Sicherheit und Verunsicherung im Zeitalter
elektronischer Wissenschaftskommunikation1


 Abstracts

1. Einleitung
2. Geschichte eines Begriffs
3. Sicherheit des Dokuments
4. Sicherheit des Autors und seiner Dokumente
5. Sicherheit der Nachweissysteme
6. Sicherheit des Benutzers
7. Sicherheit der Bibliothek


von Rafael Ball

1. Einleitung

Beim Übergang vom analogen, gedruckten zum digitalen, elektronischen Medium für die Verbreitung von wissenschaftlicher Information, sind die Konflikte und Spannungsfelder der Akteure in der Wertschöpfungskette der wissenschaftlichen Information noch stärker als bisher hervorgetreten. Neue Möglichkeiten der Kommunikation sind entstanden, die Möglichkeiten der technischen Vervielfältigung und weltweiten Verbreitung haben nicht nur die Geschäftsmodelle der Zeitschriftenverlage und ihre auf die Printumgebung bezogenen Exklusivrechte zunehmend in Frage gestellt, sondern auch die Sicherheitsfrage wichtig werden lassen. Vor dem Hintergrund einer stark gestiegenen Literaturproduktion (täglich produzieren sieben Millionen Wissenschaftler weltweit 30.000 Artikel, die Zahl der in den ISI-Datenbanken gelisteten Artikel hat sich im Laufe der vergangenen 20 Jahre verdoppelt2) und einer zunehmend elektronisch distributierten Wissenschaftsinformation ist das Massenstreaming in elektronischen Netzen zur alltäglichen (und allnächtlichen) Selbstverständlichkeit geworden. Sicherheit im Netz ist daher längst kein akademisches Thema mehr, sondern handfeste Forderung der Netznutzer. Doch kann, wer Sicherheit fordert, auch Sicherheit erwarten? Wer kann heute im Netz noch etwas "ver-sichern"? Bei der Masse der umgesetzten Daten, bei der Struktur des Netzes, bei dem Turnover der Inhalte wird "Ver-sicherung" schwierig. So ist in der undurchdringlichen Endlosigkeit des Netzes nichts und niemand mehr seiner und seiner Dinge sicher. Und wer seiner nicht mehr sicher ist, kann schon gar nichts mehr ver-sichern. Das Medium selbst ist zur allgemeinen Verunsicherung geworden. Doch leben wir generell in einer Zeit, in der Sicherheit nicht mehr garantiert werden kann, auch wenn wir noch so oft versichert werden und uns dies noch so oft versichert wird. Das gilt besonders für das Internet, wenn es als interaktives freies Medium verstanden werden will und nicht als bloßer Kanal der Massenkommunikation.3 Hier entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem Anspruch des freien unzensierten, kommunikativen demokratischen Mediums und der Nutzung dieses Mediums als bloßem Massenkommunikationsmittel. Wenn aber teure (wertvolle, bezahlte und unbezahlbare) Inhalte über das Netz verbreitet werden sollen (wie es in der wissenschaftlichen Kommunikation unzweifelhaft geschieht), muss die Sicherheit einen anderen Stellenwert erhalten als beim freien offenen Austausch über Netze.

2. Geschichte eines Begriffs

Ein kleiner historisch-etymologisch-semantischer Rückblick auf die Terminologie von Sicherheit hilft zu verstehen, was Sicherheit meint und was es im Netz nicht sein kann. Bei Cicero und Lukrez ist der Begriff belegt und meint einen Seelenzustand der Freiheit von Sorge und Schmerz. Dabei rekurriert "Sicherheit" auf das Lateinische securus bzw. securitas, als das es sorglos, unbesorgt, unbekümmert, sorgenfrei, heiter, sicher und gefahrlos verstanden werden kann.4 Obwohl es nach der Phonetik doch schnell in die Nähe von securis dem Beil, der Axt, dem Schlag und der Wunde rückt, einer Bestimmung, die man als Netznutzer nur zu oft zu spüren bekommen, wenn "Sicherheit im Netz" einmal nicht funktioniert.

