig gegebene geisteswissenschaftliche Ausbildung des Archivars bewähren; bei der Bewertung strikt naturwissenschaftlich-technischer Inhalte hingegen sollte, neben der wohl unstrittigen Pflicht zur Selbstinformation durch Fachlektüre, zusätzlich die gelegentliche Rückkopplung mit den beteiligten Fachwissenschaftlern sicherstellen, daß sachlich angemessene Archivierungs- bzw. Kassationsentscheidungen getroffen werden. Die Kooperation zwischen Archivar und Forschern mit dem Ziel einer fundierten naturwissenschaftlich-technischen Überlieferungsbildung setzt allerdings hinreichende Aufgeschlossenheit für archivarische Postulate voraus, sodaß angesichts einer gewissen Wegwerfmentalität" von Naturwissenschaftlern und Technikern, die auf die - meist ja publizierten - Produkte wissenschaftlichen Arbeitens verengt ist, der Archivar durch Werbung und Aufklärung häufig erst die Grundlagen eines "Archiv-bewußtseins" wird schaffen müssen. Zur Legitimierung dieses Ansinnens wie als konkrete Handlungsanleitung sollten zudem Vorstandsrichtlinien das Prinzip und die Modalitäten archivarischer Schriftgutsicherung verpflichtend auferlegen.

4. Perspektiven weiterer Auswertung im Forschungszentrum Jülich

Ungeachtet der bereits bestehenden Untersuchungen zur Geschichte der Zentren stellen die gegenwärtigen Archivierungsmaßnahmen interessierten Forschern umfangreiches Material für weitere Studien zur Verfügung. Zumindest auf das Forschungszentrum Jülich trifft dies zu, das sich angesichts seiner Bedeutung als größte deutsche und auch international renommierte Großforschungseinrichtung zum lohnenden Objekt für Themen der Technik-, Wissenschafts- oder der politischen Geschichte eignet. Abschließend soll daher anhand einiger Stichworte ein erster Eindruck von den Auswertungsmöglichkeiten vermittelt werden, die sich durch das Jülicher Projekt bis zum jetzigen Zeitpunkt eröffnet haben.

Grundsätzlich legt bereits der kontinuierliche Historisierungsprozeß eine Fortschreibung der bis in das Jahr 1980 reichenden Studie Rusineks für jeweils begrenzte Zeitabschnitte nahe, natürlich unter Wahrung eines Mindestmaßes an archivarisch und wissenschaftlich gebotener zeitlicher Distanz. Im Mittelpunkt könnte hier die programmatische Neuorientierung des Zentrums in den achtziger Jahren stehen, die infolge der vom BMFT beschlossenen Einstellung des letzten klassischen Großprojekts "Spallationsneutronenquelle" und des Kurswechsels in der Kernenergiepolitik unausweichlich wurde.

Die Tatsache, daß Rusinek einen Großteil der Akten in sein Quellenstudium nicht einbeziehen konnte, rechtfertigt aber vor allem Untersuchungen zur Akzentuierung, Vertiefung oder Ergänzung der von ihm in ihren Grundlagen erschlossenen Materie.

So findet sich für den uns heute befremdlich anmutenden Glauben an eine (nuklear-)technisch beherrschbare Zukunft, in Anknüpfung an die von Rusinek angestellten sprachsoziologischen Untersuchungen, eine Vielzahl "sprechender" Belege. Da wurde beispielsweise 1961 ein "Reaktorreiniger" eingestellt oder, um dieselbe Zeit, auf Anregung des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung ein "Kerntechnischer Hilfszug" zur "Bekämpfung von Reaktorunfällen" eingerichtet. Auch bei der sportlichen Freizeitgestaltung der Mitarbeiter fand die Identifikation mit der Atomenergie ihren unmittelbaren sprachlichen Ausdruck: Regelmäßig traf man sich zu "Reaktorfußballturnieren" und "Atomiaden". Nicht nur Verinnerlichung, sondern auch Zuneigung spricht aus der Namensgebung für eine Mitarbeiterzeitschrift: "dat atom". Zu einer leicht überzogen anmutenden Metapher, die auf dasselbe unverfälschte Denken in Kategorien der Hochleistungstechnik schließen läßt (sicher mit höherem rhetorischem Anspruch), verstieg sich Mitte der sechziger Jahre ein Vorstandsmitglied in einem Brief an den ehemaligen Assistenten: "Ansonsten ... sehe ich ... Ihrem weiteren Raketenaufstieg mit Interesse und Vergnügen zu".

Auch der dann einsetzende Umkehrprozeß, also das wachsende Bewußtsein für die technischen und gesellschaftlichen Folgekosten der Kernenergie, könnte jetzt anhand der Akten exemplarisch als allmählicher Einstellungswandel der Führungskräfte nachgezeichnet werden.

Wenn die Vorstandsmitglieder den Rückzug von der Kernenergie wohl eher als Konzession an den Zeitgeist verstanden, so waren sie ihm in anderer Hinsicht voraus. In einem breit angelegten, auf Transparenz setzenden Verständnis von Öffentlichkeitsarbeit betrieb man eine großzügige Besucherpolitik von der lokalen bis zur internationalen Ebene, von interessierten Privatpersonen bis zu hochrangigen Delegationen, und auf anderem Gebiet legte man ebensolchen Wert auf eine dezidierte Patentpolitik im Sinne anwendungsorientierter Forschung - beides in den frühen sechziger Jahren, als solche Konzepte noch nicht zum Kanon moderner Unternehmensführung gehörten. Diese strategischen Vorsprünge wurden bereits im Rahmen der Projektstudien von Rusinek (Öffentlichkeitsarbeit) und Margit Szöllösi-Janze (Patentpolitik) angesprochen und können nun grundlegend thematisiert werden.

Ebenso lassen sich die innerbetrieblichen Auswirkungen des gesellschaftlichen Aufbruchs in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren aus den Akten verfolgen, beispielsweise ein Trend zur Selbstorganisation der Mitarbeiter (Beirat der Wissenschaftler, Verband der Wissenschaftler an Forschungsinstituten) und natürlich die Aufwertung des Betriebsrats in Mitbestimmungsfragen.

Das wissenschaftssoziologische Phänomen der Vernetzung des Wissenschaftsbetriebs seit den sechziger Jahren, wie es sich in "Verprojektierung" , "Verkommissionierung" oder nach außen in zunehmender Verrechtlichung und "Politik-Abhängigkeit" äußerte, kann nun gleichfalls anhand der KFA-Vorstandsakten beispielhaft und vertiefend analysiert werden. Hier sei etwa auf das von Rusinek angeführte "Desiderat" hinsichtlich der Rolle von Abgeordneten und Parlamenten in der Forschungspolitik verwiesen.

Zur Bearbeitung dieser und zahlreicher weiterer Themen bietet sich mit dem Vorstandsarchiv des Forschungszentrums Jülich in Zukunft eine reichhaltige Quellenbasis dar.


Zu den Autoren

Dr. Rafael Ball ist Leiter der Zentralbibliothek

Maria Ludden, M.A., betreut das Vorstandsarchiv

Forschungszentrum Jülich GmbH
Zentralbibliothek
D-52425 Jülich
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E-Mail: r.ball@fz-juelich.de