Aber auch als salus in der Bedeutung von Unverletztheit und Wohlbefinden bezieht sich der Terminus in seinen Anfängen auf die Bestimmtheit des Individuums.

Sicherheit zunächst also immer auf die Verfassung des Individuums bezogen, bekam erst später im Sinne einer pax romana im Römischen Reich einen politischen Impetus. Fast zeitgleich wurde dann auch die Cautio, nicht die Securitas, zur "Sicherheit" im Sinne einer Bürgschaft, einer Sicherung, aber auch einer Vorsicht und Behutsamkeit zu einem Terminus Technicus in wirtschaftlicher und finanztechnischer Bedeutung. So wie der Sicherheitsbegriff sich vom rein individuellen Anliegen über einen Begriff im Rechtssinne hin zu einer territorial und sozial verstandenen Sicherheit entwickelte, steht der Netznutzer mit seinem Bedürfnis nach Netzsicherheit in direkter Folge einer als angeborenes Recht verstandenen Sicherheit. Und ebenso wie der Begriff der Sicherheit trotz seiner Unschärfe und Breite in ein allgemeines Grundverständnis im Alltagswissen des Menschen verankert ist und voraussetzungslos verstanden wird, gelten für die Sicherheit im Netz jene Attribute, die auch für ein allgemeines Sicherheitsverständnis in Anspruch genommen werden: Verfügbarkeit, Garantiertheit, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Haltbarkeit. Wer für die wissenschaftliche Kommunikation Netze nutzt, wird bei diesen einem allgemeinen Sicherheitsverständnis zugeordneten Attributen aufhorchen, sind es doch jene Forderungen, die heute bisweilen verbissen die Diskussion um die Zukunft der wissenschaftlichen Kommunikation bestimmen. Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt auf jene Sicherheitsmerkmale zurückkommen, sie aber unter den verschiedenen Aspekten der Wissenschaftskommunikation diskutieren: Verfügbarkeit, Garantiertheit, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Haltbarkeit unter der Rücksicht des Dokuments, des Autors, der Nachweissysteme, des Benutzers und der Bibliothek.

3. Sicherheit des Dokuments

Das Dokument als veröffentlichtes Ergebnis und Zeugnis eines wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses war lange Zeit das endgültige Endergebnis einer wissenschaftlichen Arbeit, das Dokument als Dokumentation abgesicherter Inhalt, unveränderbar vorliegend und für alle Zeit archivierbar und archiviert. Die Sicherheit der Ergebnisse als Sicherheit des Dokuments war garantiert, die Veröffentlichung als Zeitschriftenartikel oder monographisches Werk seinerseits der Abschluss und der Garant für die Sicherheit des Dokuments. Die Wechselwirkungen aber, die durch interaktive Nutzbarkeit von Bild-, Ton- und Textdokumenten entstehen und ihr Einfluss auf Wissenschaft und wissenschaftliches Arbeiten sowie auf den Prozess der Erkenntnisgewinnung sind noch kaum untersucht. Gerade erst beginnen wir zu begreifen, wie die Existenz von dynamischen Dokumenten grundsätzliche wissenschaftliche Ergebnisse und den Output in Form wissenschaftlicher Publikationen revolutioniert, etwa dadurch, dass Erkenntnisgewinnung und -verarbeitung sowie die Verbreitung und Diskussion von Ideen in ein "Realtime-Verhältnis" geraten sind. Statik und Gegenwärtigkeit, Verfügbarkeit, Garantiertheit, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Haltbarkeit (mithin all jene Attribute von Sicherheit) lösen sich in reine Dynamik auf. Und wie Jüngst Thomas Hettche in der FAZ schrieb, "reisen wir dabei mit beängstigend leichtem Gepäck. Denn nichts was wir aufnehmen, akkumuliert sich noch in uns. So wie wir nicht mehr satt sind, wenn wir nicht essen, sind wir dumm, wenn der Datenfluss einmal abreißt. Und so klingt es fast unglaublich. Dass Bibliothekare - einst Bewahrer von Buch und Kultur - heute aktiv daran beteiligt sind, unsere anamnetische Kultur verschwinden zu lassen".5 Wie unglaublich wichtig die Sicherheit der Netze damit geworden ist, liegt auf der Hand.

4. Sicherheit des Autors und seiner Dokumente

Der größte Angriff auf die Sicherheit des Autors und seiner Dokumente ist heute die Open Access Bewegung.6 Denn die Entwicklung neuer Kooperationsformen für die Produktion und Distribution wissenschaftlicher Informationen wirft mehr Fragen auf als sie lösen kann: Dabei ist der prinzipielle Ansatz der Open Access und Open Archiv Bewegung grundsätzlich zu begrüßen und sicher ehrenwert: Alle Welt soll Zugang haben zu den Erkenntnissen von Wissenschaft und Forschung, keiner soll ausgeschlossen werden und keiner soll dafür bezahlen müssen. Nicht nur free access, sondern auch free of charge access ist die Forderung derjenigen, die das etablierte System nicht mehr für bezahlbar oder bezahlwürdig halten. "Open Access meint, dass Literatur kostenfrei und öffentlich im Internet zugänglich sein sollte, ohne finanzielle, technische oder gesetzliche Barrieren. In allen Fragen des Copyright sollte die einzige Einschränkung darin bestehen, den Autoren das Recht zu sichern, dass ihre Arbeit angemessen anerkannt und zitiert wird".7

Mit der Berlin Declaration etwa wird die deutsche wissenschaftliche Öffentlichkeit gleichsam verpflichtet, die Prinzipien des Open Access-Publizierens anzuwenden.8

Hat also das traditionelle Verlagssystem versagt? Haben Verleger und Verlage über Jahrhunderte dazu beigetragen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verheimlichen statt sie zu verbreiten? Klagen wir heute über eine Informationsarmut oder über einen Information Overload? Gab (und gibt) es keinen Mehrwert bei der Produktion von wissenschaftlichen Journalen, Büchern und Editionen und gab (und gibt) es keine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen denen, die wissenschaftlich arbeiten und jenen, die wissenschaftlich zuarbeiten, etwa verlegen?

Im Netz soll jetzt jeder, der wissenschaftlich arbeitet verlegen, jeder der wissenschaftlich arbeitet auch produzieren und vertreiben können. Also "back to the roots", zu jenem System wie man bis zum 17. Jahrhundert vor der Gründung der ersten wissenschaftlichen Zeitschrift9 wissenschaftlich kommuniziert hat?

Open Access und Open Access Publishing10 geben keine Antworten auf jene Fragen nach Verfügbarkeit, Garantiertheit, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Haltbarkeit. Zu individuell sind die Lösungen, zu "selbstgestrickt" die Systeme, zu wenig unabhängig die Betreiber.

Ob sich nun Open Access langfristig als ein nennenswertes Element in der wissenschaftlichen Kommunikation durchsetzt oder als semiprofessionelle Hometechnik marginalisiert wird, ob sich die Informationsbranche nach der Bildung beeindruckender und bedrückender Monopole wieder stabilisiert, die Sicherheit in der wissenschaftlichen Kommunikation ist verschwunden und durch unbeantwortete Fragen ersetzt worden:

Wie kann wissenschaftliche Information künftig produziert werden? Was gewinnt man, wenn man die bisherigen sicheren Systeme verlässt? Wie groß ist die Sicherheit der neuen Produktionsformen? Wer garantiert die Qualität? Wer sorgt für die Integrität der Daten und wer für die Langzeitverfügbarkeit? Wer zahlt für den wissenschaftlichen Publikationsprozess?11 Wer organisiert die Qualitätsprüfung, das Peer Reviewing? Wer leistet künftig den Vertrieb und das Marketing für ein Produkt, das es gar nicht mehr geben soll? Wer strukturiert die wissenschaftlichen Inhalte so, dass sie sinnvoll in Disziplinen und Unterdisziplinen gegliedert und auffindbar sind? Wer hat Vertrauen in all die zweifelhaften elektronischen Suchmaschinen, die als einzige Nachweismittel für wissenschaftliche Inhalte bleiben sollen?

5. Sicherheit der Nachweissysteme

Wissenschaftliche Inhalte müssen nicht nur veröffentlicht werden, sie müssen auch nachweisbar und wieder auffindbar sein. Zu diesem Zweck gab und gibt es das komplette Instrumentarium bibliothekarischer und dokumentarischer Nachweissysteme. Das waren Jahrhunderte lang handgeschriebene Kataloge, gedruckte Bibliographien und Referateorgane. Die Electronic Library aber begann in Bibliotheken nicht mit Volltexten, sondern bei jenen Nachweissystemen.

In ihren Anfängen war die digitale Welt also nicht für Volltexte konzipiert und die ersten Online-Informationen stellten hohe Anforderungen an die Nutzer der Soft- und Hardware. Inzwischen hat die technologische Entwicklung eine ganze Reihe von Such- und Retrievalmöglichkeiten eröffnet, deren neue Qualität mit dem bisherigen Erschließungsinstrumentarium nichts mehr gemein hat. Bereits 1965 hat der amerikanische Informationswissenschaftler Licklider darauf hingewiesen, dass es nicht das Papier an sich zu ersetzen gilt, sondern dessen begrenzte Retrievalfähigkeit.12 Heute müssen Nutzer wissenschaftlicher Informationen mit dem Erschließungssystem der Bestände genauso wie mit den Retrievalsystemen der digitalen Daten vertraut sein. Viele elektronische Nachweissysteme suggerieren eine umfassende Prüfung aller vorhandenen Literatur, können dies aber nur selten leisten. In diesen Fällen wird der Erschließungsapparat zum Fluch und das Suchsystem zum Sicherheitsrisiko, weil er den Nutzer in der falschen Gewissheit lässt, alles gefunden zu haben. Die Relevanz und Vollständigkeit der Ergebnisse kann allerdings nur einschätzen, wer das jeweilige Suchsystem beherrscht. Die Freiheit ist genauso trügerisch wie die Suggestivkraft eines scheinbaren Generalchecks aller Literatur und Informationen.

Die digitale Netzwerkrevolution beginnt ihre Kinder dann zu fressen, wenn die Technik den Menschen nicht schlauer macht, sondern dümmer zurücklässt. Er verlernt durch ihren Einsatz den sinnvollen Umgang mit wichtigen Werkzeugen und wird abhängig von online zur Verfügung stehenden Datenströmen, die er zunehmend weniger versteht und beherrscht. Im Wirrwarr der elektronischen Angebote weiß heute ein Nutzer kaum mehr, was er in den elektronischen Systemen wirklich suchen und finden kann. Vielmehr herrscht ein unbegriffener Crossover zwischen Mensch und Maschine. Der Leser (mutiert zum Endnutzer) wird zurückverwiesen auf die Unmenge der digitalen Datenbestände und ihrer Suchmaschinen im Netz, still gestellt in der falschen Gewissheit einer vollständigen Informations- und Literaturübersicht. Somit verkehrt sich Sicherheit in ihr Gegenteil und aus Verfügbarkeit, Garantiertheit, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Haltbarkeit resultiert Konfusion.

6. Sicherheit des Benutzers

Die wissenschaftliche Kommunikation in Datennetzen stellt nicht nur für den Autor, seine Dokumente und die Nachweissysteme, sondern auch für den Rezipienten von elektronischer Information und Literatur ein Sicherheitsrisiko dar. Nicht jenes, das ein jeder eingeht, der heute die Bühne der Netzkommunikation betritt, sondern ein ganz spezifisches Sicherheitsrisiko, das mit der Integrität des Inhalts von Dokumenten verknüpft ist. Die Einmaligkeit und Authentizität von Inhalten ist heute mehr denn je fraglich geworden. Eine Überprüfung häufig nicht möglich. Und wenn Open Access Publishing die Zukunft des wissenschaftlichen Publizierens sein soll, dann werden auch für den Benutzer Verfügbarkeit, Garantiertheit, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Haltbarkeit der Inhalte zu einem Sicherheitsrisiko. Dokumente auf einem fachlichen oder institutionellen Dokumentenserver sind kein Ersatz für eine zitierfähige Publikation in einer Fachzeitschrift. Sie bieten keine fachlich gegliederte Verbreitung in der Wissenschaftscommunity (diese läuft nach wie vor über die Disziplinen und ihre Fachzeitschriften), es findet keine Primärberücksichtigung in den für die wissenschaftliche Bewertung wichtigen Produkten Science Citation Index und Web of Science statt und es existieren dadurch nationale und internationale Akzeptanzprobleme. Eine bunte Mischung verschiedenster Dokumententypen, angefangen vom Volltext über Präsentationen, Vorträge bis hin zu wissenschaftlichen Primärdaten lassen den Benutzer nicht nur jegliches Gefühl der Sicherheit vermissen, sondern das Gefühl entstehen, endgültig in der Beliebigkeit von Google verloren zu sein.

7. Sicherheit der Bibliothek

Die Bibliothek galt lange als Inbegriff jener Sicherheit, die sich in Verfügbarkeit, Garantiertheit, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Haltbarkeit manifestierte. So langweilig, wie coolen Menschen Bausparen für die Altervorsorge erscheint, so sicher waren Bücher und Zeitschriften in Bibliotheken verwahrt und beschützt, wenn auch bisweilen der Schutz vor dem Leser zu weit getrieben wurde. Die Bibliothek als Ort der Sicherheit, als Rückzugsraum vor der Vergänglichkeit, beschrieben sogar als Paradies13 hat - getrieben von einem Ökonomisierungszwang der Wissenschaft - längst jenen Anspruch aufgeben müssen und ist zum gemischten Informationsversorgungsbetrieb mutiert. Bereits vor 60 Jahren wurde die Universalbibliothek im Handtaschenformat erdacht. Einer der engsten Berater des Präsidenten Roosevelt, der Direktor des Office of Scientific Research and Development Vannevar Bush konzipierte seine Memex, einen "Memory Extender", eine sonderbare elektrisch-mechanische Maschine, geschaffen, um Inhalte und Bilder zu verknüpfen, den modernen Netz-PC mit Hyperlink-Technik auf dem Arbeitsplatz eines jeden Wissenschaftlers, die multimediale Universalbibliothek in der handlichen Größe einer Juke-Box. Mit ihrer Hilfe sollte 1945 Amerika der entscheidende Vorsprung in Wissenschaft und Forschung gelingen. Die Memex wurde nie gebaut und so blieb es zur damaligen Zeit bei der bloßen Vision einer alles verknüpfenden Literatur- und Informationsmaschine.14

Das Menschheitswissen ist aber heute längst nicht mehr in schwerfälligen Folianten versteckt, sondern gelangt in blitzschnellen Elektronen durch Kupfer- und jüngst als Photonen durch Glasfaserkabel selbst in jene entlegenen Winkel, in denen Bibliotheken weder bekannt sind noch jemals gebaut wurden.

Die Informationswut über die Informationsarmut ist zur Informationsflut geworden und überschwemmt die Welt mit Wissen und Informationen, die viele gar nicht bestellt haben.

War es für den gebildeten Bibliothekar des 18. Jahrhunderts noch eine Wonne, im Kreise seiner Bücher einfach zu sein, so scheint er heute verflucht im Informationsozean; längst ist er nicht mehr der Spezialist, der Bildung und Wissen ermöglicht, sondern der ein Übermaß dessen zu verhindern sucht, das er Jahrhunderte lang mühsam angesammelt hat und das ihn heute zusammen mit den Lesern und Nutzern nach der digitalen Beschleunigung geradezu in den Würgegriff genommen hat. Denn längst ist Information und Wissen nicht mehr die Basis für Wissenschaft und Erkenntnis, sondern der Feind der Intelligenz.

Denn das entscheidende Wissen heute ist, zu wissen, was man nicht zu wissen braucht. Bei mehr als 80.000 Neuerscheinungen im Jahr ist es nicht mehr möglich, zu lesen, sondern bereits ein Ausweis von Belesenheit zu wissen, was man nicht zu lesen braucht.15

Der Weg zur Wissensgesellschaft ist digital und die digitale Bibliothek die einzig konsequente Antwort auf die digitale Welt. Dennoch scheint der Mensch das große Hindernis auf dem Weg zur endgültigen Wissensgesellschaft zu sein: Die Masse der verfügbaren Daten (längst nicht mehr nur Information oder gar Wissen) steht in einem sonderbaren Missverhältnis zu den Zeitressourcen der Menschen. Immer mehr Daten buhlen um die Aufmerksamkeit potentieller Nutzer. Der Instant-Wissenschaftler mit dem längst gesellschaftsfähigen quick-and-dirty-Prinzip wird von seiner digitalen (oder längst schon virtuellen) Bibliothek versorgt und seit Bibliotheksbenutzer Kunden heißen zählt jeder Klick als Nutzung und das Selbstbewusstsein der Bibliothekare berauscht sich an kryptischen Zugriffszahlen, die keiner zu überprüfen geschweige denn zu interpretieren vermag. Und so schließt sich der Kreislauf: Die von den Bibliothekaren so bedauerte Datenflut wird von ihnen selbst stetig verstärkt.

Kein Tag ohne neues Internetportal und so versinkt eine ganze Welt in der Datenflut, ohne Hoffnung auf jene Arche Noah, der sie so dringend bedürfte. Bleibt uns also nichts als das Zählen der Zugriffe und die viel gelobte Dienstleistung, die nur noch als Performance überlebensfähig ist, wenn nicht die gute Leistung, sondern nur noch deren Inszenierung gilt?

Auch wer heute die Bestände einer Bibliothek nach den Kriterien von Verfügbarkeit, Garantiertheit, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Haltbarkeit bewertet, wird bitter enttäuscht. Die Reduzierung von Beständen, das massive Abbestellen von Zeitschriften ist geradezu zu einem Volkssport für Bibliothekare geworden. Stöhnten die Erwerbungsbibliothekare noch vor Jahren über die Last der vielen Bestellungen, brechen sie heute unter der riesigen Zahl der Abbestellungen zusammen. Sicher ist in Bibliotheken heute nur noch die Abbestellung. Und dies ist ein gespenstiges Szenario, weil es die K.O.-Runde der Bibliotheken einläutet. Wer die Sicherheit der Bestände (sei es im Netz oder traditionell) nicht mehr garantieren kann, wird künftig um seine Existenz bangen müssen - Was ist geschehen?

Die massive Zunahme der Informationsmenge, manifest im dramatischen Anstieg der Literatur- und Zeitschriftenproduktion, brachte die Bibliotheken, deren Etats der Zunahme der Information nicht mehr Schritt halten konnten, in eine schwierige Situation. Durch die parallel stattfindende Medienrevolution konnten aber die Printmedien nicht einfach durch digitale substituiert, sondern mussten additiv um diese ergänzt werden - ein Prozess, der die Leistungsfähigkeit der allermeisten Bibliotheken überfordert hat. Anstelle der notwendigen Konzentration wurde von jedem ein wenig angeboten - zu wenig von jedem. Es unterblieb zudem der Aufbau des notwendigen Know-hows - um die Sicherheit der Bibliothek und ihrer Dienste war es geschehen. Längst diskutieren Entscheidungsträger über viele Personalstellen in Bibliotheken, die nur noch den Mangel verwalten.

Die Preisexplosion für Bücher und Zeitschriften insbesondere des STM-Marktes (Science-Technology-Medicine)16 zeigt weiterhin, dass der Markt keinen Wettbewerb zuließ, sondern von wenigen Monopolisten beherrscht ist - echte Substitutionsprodukte gibt es auf dem Informationsmarkt nicht. Aber auch die Umkehr der wissenschaftlichen Publikationsverhältnisse und die Etablierung von Open Access Publishing bringen keinen Zugewinn an Sicherheit für die Bibliotheken und ihre Bestände. Wer etwa garantiert den Zugriff und die Zugriffssicherheit bei kostenfreien Angeboten? Wenn alles kostenfrei im Netz verfügbar ist, werden keine Verträge mehr geschlossen werden, es wird sich aber auch niemand mehr an Zusagen gebunden fühlen. Die Kehrseite von Freiheit ist Beliebigkeit. Und damit ist niemandem im wissenschaftlichen Umfeld wirklich gedient.


Zum Autor

Dr. Rafael Ball ist Leiter der

Zentralbibliothek des Forschungszentrums Jülich GmbH
D-52425 Jülich
E-Mail: r.ball@fz-juelich.de


Anmerkungen

1. Vortrag auf der Konferenz "Sicherheit im Netz" in Brüssel, 2005

2. www.isinet.com

3. Münker, Stefan; Roesler, Alexander, Praxis Internet, Kulturtechniken der vernetzten Welt, Suhrkamp, 2002

4. Brockhaus 1995

5. Thomas Hettche in der FAZ vom 23.12.2003

6. "Open Access meint, dass Literatur kostenfrei und öffentlich im Internet zugänglich sein sollte, ohne finanzielle, technische oder gesetzliche Barrieren. In allen Fragen des Copyright sollte die einzige Einschränkung darin bestehen, den Autoren das Recht zu sichern, dass ihre Arbeit angemessen anerkannt und zitiert wird."

7. http://www.soros.org/openaccess/g/index.shtml, http://www.soros.org/openaccess/g/read.shtml

8. "Wir beabsichtigen, unsere Forscher und Stipendiaten dazu anzuhalten, ihre Arbeiten nach dem "Prinzip des offenen Zugangs" zu veröffentlichen." (http://www.mpg.de/pdf/openaccess/BerlinDeclaration_dt.pdf)

9. Garvy, William D.: Communication: The Essence of Science, facilitating information exchange among librarians, scientists, engineers and students. Pergamon Press: Oxford N.Y., 1979, S. 1/2

10. Vgl. Harnad, Stevan: Dual open-access strategy. http://www.zbmed.de/summit/PPharnad.pdf

11. Donald W. King, University of Pittsburgh School of Information Sciences, USA, Who is Going to Pay for Open Access Publishing?, Cologne summit on open access publishing 2004; http://www.zbmed.de/summit/PPking.pdf

12. J.C.R.Licklider: Libraries of the future. Cambridge, MA 1965

13. Jorge Luis Borghes: "Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt."

14. Ball, R.: Die Zukunft der Spezialbibliotheken oder die Spezialbibliothek der Zukunft. In: BuB : Forum für Bibliothek und Information, 54 (2002), 10/11, 633-639

15. Norbert Bolz: "Der Mensch ist zum Flaschenhals der Informationswelt geworden - er hemmt die hemmungslose Verbreitung von Daten und ist gleichzeitig - ausgestattet mit der Kraft des Vergessens - die letzte Instanz einer organisierten Ignoranz zur Filterung der Datenflut."

16. "...prices in all fields are seen to have increased since 1970 at a rate significantly greater than inflation." (Mellon Report on University Libraries & Scholarly Communication. ARL 1992)

"Periodicals are the primary cause of the rapid rise in the cost of library services in the academic and industrial sectors over the last 10-15 years." (Gomersall, British Library, in Serials, 1991)

Butler 1999